Kommentar

Keine Zeit für einen vorgezogenen Freedom Day

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Auch mit Maske ist man frei.

Die Rufe nach einer Aufhebung der coronabedingten Einschränkungen werden immer lauter. Egal ob aus Unwissen, Unbedarftheit, unbedingtem Freiheitsdrang oder böser Absicht heraus formuliert: Stand heute sind diese Forderungen vor allem wissenschaftsfeindlich und asozial. Ein Kommentar von Constantin Huber.

Lange gab es überhaupt keinen Impfstoff gegen Covid-19 und anschließend eine ganze Zeit lang nicht genug davon. Mittlerweile besitzen wir in Deutschland so viele Dosen, dass wir sogar regelmäßig welche wegwerfen müssen. Und das, obwohl noch nicht ausreichend viele Menschen geimpft wurden, um eine Herdenimmunität herzustellen. Da das Medikament zur Prävention dafür allerdings in ausreichender Zahl vorhanden ist, kann folgerichtig von einer "Pandemie der Ungeimpften" gesprochen werden. Tatsächlich sind alle aktuellen Einschränkungen nur deshalb noch in Kraft, weil sich zu viele Menschen dazu entscheiden, sich nicht zu immunisieren. Mehr als 9 von 10 Patient:innen auf den Intensivstation sind mittlerweile Personen, die sich der Impfung verweigern.

Trotzdem gibt es nun immer mehr Menschen, die ein Ende der Corona-Beschränkungen fordern. Doch diese verkennen gleich mehrere Faktoren. Das Hauptproblem ist, dass wir noch keine 85 Prozent Durchimpfungsrate erreicht haben. Daran ändert auch nichts, dass das Robert-Koch-Institut kürzlich auf Basis einer Telefonumfrage die Zahl der angenommenen tatsächlichen Impfungen minimal korrigiert hat. Denn selbst mit dieser Irrtumswahrscheinlichkeit von fünf Prozent, die den Expert:innen zufolge nach oben hin ausschlägt, ist der notwendige Herdenschutz noch nicht erreicht. Das hat zur Folge, dass beim Einstellen sämtlicher Schutzmaßnahmen die Inzidenzzahlen rapide nach oben gingen – Stichwort: exponentielles Wachstum.

Zwar ist es korrekt, dass Geimpfte in aller Regel im Falle einer Infektion einen milderen Verlauf haben und das Virus auch seltener übertragen. Aber ein Risiko bleibt sowohl für das Individuum als auch für die Allgemeinheit bestehen. Letzteres ist insbesondere deshalb fatal, weil viele Corona-Infektionen auf einen Schlag die Kapazitäten der Krankenhäuser ausschöpfen würden. Das wiederum hätte vor allem zwei fatale Konsequenzen: Zum einen gäbe es dann wieder Triage-Situationen, bei denen das medizinische Personal entscheiden muss, wer behandelt wird und wer nicht. Die Frage, wie hier ethisch korrekt abgewogen werden soll, ist nur sehr schwer zu beantworten und solche Situationen gehen immer mit Leid einher, das allein auf ausgeschöpfte Ressourcen zurückzuführen ist. Zum anderen arbeitet das medizinische Personal aktuell bereits unter üblen Umständen. Warum diese gezielt noch verschlimmern?

Hinzu kommt der Aspekt, dass Menschen, die sich aufgrund einer Kontraindikation nicht impfen lassen können, einer unnötig hohen Gefahr ausgesetzt werden. Auf deren Recht auf körperliche Unversehrtheit einfach zu pfeifen, ist weder sozial noch sonderlich freiheitlich. Wer eines vermeidbaren Todes stirbt, ist nämlich nicht unbedingt frei. Dasselbe gilt für jeden unnötig an Long Covid Erkrankten. Wer andere Menschen ohne triftigen Grund der realen und hohen Gefahr eines Todes aussetzt, kann sich auch gleich als Kettenraucher:in in einem Kindergarten eine Kippe nach der anderen anstecken. Gesellschaftlich sind diese beiden Verhaltensweisen nicht akzeptierte Randerscheinungen, die zu Recht in Verruf stehen. Das trifft die Definition von "asozial" ziemlich exakt.

Zumal der Einwand, wonach die Impfstoffe noch nicht genug erprobt und untersucht seien, nicht geltend gemacht werden kann. Mehr als die halbe Welt wurde mittlerweile geimpft. Und es finden sich Tausende Studien auf PubMed zur Impfung gegen das Coronavirus. Langzeitnebenwirkungen, die erst nach Jahren auftreten, gibt es bei Impfungen außerdem generell nicht, da ihre Bestandteile sehr schnell abgebaut werden.

Daher muss ganz grundsätzlich gefragt werden: warum die benannten Risiken eingehen und Konsequenzen forcieren, wenn der "Freedom Day" doch bereits determiniert ist? Für uns ist dieser Termin: sobald 85 Prozent (bzw. in der älteren Kohorte 90 Prozent) immunisiert sind.

Warum nicht einfach auf den Konsens unter den Virolog:innen hören, statt auf Menschen, die das mit der Freiheit und ihren nur vermeintlich unnötigen Einschränkungen selbst nach bald zwei Jahren Pandemie noch immer nicht verstanden haben?

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