In Warschau haben 250.000 Menschen zur 100-Jahr-Feier der Unabhängigkeit demonstriert

Patrioten oder Nationalisten?

Die liberale Bürgermeisterin von Warschau hatte zuerst den diesjährigen Aufmarsch wegen Sicherheitsbedenken verbieten lassen. Die seit 2009 den Unabhängigkeitsmarsch organisierenden Nationalisten kündigten an, sie werden das Verbot ignorieren. Die PiS-Regierung kam ihnen sofort zur Hilfe, erklärte den Marsch zu offiziellen Staatsfeierlichkeiten und verhandelte mit den Nationalisten, damit sie auf die rassistischen und faschistischen Symbole und Fahnen diesmal verzichten. Danach hob ein Gericht die Entscheidung der Bürgermeisterin zwar auf, aber der Pakt der Regierung mit den Nationalisten blieb bestehen.

Zu Beginn der Veranstaltung sagte Präsident Andrzej Duda: "Es ist Platz für jeden unter unseren Fahnen." Außer ihm marschierten Ministerpräsident Mateusz Morawiecki, PiS‐Parteichef Jaroslaw Kaczyński, Präsidenten der beiden Parlamentskammern sowie etliche Minister an der Spitze des Zuges. Einige hundert Meter hinter den Spitzenpolitikern waren auf den Bannern u. a. die Aufschriften "Gott, Ehre, Heimatland", "Polen, weiß und katholisch", "Glauben Tradition Ordnung" zu sehen. Neben dem Slogan , "Stolz, Stolz, Nationalstolz", waren auch die Rufe "USA, Reich des Bösen", "Auf den Bäumen werden anstatt Laub Kommunisten hängen" und ähnliche zu hören. Die Teilnehmer trugen Fackeln, zündeten inmitten des Zuges Rauchbomben und Feuerwerkskörper. Als Ehrengäste waren Rechtsextremisten aus Italien, Ungarn und der Slowakei mit dabei. Am Ziel des Aufmarsches vor dem Nationalstadion wurde die europäische Fahne verbrannt.

Die Bewertungen seitens der regierenden Politiker: Das war ein feierlicher, fröhlicher Marsch der Patrioten unter einer unzähligen Menge der weißroten Fahnen.

Die Berichte der ausländischen Medien: "Die am meisten extremistische und nationalistische Europa zeigt ihre Kraft in Polen" (El Pais); "Zum ersten Mal marschierten polnische Behörden mit den rechtsextremistischen Gruppierungen" (Times of Israel).

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Die einzigen, die ihren Einspruch vor Ort zeigten, waren die Aktivisten und Sympathisanten von Obywatele RP (Bürger der Republik) und des KOD (Komitees zur Verteidigung der Demokratie). Mit dem großen Banner KONSTYTUCJA (Verfassung) standen sie an auf der Route des Marsches. Eine Gruppe von ca. 250 Leute gegenüber 250.000. Dicht umgeben von einem engen Kreis von Polizisten in Kampfuniform, mit Schusswaffen und Schilden, haben sie schweigend ihre Haltung demonstriert. Die stundenlang vorbeiziehenden "Patrioten" riefen in deren Richtung Schimpfwörter, zeigten feindliche Geste und warfen Feuerwerkskörper.

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Ich war mit dabei und fühlte mich wie eine seltene, aussterbende Gattung von Menschen, die geschützt werden müsste. Wir sahen zu und fragten uns: Sind die dort Marschierenden "nur" Patrioten, Nationalisten oder schon Faschisten? All die 250.000 Leute?

Ich wohne in einem Vorort von Warschau und musste mehrmals umsteigen, um unseren Treffpunkt am 11. November zu erreichen. Im Bus, Straßenbahn und U-Bahn hatte ich viele junge und ältere Menschen mit weiß-roten Fahnen oder Armbändern gesehen. Sie sahen aus wie ganz gewöhnliche, ordentliche Leute. Sie fuhren ins Zentrum, um sich dem Unabhängigkeitsmarsch anzuschließen. Sie mussten wissen, wer diese Märsche seit Jahren organisiert. Gut, es waren auch welche dabei, die der Einladung des Präsidenten folgten. Aber nur sorgsam ausgewählte und von Sicherheitsbeamten überprüfte Gäste konnten mit dem Präsidenten und PiS-Politikern marschieren und das waren nur einige Hundert. Der Rest der 250.000 ging gemeinsam, Arm am Arm, mit den maskierten, schreienden und die Fackeln tragenden "Patrioten". Jeder wirklich ordentliche Mensch müsste sich in diesem Moment fragen, ob er mitmacht, oder den Marsch doch verlässt.

Bei allen neuen Mitgliedern der EU krankt die Demokratie, besonders deutlich einst in Polen. In anderen Länder, wie Ungarn und Rumänien, ebenfalls. Aber Polen war bisher der Musterknabe. Die Ursachen dafür sind sicherlich auch wichtig, aber lassen wir sie beiseite und versuchen, Heilmittel zu finden: Das beste Medikament wäre ein Wahlsieg der Demokraten. Einfach, aber problematisch. Die Machthaber setzen den ganzen Staatsapparat, öffentliche Medien und Gelder ein, um die Wähler für sich zu gewinnen; sie politisch zu bestechen. Die parlamentarische Opposition ist hilflos und versucht nur immer wieder die Wähler mit der "bösen PiS" zu erschrecken. Die einzige Hoffnung ist die Zivilgesellschaft. Man braucht die bewussten, verantwortlichen Wähler. In Deutschland bestehen zentrale, regionale und kommunale Programme wie "Demokratie Leben" mit Budgets von vielen Millionen Euro. Es gibt ein bundesweites Netz von "Regionalzentren für demokratische Kultur" mit hauptamtlich beschäftigten Beratern. Viele NGOs, wie die Amadeu Antonio Stiftung, realisieren eigene Projekte, wie "Region in Aktion".

Und in Polen? "Demokratieverteidiger" wie die Desperados vom 11. November, die mit dem Banner "VERFASSUNG" auf der Straße standen, taten das in eigener Verantwortung und auf eigenes Risiko und für eigenes Geld. Wir werden natürlich weitermachen. Es sollte aber nicht nur unsere private Angelegenheit sein. Europa, die Europäische Union und die westlichen Demokratien sollen das auch als ihr Anliegen sehen. Die EU-Kommission muss dringend darüber nachdenken, ob im neuen EU-Budget weitere Swimmingpools, neue Pflaster auf den Marktplätzen, Renovierung der Kirchen etc. mitfinanziert oder vielleicht doch besser die zivilgesellschaftliche Organisationen unterstützt werden sollten.