Die immense kulturelle und sprachliche Vielfalt lateinamerikanischer Länder ist noch weit davon entfernt, mithilfe genetischer Untersuchungen vollständig dokumentiert zu sein. Durch die drei ökogeographischen Großräume – Anden, Amazonien und Pazifikküste – und als Heimat früher, hoch entwickelter Kulturen, spielt insbesondere das westliche Südamerika eine Schlüsselrolle in der Geschichte des Kontinents. Eine neue Studie, erschienen in der Zeitschrift für Molecular Biology and Evolution, unter der Leitung eines internationalen Teams aus Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen des Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte und der Universität Zürich offenbart Verbindungen zwischen Sprechern derselben Sprache und dokumentiert die Spuren der Geschichte, Ökologie und kulturellen Vielfalt im Erbgut der Bevölkerungsgruppen.
Ein internationales Forschungsteam wirft mit einer Studie neues Licht auf die Bevölkerungsgeschichte Südamerikas. Die in der Fachzeitschrift Molecular Biology and Evolution veröffentlichte Studie, an der Expertinnen und Experten aus Genetik, Linguistik und Anthropologie aus Europa, den USA, Mexiko, Ecuador, Kolumbien und Peru beteiligt waren, entstand in enger Zusammenarbeit mit der örtlichen Bevölkerung. Die Ergebnisse bestätigten einerseits den bereits durch archäologische Funde belegten Einfluss großer, komplexer Kulturen, konnten aber auch bislang unbekannte Migrationen und Verbindungen über enorme Entfernungen hinweg enthüllen, darunter auch im archäologisch noch wenig erforschten Amazonien.
Die genetischen Untersuchungen waren dabei von fundamentaler Bedeutung, um die Bevölkerungsgeschichte des Kontinents zu verstehen. Durch den Abgleich von genetischen Befunden mit archäologischen Zeugnissen und paläoklimatischer Daten, gelang es dem Forschungsteam Zeitpunkt und Ausmaß der Migrationsbewegungen präzise zu datieren. Auch mögliche Migrationsrouten entlang des Kontinents und die daraus folgenden Bildungen von Bevölkerungsstrukturen konnten so bestimmt werden. Dennoch ist das Bild zwangsläufig noch lückenhaft, da es an repräsentativen Erhebungen aus den verschiedenen Regionen des Kontinents mangelt. Eine sich wiederholende Vereinfachung resultiert aus dem Unterschied zwischen Anden, Heimat von hoch entwickelten und vernetzten Kulturen, wie Wari, Tiahuanaco und Inca, und Amazonien, dessen Bevölkerung vermutlich in kleinen, isolierten Gruppen lebte. Die Pazifikküste hingegen, Mittelpunkt der frühsten Migrationsrouten und Schauplatz anderer großer Kulturen (beispielsweise Moche-Kultur und Chimú-Kultur) ist in diesem traditionellen Modell nicht adäquat vertreten.
"Wir wollten die Aufmerksamkeit auf die vielschichtigen Ereignisse während der vorkolonialen und posteuropäischen Zeit lenken. Dazu besuchten wir verschiedene Regionen Südamerikas und nahmen neue Proben von der ländlichen Bevölkerung. In unserer Analyse konzentrierten wir uns auf Anzeichen von gemeinsamer Abstammung und versuchten, Ausnahmen vom aktuellen Paradigma des Kontinents zu finden", erklärt Erstautorin Chiara Barbieri, Genetikerin am Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte in Jena, die derzeit an der Universität Zürich tätig ist.
"Auf kontinentaler Ebene ist eines der wichtigsten Ergebnisse das Vorhandensein einer ausgeprägten Abstammungskomponente, die in Populationen aus Ecuador und Kolumbien, nahe dem Osthang der Anden, sehr häufig vorkommt. Dieser bisweilen unentdeckte genetische Zusammenhang, könnte vor mehr als 4000 Jahren begonnen haben, sich von anderen Abstammungslinien zu trennen. Diese Erkenntnis hilft, die frühen Migrationen und Strukturen des Kontinents besser zu verstehen und lässt auch vermuten, dass die menschliche Vielfalt in Amazonien größer ist, als bisher vermutet", fügt Barbieri hinzu.
Auf lokaler Ebene ließen die hochauflösenden genetischen Daten, die für diese Studie erstellt wurden, feinabgestufte Fälle von genetischem Austausch erkennen, die mit dem Kontakt von Bevölkerungsgruppen korrespondierten. Diese Fälle verbinden Populationen, die hunderte Kilometer voneinander entfernt in unterschiedlichen ökogeographischen Regionen lebten. "Es wurden Verbindungen zwischen Sprechern von Quechua, einer weit verbreiteten Andensprache, durch die Anden und einen Teil Amazoniens gefunden. Auch einige Populationen aus Loreto und San Martín in Peru, beides sind Regionen in Amazonien, sind genetisch eng verwandt mit kolumbianischen Sprechern der Cocama-Sprache, einer amazonischen Sprache. Solche genetischen Gemeinsamkeiten deuten darauf hin, dass hier Sprachen durch die Migrationsbewegungen der Menschen, und nicht nur durch kulturelle Verbreitung, miteinander vermischt wurden", erklären die Koautoren der Studie, José Sandoval und Ricardo Fujita von der Universität San Martín de Porres in Lima, Peru.
Letztlich zeigen die genetischen Analysen die demographischen Spuren einer großen Population, welche mit denen alter, komplexer Kulturen aus den Anden und der Nordküste Perus in Verbindung stehen. Anzeichen solcher größerer Bevölkerungsgruppen konnten auch in einigen Populationen Amazoniens gefunden werden, was auf die Möglichkeit von vielschichtigen Interaktionen in dieser Region hindeutet. Archäologische Ausgrabungen sind hier jedoch selten, so dass die Wahrscheinlichkeit gering ist, relevante archäologische Funde zu finden. Lars Fehren-Schmitz, Bioanthropologe der University of California, Santa Cruz, der an der Studie beteiligt war, kommt zum Schluss: "Insgesamt machen diese Ergebnisse die Vielfalt und Komplexität der Menschen aus Amazonien und ihre Interaktionen mit benachbarten Regionen der Anden deutlich. Das genetische Erbe der südamerikanischen Völker trägt noch immer die Spuren bedeutender Ereignisse vor der schriftlichen Dokumentierung aus der Kolonialzeit." (MPG)