Replik

Nicht die Drogenfreigabe ist humanistisch – aber die Freiheit des Individuums ist es

BERN. (hpd) Im scheinbar ergebnisoffen mit "Wäre eine Drogenfreigabe wirklich humanistisch?" betitelten Artikel erläutert der Autor Dennis Riehle, warum er gegen jegliche Liberalisierung von Drogen ist. Dagegen ist erstmal nichts einzuwenden; es ist sein gutes Recht, seine Meinung zu vertreten. Unsäglich ist hingegen seine Vereinnahme des Begriffs "Humanismus" und die Verquickung desselben mit seiner persönlichen Meinung. Ausserdem strotzt der Text vor Fehlern, Missverständnissen und offensichtlicher Unkenntnis der Faktenlage.

Riehle geht von einem fundamentalen Denkfehler aus, wenn er einerseits sämtliche substanzbasierten Drogen wie Zigaretten, Alkohol, Cannabis, Heroin und Crystal Meth über einen Kamm schert, andererseits aber alle anderen Süchte, die in unserer Gesellschaft ganz real und teils mit verheerenden Folgen für Betroffene und Umfeld existieren, unter den Teppich kehrt. Riehles "Humanismus des gegenseitigen Bewahrens" ignoriert, dass Familien auch durch übersteigerte Arbeitswut zerstört werden und dass Menschen auch an den Folgen übermässig betriebenen Sports krank werden und daran sogar sterben können. Er ignoriert, dass es in einer offenen Gesellschaft unzählige Möglichkeiten gibt, sich zu berauschen, abzustürzen und sich und seiner Umgebung Schaden zuzufügen. Er unterschlägt weiter, dass ein Grossteil der substanzabhängigen Menschen ihre Sucht dem Hausarzt verdankt – Massen von älteren Menschen werden teils seit Jahrzehnten von ihrem Arzt mit Psychopharmaka vollgepumpt und in der Folge als "dement" abgeschrieben, wo sie doch in Tat und Wahrheit "nur" Tablettenabhängige sind.

Kann sein, dass Herr Riehle Angst vor Drogen hat. Dass er schlechte Erfahrungen damit gemacht hat, dass er im eigenen Umfeld erlebt hat, wohin eine Drogenkarriere führen kann – geschenkt, ich werde ihm diese Angst nicht nehmen können. Aber aus einer Position der eigenen Angst heraus eine allgemein gültige Aussage formulieren zu wollen, aus einem Misstrauen gegenüber der eigenen Disziplin heraus anderen Menschen Vorschriften machen zu wollen – das kann nur schief gehen. Riehle erinnert mich hier an Gottgläubige, die Angst haben vor einem Leben, in dem sie sich selbst gegenüber Verantwortung übernehmen müssen und wo nicht eine höhere Macht sitzt, die ihnen ultimativ vorschreibt, was richtig und was falsch ist. Aus dieser Angst heraus und mit dem Unvermögen, sich vorstellen zu können, dass andere Menschen nicht von dieser Angst bestimmt werden, aus dieser Angst heraus wurden in der Vergangenheit regelmässig die Freiheitsrechte anderer beschnitten – Stichworte Frauenrechte, Homo-Ehe, Schwangerschaftsabbruch, Stammzellenforschung. Riehle ersetzt mit dem von ihm postulierten "fürsorglichen Humanismus" schlicht einen allmächtigen, allwissenden, allgütigen Gott durch einen Staat mit denselben Attributen.

Es spricht nicht für Riehles Auslegung von Humanismus, wenn er dessen zentralem Subjekt, dem Menschen, nicht zutraut, grundsätzlich selbst entscheiden zu können, was gut für ihn ist und was nicht. Zweifellos wissen nicht alle Menschen zu jeder Zeit und bezüglich jeglichem Thema, wo ihre Grenzen liegen. Zweifellos werden diese Grenzen überschritten, täglich, stündlich, überall auf dieser Welt. Und zweifellos müssen Regeln gelten, an die sich das Individuum hält und die vom Staat durchgesetzt werden, damit diese Grenzüberschreitungen nicht zum Normalzustand werden. Die allermeisten Menschen allerdings – anständige Lebensumstände vorausgesetzt – verhalten sich weitgehend vernünftig und sozial. Das würde auch bei einer Dekriminalisierung von Drogen nicht anders aussehen; Riehles Vision einer anarchistischen (er meint hier wohl eher "anomistisch"), rücksichtslosen und narzisstischen Gesellschaft infolge Lockerung der Drogengesetze ist deshalb als reine Polemik zu verstehen.

Aktuelle Zahlen aus den USA belegen, dass mit der Dekriminalisierung von Cannabis das Alter der Erstkonsumenten nicht sinkt, sondern steigt. Und dass generell die Anzahl jugendlicher Konsumenten zurückgeht, wenn Cannabis dekriminalisiert wird. Es bringt halt nichts, mit einer Droge zu rebellieren, die sich auch Mutti und Vati nach Feierabend reinpfeifen. Und wenn wir schon in den USA sind: Was Prohibition, der "Krieg gegen Drogen" und der von Riehle hochgelobte "Dreiklang" aus Aufklärung, Kontrolle und Repression bringt, wissen wir nicht zuletzt ebenfalls aus diesem Land, wo der konsequent angewandte "Dreiklang" in erster Linie der Gefängnisindustrie nutzt, dem Rest der Gesellschaft aber irreparable Schäden zufügt.

Apropos Schädigung der Gesellschaft: Ich wage zu behaupten, dass hunderttausend AfD-Wähler einer solidarischen Gesellschaft mehr Schaden zufügen, als es hunderttausend Kiffer je tun könnten. Ein Vergleichsbesuch bei einer AfD-Parteiversammlung einerseits und einer Veranstaltung wie der CannaTrade andererseits müsste dem Autor diesbezüglich die Augen öffnen. Was wäre also die Konsequenz, die aus seinem "fürsorglichen Humanismus" folgen müsste? Müsste man die AfD verbieten? Oder die Verbreitung ihres Gedankengutes? Sollte man den Besitz, die Inverkehrbringung und das Lesen von AfD-Flugblättern "konsequent ahnden"? Sollte man AfD-Sympathisanten mit "begleitenden Massnahmen und Unterstützung zur Wiedereingliederung" zurück in Riehles schöne neue Welt der Fürsorglichkeit führen?

Der Konsum von Drogen ist Teil des Menschseins, ob man das jetzt gut findet oder nicht. Unsere Gehirne reagieren auf zig Substanzen und Reize höchst empfänglich und es kann deshalb nicht verwundern, dass Drogen in jeder Gesellschaft, zu jeder Zeit und an jedem Ort dieser Welt eine wichtige Rolle gespielt haben und immer spielen werden. Unsere Gehirne sind auf externe Stimulanzien programmiert, und wenn wir diese Stimulanz nicht in Form von Substanzen zufügen, suchen wir eben andere Reize wie Sport, Arbeit, Games, Facebook oder Sex. Kann man es generell übertreiben mit diesen Stimulationen? Ja, man kann. Kann man mit diesen Stimulationen sich selbst und seiner Umgebung Schaden zufügen? Ja, man kann. Sollte man deshalb Sex oder den Konsum von Facebook staatlich einschränken, verbieten gar?

Dennis Riehle träumt von einer Menschheit, die durch Erziehung des Einzelnen einen idealen Zustand erreicht, in dem alle nur noch vernünftig, solidarisch und verantwortungsvoll denken und handeln. Er möchte das Dunkle im Menschen ausmerzen, das Böse aus der Welt entfernen und als alter Trekkie muss ich zugeben, dass diese Utopie oft auch die meine ist. Nur: Mir ist klar, dass dies wirklich nur eine reine Utopie im Sinne eines "Nicht-Ortes" ist. Im Star Trek-Universum mag es funktionieren, dass wir Menschen den Affen in uns überwunden haben, dass wir nur noch leben, um uns weiterzuentwickeln und anderen auf ihrem Entwicklungsweg zu helfen; dass wir Drogen ablehnen, weil sie uns und anderen theoretisch schaden könnten. Aber, ganz ehrlich gesagt: Ich glaube nicht daran, dass man Menschen durch Verbote nachhaltig erziehen kann. Höchstens durch Einsicht – und hier schimmert auch durch, dass eine Sternenflotten-Uniform in meinem Schrank hängt.

Riehle meint, dass Sehnsüchte wegtherapiert werden könnten, dass der an sich irrationale Mensch dadurch zu einem rationalen Wesen gemacht werden kann, indem man ihn in seinen Freiheiten beschneidet. Aber wenn man im letzten Halbsatz "irrational" durch "sündig", "rational" durch "göttlich" ersetzt, wird klar, dass Riehle bezüglich der Drogenfreigabe ins selbe Horn stösst wie die Religionen, die seit Urzeiten durch Ge- und Verbote erfolglos versucht haben, das menschliche Biest zu zähmen. Klerikaler Sex wurde durch Verbote niemals verhindert, profaner Geschlechtsverkehr schon gar nicht. Warum sollte dies ausgerechnet bei Drogen klappen?

Die Vision einer abstinenten Gesellschaft darf als gescheitert angesehen werden. Wir wissen heute, dass Repression den harten Drogenkonsum eher fördert als eindämmt. Nirgends gibt es so viele Heroinabhängige wie in den Ländern, in denen knallharte Strafen für Drogenkonsum verhängt werden. Der Dealer verdient an Heroin eine weit bessere Marge als bei Cannabis, denn Heroin ist einfacher zu verpacken, einfacher zu schmuggeln, einfacher zu transportieren, einfacher zu lagern und einfacher zu verkaufen als stark riechende Hanfprodukte. Der Markt spielt auch hier, ob das einem nun passt oder nicht. Auf der Strasse kriegt man heute Heroin in hohem Reinheitsgrad zu einem gleichen bis sogar leicht tieferen Preis als eine adäquate Portion Gras, dabei wären Cannabis-Produkte im Gegensatz zu Opiaten durchaus auch in Ländern wie der Schweiz oder Deutschland produzierbar. Wer sich vehement dagegen wehrt, verhältnismässig gut kontrollierbare Drogen wie Cannabis zu dekriminalisieren, der macht sich dadurch ungewollt zum Fürsprecher der Heroin-Mafia. Riehle bekämpft ein kleines Übel mit Verve, toleriert und fördert dadurch aber ein noch viel grösseres. Wo ist da die Fürsorglichkeit in seinem Humanismus?