Replik

Nicht die Drogenfreigabe ist humanistisch – aber die Freiheit des Individuums ist es

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Hanfparade 2014 Berlin
Hanfparade 2014 Berlin

BERN. (hpd) Im scheinbar ergebnisoffen mit "Wäre eine Drogenfreigabe wirklich humanistisch?" betitelten Artikel erläutert der Autor Dennis Riehle, warum er gegen jegliche Liberalisierung von Drogen ist. Dagegen ist erstmal nichts einzuwenden; es ist sein gutes Recht, seine Meinung zu vertreten. Unsäglich ist hingegen seine Vereinnahme des Begriffs "Humanismus" und die Verquickung desselben mit seiner persönlichen Meinung. Ausserdem strotzt der Text vor Fehlern, Missverständnissen und offensichtlicher Unkenntnis der Faktenlage.

Riehle geht von einem fundamentalen Denkfehler aus, wenn er einerseits sämtliche substanzbasierten Drogen wie Zigaretten, Alkohol, Cannabis, Heroin und Crystal Meth über einen Kamm schert, andererseits aber alle anderen Süchte, die in unserer Gesellschaft ganz real und teils mit verheerenden Folgen für Betroffene und Umfeld existieren, unter den Teppich kehrt. Riehles "Humanismus des gegenseitigen Bewahrens" ignoriert, dass Familien auch durch übersteigerte Arbeitswut zerstört werden und dass Menschen auch an den Folgen übermässig betriebenen Sports krank werden und daran sogar sterben können. Er ignoriert, dass es in einer offenen Gesellschaft unzählige Möglichkeiten gibt, sich zu berauschen, abzustürzen und sich und seiner Umgebung Schaden zuzufügen. Er unterschlägt weiter, dass ein Grossteil der substanzabhängigen Menschen ihre Sucht dem Hausarzt verdankt – Massen von älteren Menschen werden teils seit Jahrzehnten von ihrem Arzt mit Psychopharmaka vollgepumpt und in der Folge als "dement" abgeschrieben, wo sie doch in Tat und Wahrheit "nur" Tablettenabhängige sind.

Kann sein, dass Herr Riehle Angst vor Drogen hat. Dass er schlechte Erfahrungen damit gemacht hat, dass er im eigenen Umfeld erlebt hat, wohin eine Drogenkarriere führen kann – geschenkt, ich werde ihm diese Angst nicht nehmen können. Aber aus einer Position der eigenen Angst heraus eine allgemein gültige Aussage formulieren zu wollen, aus einem Misstrauen gegenüber der eigenen Disziplin heraus anderen Menschen Vorschriften machen zu wollen – das kann nur schief gehen. Riehle erinnert mich hier an Gottgläubige, die Angst haben vor einem Leben, in dem sie sich selbst gegenüber Verantwortung übernehmen müssen und wo nicht eine höhere Macht sitzt, die ihnen ultimativ vorschreibt, was richtig und was falsch ist. Aus dieser Angst heraus und mit dem Unvermögen, sich vorstellen zu können, dass andere Menschen nicht von dieser Angst bestimmt werden, aus dieser Angst heraus wurden in der Vergangenheit regelmässig die Freiheitsrechte anderer beschnitten – Stichworte Frauenrechte, Homo-Ehe, Schwangerschaftsabbruch, Stammzellenforschung. Riehle ersetzt mit dem von ihm postulierten "fürsorglichen Humanismus" schlicht einen allmächtigen, allwissenden, allgütigen Gott durch einen Staat mit denselben Attributen.

Es spricht nicht für Riehles Auslegung von Humanismus, wenn er dessen zentralem Subjekt, dem Menschen, nicht zutraut, grundsätzlich selbst entscheiden zu können, was gut für ihn ist und was nicht. Zweifellos wissen nicht alle Menschen zu jeder Zeit und bezüglich jeglichem Thema, wo ihre Grenzen liegen. Zweifellos werden diese Grenzen überschritten, täglich, stündlich, überall auf dieser Welt. Und zweifellos müssen Regeln gelten, an die sich das Individuum hält und die vom Staat durchgesetzt werden, damit diese Grenzüberschreitungen nicht zum Normalzustand werden. Die allermeisten Menschen allerdings – anständige Lebensumstände vorausgesetzt – verhalten sich weitgehend vernünftig und sozial. Das würde auch bei einer Dekriminalisierung von Drogen nicht anders aussehen; Riehles Vision einer anarchistischen (er meint hier wohl eher "anomistisch"), rücksichtslosen und narzisstischen Gesellschaft infolge Lockerung der Drogengesetze ist deshalb als reine Polemik zu verstehen.

Aktuelle Zahlen aus den USA belegen, dass mit der Dekriminalisierung von Cannabis das Alter der Erstkonsumenten nicht sinkt, sondern steigt. Und dass generell die Anzahl jugendlicher Konsumenten zurückgeht, wenn Cannabis dekriminalisiert wird. Es bringt halt nichts, mit einer Droge zu rebellieren, die sich auch Mutti und Vati nach Feierabend reinpfeifen. Und wenn wir schon in den USA sind: Was Prohibition, der "Krieg gegen Drogen" und der von Riehle hochgelobte "Dreiklang" aus Aufklärung, Kontrolle und Repression bringt, wissen wir nicht zuletzt ebenfalls aus diesem Land, wo der konsequent angewandte "Dreiklang" in erster Linie der Gefängnisindustrie nutzt, dem Rest der Gesellschaft aber irreparable Schäden zufügt.

Apropos Schädigung der Gesellschaft: Ich wage zu behaupten, dass hunderttausend AfD-Wähler einer solidarischen Gesellschaft mehr Schaden zufügen, als es hunderttausend Kiffer je tun könnten. Ein Vergleichsbesuch bei einer AfD-Parteiversammlung einerseits und einer Veranstaltung wie der CannaTrade andererseits müsste dem Autor diesbezüglich die Augen öffnen. Was wäre also die Konsequenz, die aus seinem "fürsorglichen Humanismus" folgen müsste? Müsste man die AfD verbieten? Oder die Verbreitung ihres Gedankengutes? Sollte man den Besitz, die Inverkehrbringung und das Lesen von AfD-Flugblättern "konsequent ahnden"? Sollte man AfD-Sympathisanten mit "begleitenden Massnahmen und Unterstützung zur Wiedereingliederung" zurück in Riehles schöne neue Welt der Fürsorglichkeit führen?

Der Konsum von Drogen ist Teil des Menschseins, ob man das jetzt gut findet oder nicht. Unsere Gehirne reagieren auf zig Substanzen und Reize höchst empfänglich und es kann deshalb nicht verwundern, dass Drogen in jeder Gesellschaft, zu jeder Zeit und an jedem Ort dieser Welt eine wichtige Rolle gespielt haben und immer spielen werden. Unsere Gehirne sind auf externe Stimulanzien programmiert, und wenn wir diese Stimulanz nicht in Form von Substanzen zufügen, suchen wir eben andere Reize wie Sport, Arbeit, Games, Facebook oder Sex. Kann man es generell übertreiben mit diesen Stimulationen? Ja, man kann. Kann man mit diesen Stimulationen sich selbst und seiner Umgebung Schaden zufügen? Ja, man kann. Sollte man deshalb Sex oder den Konsum von Facebook staatlich einschränken, verbieten gar?

Dennis Riehle träumt von einer Menschheit, die durch Erziehung des Einzelnen einen idealen Zustand erreicht, in dem alle nur noch vernünftig, solidarisch und verantwortungsvoll denken und handeln. Er möchte das Dunkle im Menschen ausmerzen, das Böse aus der Welt entfernen und als alter Trekkie muss ich zugeben, dass diese Utopie oft auch die meine ist. Nur: Mir ist klar, dass dies wirklich nur eine reine Utopie im Sinne eines "Nicht-Ortes" ist. Im Star Trek-Universum mag es funktionieren, dass wir Menschen den Affen in uns überwunden haben, dass wir nur noch leben, um uns weiterzuentwickeln und anderen auf ihrem Entwicklungsweg zu helfen; dass wir Drogen ablehnen, weil sie uns und anderen theoretisch schaden könnten. Aber, ganz ehrlich gesagt: Ich glaube nicht daran, dass man Menschen durch Verbote nachhaltig erziehen kann. Höchstens durch Einsicht – und hier schimmert auch durch, dass eine Sternenflotten-Uniform in meinem Schrank hängt.

Riehle meint, dass Sehnsüchte wegtherapiert werden könnten, dass der an sich irrationale Mensch dadurch zu einem rationalen Wesen gemacht werden kann, indem man ihn in seinen Freiheiten beschneidet. Aber wenn man im letzten Halbsatz "irrational" durch "sündig", "rational" durch "göttlich" ersetzt, wird klar, dass Riehle bezüglich der Drogenfreigabe ins selbe Horn stösst wie die Religionen, die seit Urzeiten durch Ge- und Verbote erfolglos versucht haben, das menschliche Biest zu zähmen. Klerikaler Sex wurde durch Verbote niemals verhindert, profaner Geschlechtsverkehr schon gar nicht. Warum sollte dies ausgerechnet bei Drogen klappen?

Die Vision einer abstinenten Gesellschaft darf als gescheitert angesehen werden. Wir wissen heute, dass Repression den harten Drogenkonsum eher fördert als eindämmt. Nirgends gibt es so viele Heroinabhängige wie in den Ländern, in denen knallharte Strafen für Drogenkonsum verhängt werden. Der Dealer verdient an Heroin eine weit bessere Marge als bei Cannabis, denn Heroin ist einfacher zu verpacken, einfacher zu schmuggeln, einfacher zu transportieren, einfacher zu lagern und einfacher zu verkaufen als stark riechende Hanfprodukte. Der Markt spielt auch hier, ob das einem nun passt oder nicht. Auf der Strasse kriegt man heute Heroin in hohem Reinheitsgrad zu einem gleichen bis sogar leicht tieferen Preis als eine adäquate Portion Gras, dabei wären Cannabis-Produkte im Gegensatz zu Opiaten durchaus auch in Ländern wie der Schweiz oder Deutschland produzierbar. Wer sich vehement dagegen wehrt, verhältnismässig gut kontrollierbare Drogen wie Cannabis zu dekriminalisieren, der macht sich dadurch ungewollt zum Fürsprecher der Heroin-Mafia. Riehle bekämpft ein kleines Übel mit Verve, toleriert und fördert dadurch aber ein noch viel grösseres. Wo ist da die Fürsorglichkeit in seinem Humanismus?

Bei der Dekriminalisierung von Drogen geht es in erster Linie darum, den Schwarzmarkt auszutrocknen, eine gewisse Qualität zu garantieren und die Drogenkonsumenten aus der Beschaffungskriminalität herauszuholen. Mittlerweile kann man da auch auf etwas Erfahrung zurückblicken: Seit Jahren kann man sich in der Schweiz als diagnostizierter, langjähriger Heroinabhängiger seinen Stoff verschreiben lassen; der Staat ist bei uns so gesehen schon seit längerem ein veritabler Drogendealer. Was anfangs von Abstinenzpropheten als Ende der westlichen Zivilisation verschrien wurde – unter anderem auch mit dem Argument, es sei verantwortungslos, wenn der Staat Drogen durch eine kontrollierte Abgabe "verharmlose" – ist heute im öffentlichen Diskurs schlicht kein Thema mehr, denn die Erfolge sprechen für sich. Die Heroinabhängigen sind von der Strasse weggeholt worden, müssen keine Delikte mehr begehen, um an ihren Stoff zu kommen, wohnen meist in stabilen Verhältnissen und können sogar nach einiger Zeit wieder arbeiten gehen – trotz täglichem Heroin-Konsum. Dass so auch die psychische Verfassung der Betroffenen an Stabilität gewinnt, dass sie sich wieder zutrauen, aktiv an der Gesellschaft teilzunehmen, dass sie auf einmal Freunde ausserhalb des Drogensumpfes finden – dies sind ebenfalls Effekte, die sich aus der kontrollierten Heroinabgabe entwickelt haben. Ich habe noch die Zeiten erlebt, als Abhängige unter absolut unwürdigsten, elendsten Zuständen in der offenen Drogenszene am Letten (Zürich) und im Kocherpark (Bern) verkehrt haben, und ich will solche Bilder nie, nie mehr sehen – und habe sie, unter anderem seit Einführung der staatlichen Heroinabgabe, auch nie mehr gesehen.

Aber auch bei weichen Drogen sind die Effekte, die sich aus einer Dekriminalisierung ergeben, verblüffend: Wir haben positive Beispiele aus den Niederlanden (wo übrigens die Touristen aus restriktiven Staaten das Problem sind, nicht die Einheimischen), aus Spanien, aus Portugal, aus den USA – die Liste liesse sich weiter fortführen. Auf einmal muss die Polizei nicht mehr Joints nachrennen, sondern kann sich auf echte Probleme konzentrieren. Auf einmal ist der Stress beim Konsumenten weg, auf einmal kann sich ein echter Markt entwickeln, in dem die Nachfrage nicht nur den Preis, sondern auch die Qualität regelt. Und plötzlich ist eben auch ein echter Jugendschutz möglich, weil der Mann, der Gras verkauft, nicht auch in der anderen Hosentasche noch Heroin mit dabei hat.

Nein, ich möchte auch nicht, dass künftig jedermann Crystal Meth beim Bäcker kaufen kann (warum eigentlich ausgerechnet bei diesem?). Aber bleiben wir doch einmal kurz bei der Realität: Momentan diskutieren die politischen Gremien unserer Länder darüber, ob und allenfalls unter welchen Bedingungen man weiche Drogen wie Cannabis dekriminalisieren könnte – könnte, Konjunktiv! Noch sind wir meilenweit weg von einer entsprechenden Gesetzgebung, noch sind solche Pilotprojekte erst in der Konzeptphase. Riehles Dystopie einer vollständig verdrogten Gesellschaft kann deshalb nur als ein argumentativ und intellektuell höchst unredliches Konstrukt verstanden werden, bei dem nicht nachvollziehbar ist, wie und warum sich der Ist-Zustand ("unsere Politiker diskutieren darüber, Cannabis zu dekriminalisieren") jemals in einen postulierten Soll-Zustand ("beim Bäcker gibts Crystal Meth für alle") transformieren sollte.

Ausserdem: Dass es zwischen Cannabis und Crystal Meth einige Unterschiede gibt, sowohl was die Herstellung, wie auch die Wirkung, wie auch die Langzeitfolgen angeht, das sollte eigentlich auch Dennis Riehle bekannt sein. Dasselbe gilt für die hunderten anderen bekannten psychoaktiven Substanzen. Wenn Riehle in seinem Essay ein Glas Bier faktisch auf dieselbe Stufe stellt wie eine Heroinspritze, leidet die Glaubwürdigkeit seiner im Kern genommen löblichen Absichten. Seinem mir vom Begriff her eigentlich sympathischen (ich bin eben nicht nur ein alter Trekkie, sondern auch ein oller Sozi) "fürsorglichen Humanismus" tut er damit einen Bärendienst.

Selbstredend bin ich mit dem Autor einverstanden, wenn er Aufklärung und Sensibilisierung als wichtige Pfeiler in der Drogenprävention ansieht. Auch in einer Gesellschaft, die Drogen als Teil der Lebenswirklichkeit ansieht, hätten diese Pfeiler ihren Platz, wären sogar wichtiger denn je. Warum aber der Konsument bestraft werden sollte, warum Riehle lieber dem Dealer als dem Staat die Kontrolle über Qualität und Art der verkauften Ware anvertraut, diese Begründungen bleibt er uns Leserinnen und Lesern schuldig. Vielleicht kann er mir ja irgendwann einmal auch erklären, wie er auf den Schluss kommt, dass Menschen "evolutionsbedingt" gruppenorientierte Wesen sind, "um gegenseitig aufeinander zu achten". Denn so schön sich der Satz liest, er erschliesst sich mir weder logisch noch in Hinblick darauf, wie Evolution tatsächlich funktioniert.

Riehles Darstellung eines "fürsorglichen Humanismus" führt geradewegs in eine humanistische Diktatur, in der wenige darüber bestimmen, was sinnvoll und sinnstiftend ist. Aber Humanismus betrifft nicht nur die Menschen, sondern explizit auch den Menschen. Schon öfter wurde der Ansatz verfolgt, von oben herab über die Sinnhaftigkeit individueller Lebensentwürfe zu bestimmen, leider auch ein paar Mal unter dem Label "Humanismus". Und jedes Mal, das kann man mit Sicherheit sagen, jedes Mal ist dieser Ansatz vollständig in die Hosen gegangen. Es geht im Humanismus eben nicht nur um eine homogene Masse, sondern besonders auch um das Individuum als eigentliche Basis und Keimzelle einer übergeordneten Gesellschaft. Ein rein kollektiv gedachter Humanismus führt, wie jede nur kollektiv interpretierte Philosophie, direkt in eine Gesinnungsdiktatur.

Um zum Titel des Essays zurückzukommen: Nein, Drogenfreigabe an sich ist nicht zwingend humanistisch. Es wäre aber in höchstem Masse humanistisch, im Zweifelsfall den mündigen Menschen (und eben nicht die Menschen!) darüber entscheiden zu lassen, wie er sein Leben gestaltet. Ganz egal, ob es dabei um seine Freunde, seinen Beruf, seine politischen Ansichten, seine Hobbys, seine Familienplanung, seine sexuelle Ausrichtung geht – oder eben auch um die Substanzen, die er konsumieren will.

Überlassen wir die Fürsorglichkeit also doch lieber den Individuen, denn überfürsorgliche Staaten, die anstelle der mündigen Bürger über Sinn und Unsinn entscheiden, braucht nun wirklich niemand mehr. Auch dann nicht, wenn diese Luftblasenfolien-Fürsorglichkeit unter einer humanistischen Flagge segelt.