Recht auf ein selbstbestimmtes Lebensende in Frankreich

Eine Gruppe von 31 in Frankreich lebenden Personen klagt vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR)

Eine Gruppe von 31 Personen reichte am 28. April 2023 beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) eine Reihe von Beschwerden gegen Frankreich ein. Dieses von DIGNITAS koordinierte, noch nie dagewesene Verfahren dient dazu, das Recht auf Wahlfreiheit über das eigene Lebensende durchzusetzen und den Weg zur Sterbehilfe (Assistierter Suizid und/oder direkte aktive Sterbehilfe) in Frankreich zu ebnen.

In Frankreich lebende Personen können derzeit nicht frei über ihr Lebensende bestimmen. Sie haben keinen Zugang zu einem sicheren Medikament zur Beendigung des eigenen Lebens, und sie können keine professionelle Hilfe beanspruchen, um sich dabei begleiten zu lassen. Der international tätige Schweizer Verein DIGNITAS – Menschenwürdig leben – Menschenwürdig sterben (kurz: DIGNITAS) ist der Ansicht, dass dadurch insbesondere das Recht jeder urteilsfähigen Person verletzt wird, über Art und Zeitpunkt des eigenen Lebensendes selbst zu bestimmen; ein Recht, das bereits 2011 vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) bestätigt wurde.

Eine Gruppe von 31 in Frankreich lebenden Personen, vertreten durch den beim französischen Staatsrat und Kassationshof (Conseil d’État und Cour de cassation) zugelassenen Rechtsanwalt Patrice Spinosi, reichte am 28. April 2023 beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) eine Reihe von Beschwerden gegen Frankreich ein. Dieses von DIGNITAS koordinierte, noch nie dagewesene Verfahren zielt darauf ab, die politische Blockade in Bezug auf das Recht auf Selbstbestimmung über das eigene Lebensende zu lösen und in Frankreich lebenden Personen Wahlfreiheit am Lebensende zu ermöglichen.

Rechtsanwalt Ludwig A. Minelli, Gründer und Generalsekretär von DIGNITAS, erklärt: "Die Wahlfreiheit am Lebensende ist eine grundlegende persönliche Freiheit und ein Menschenrecht. Trotz der bestehenden europäischen Rechtsprechung schützt die französische Politik weiterhin die Partikularinteressen paternalistisch-konservativer Parteien und Kreise und ignoriert den Willen einer überwältigenden Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger."

Rechtsanwalt Patrice Spinosi hält fest: "Die französische Justiz ist der grundlegenden Frage nach dem Recht auf ein würdevolles Lebensende leider ausgewichen, dies trotz der französischen Verfassung, der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR). Die obersten nationalen Gerichtshöfe anderer Länder in Europa sind auf diese Frage hingegen eingegangen und haben sie gar in positiver Weise beantwortet."

Mehrjähriges Verfahren

DIGNITAS reichte in den Jahren 2021 und 2022 zwei Beschwerden beim Conseil d’État ein, welche von mehreren Dutzenden in Frankreich ansässigen Privatpersonen, in der Mehrzahl DIGNITAS-Mitglieder, unterstützt wurden. In der ersten Beschwerde vom September 2021 ging es um die Rechtmäßigkeit des derzeitigen vollständigen Verbots des Medikaments Natrium-Pentobarbital in der Humanmedizin. Die zweite Beschwerde vom Juli 2022 betraf die Frage, ob es rechtlich zulässig ist, dass das derzeit in Frankreich geltende Gesetz, die sogenannte "Loi Claeys-Leonetti", assistierten Suizid und direkte aktive Sterbehilfe beiseitelässt.

Der Conseil d’État lehnte es in beiden Fällen ab, diese Fragen im Rahmen einer "question prioritaire de constitutionnalité (QPC)" an den Conseil constitutionnel (Verfassungsrat) weiterzuleiten, mit der Begründung, dass, ungeachtet der Ernsthaftigkeit dieser Fragestellungen, Mängel in der Gesetzgebung nicht angefochten werden könnten. Am 29. Dezember 2022 lehnte er schließlich
beide Beschwerden von DIGNITAS ab. Damit verpasste die französische Justiz die Gelegenheit, den Gesetzgeber aufzufordern, das Recht der Menschen in Frankreich zu gewährleisten, selbst über Art und Zeitpunkt des eigenen Lebensendes zu entscheiden und dabei Hilfe Dritter in Anspruch zu nehmen.

Doch nach den beiden innerfranzösischen Urteilen besteht nun die Möglich-
keit, den EGMR zur Entscheidung über die aufgeworfenen wichtigen Rechtsfragen anzurufen. Die "Convention citoyenne sur la fin de vie" (Bürgerkonvent, der sich von Dezember 2022 bis März 2023 mit Themen des Lebensendes befasste) hat in Frankreich zwar zu einer breiten öffentlichen und medialen Debatte über die Legalisierung des assistierten Suizids und/oder der direkten aktiven Sterbehilfe eröffnet. Doch allen Debatten und Versprechungen zum Trotz: Wann ein Gesetzesentwurf vorliegen könnte, ob dieser die Wahlfreiheit über das eigene Lebensende tatsächlich gewährleistet und ob er eine Mehrheit im Parlament finden wird, ist alles andere als sicher.

Der EGMR muss sich nun zu den Beschwerden äußern und könnte in den nächsten Monaten den französischen Staat zu einer Stellungnahme auffordern.

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