Der international tätige Schweizer Verein DIGNITAS – Menschenwürdig leben – Menschenwürdig sterben hält das in Frankreich geltende Verschreibungsverbot des Medikaments Natrium-Pentobarbital zur selbstbestimmten Lebensbeendigung für verfassungswidrig. Er beantragt beim Conseil d’État (Staatsrat) die Aufhebung dieses Verbots, damit in Frankreich lebende Personen künftig das Recht auf ein selbstbestimmtes Lebensende in ihrem eigenen Land in Anspruch nehmen können. DIGNITAS wird in diesem Rechtsverfahren durch den renommierten französischen Anwalt Patrice Spinosi vertreten.
Der Verein DIGNITAS – Menschenwürdig leben – Menschenwürdig sterben (kurz: DIGNITAS), vertreten durch den Rechtsanwalt Patrice Spinosi, Avocat au Conseil d'État et à la Cour de cassation (beim Staatsrat und beim Kassationshof zugelassener Rechtsanwalt), hat am 22. September eine Beschwerde beim Conseil d'État eingereicht. DIGNITAS möchte mit diesem Rechtsverfahren die verfahrene politische Lage bezüglich der Sterbehilfe deblockieren und die Wahlfreiheit über das eigene Lebensende auch in Frankreich ermöglichen. Dabei stützt sich der Verein auf die französische Verfassung, auf die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) und weiterer Gerichte sowie die positiven Erfahrungen der Schweiz aus 35 Jahren Wahlfreiheit und professioneller Begleitung für ein selbstbestimmtes Lebensende.
Gleichzeitig mit der Beschwerde wurde dem Conseil d'État eine sogenannte "QPC" (question prioritaire de constitutionnalité; Antrag auf verfassungsrechtliche Überprüfung einer gesetzlichen Bestimmung) gestellt. Der Conseil d'État soll die QPC dem Conseil constitutionnel (Verfassungsrat) zur Überprüfung überweisen oder allenfalls auch selbst prüfen, ob das Fehlen einer Ausnahme zugunsten einer sicheren und selbstbestimmten Beendigung des eigenen Lebens im geltenden Verschreibungsverbot von Natrium-Pentobarbital verfassungskonform ist.
Rechtsanwalt Patrice Spinosi sagt: "Das heutige Verbot beschneidet insbesondere das bereits 2011 vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte bestätigte Recht jeder urteilsfähigen Person, Art und Zeitpunkt des eigenen Lebensendes selbst zu bestimmen.1 Dieses Recht ergibt sich auch zwangsläufig aus der französischen Verfassung und muss in Frankreich vollumfänglich respektiert werden."
Natrium-Pentobarbital gilt als das zuverlässigste und sicherste Mittel zur Beendigung des eigenen Lebens. In der Schweiz wird es bereits seit vielen Jahren bei Freitodbegleitungen eingesetzt.
Unzureichende und menschenrechtswidrige Rechtslage
Rechtsanwalt Ludwig A. Minelli, Gründer und Generalsekretär von DIGNITAS, ergänzt: "Die Wahlfreiheit bezüglich des eigenen Lebensendes ist eine grundlegende Freiheit und ein Menschenrecht. Trotz der bestehenden europäischen Rechtsprechung schützt die französische Politik weiterhin die Partikularinteressen von Parteien und paternalistisch-konservativer Kreise und ignoriert den Willen einer überwältigenden Mehrheit der französischen Bürgerinnen und Bürger."2
Die heutige französische Gesetzgebung zum Lebensende, die sogenannte "Loi Claeys-Léonetti", ist unzureichend. Hilfe beim Sterben ist nur in Form von palliativer Sedierung bei Personen erlaubt, die unmittelbar am Lebensende stehen. Damit sind nach wie vor zahlreiche schwer leidende Personen vom Recht ausgeschlossen, zu einem selbstbestimmten Zeitpunkt ihr Leben auf legale und sichere Weise in Frankreich zu beenden, wenn sie dies wünschen. Aufgrund der Rechtslage sehen sie sich oft gezwungen, entweder den oft beschwerlichen Weg zu einer Freitodbegleitung in der Schweiz zu gehen, sich auf illegalem Weg ein Sterbemittel zu beschaffen oder einen Suizidversuch mit riskanten Methoden und Mitteln zu unternehmen; die Mehrzahl solcher Suizidversuche scheitert, mit gravierenden Folgen für die Betroffenen selbst, ihre Angehörigen und Drittpersonen.
Das ist diskriminierend, inhuman und verstößt gegen das verfassungsrechtliche Prinzip "Liberté, Égalité, Fraternité" (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit) sowie gegen die Menschenrechte.
Mehrmonatiges Verfahren mit möglichem Weiterzug nach Straßburg
Der Beschwerde vorangegangen war eine sogenannte "demande d'abrogation" (Aufhebungsantrag) beim Premierminister und beim Gesundheitsministerium. In dieser wurde geltend gemacht, dass es gegen die Verfassung verstößt, wenn, so wie dies heute der Fall ist, das Medikament Natrium-Pentobarbital auf der Liste der für eine Verschreibung unzugänglichen Betäubungsmittel geführt wird, ohne dass für die Verwendung zur eigenen Lebensbeendigung eine Ausnahme gemacht wird.
Nachdem die vom Gesetz vorgesehene zweimonatige Frist für die Beantwortung ohne Reaktion von Seiten des Ministeriums verstrichen war, wurde der Weg frei für die Beschwerde. Der Conseil d'État hat jetzt drei Monate Zeit für die Prüfung der QPC, die DIGNITAS zur Unterstützung der Beschwerde eingereicht hat. Es ist auch möglich, dass der Conseil d'État entscheidet, diese dem Conseil constitutionnel zu unterbreiten. Dieser hat ebenfalls drei Monate Zeit, um darüber zu entscheiden.
Sollte die Beschwerde nicht das gewünschte Ergebnis bringen, wird DIGNITAS das Anliegen dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg vorlegen.
1EGMR-Entscheid vom 20.1.2011 in der Sache Haas gegen die Schweiz http://hudoc.echr.coe.int/eng?i=001-102940; http://hudoc.echr.coe.int/eng?i=001-102939: "Im Lichte dieser Rechtsprechung hält der Gerichtshof dafür, dass das Recht eines Individuums, zu entscheiden, auf welche Weise und in welchem Zeitpunkt sein Leben enden soll, sofern es in der Lage ist, seine diesbezügliche Meinung frei zu bilden und dem entsprechend zu handeln, einen der Aspekte des Rechts auf Achtung des Privatlebens im Sinne von Artikel 8 der Konvention darstellt." ↩︎
2http://www.dignitas.ch/index.php?option=comcontent&view=article&id=70&Itemid=138&lang=fr (in französischer Sprache) ↩︎