Am 13. Oktober haben die Polen ihre Vertreter in den beiden Kammern des polnischen Parlaments, Sejm und Senat, gewählt. Die Wahlbeteiligung, mit 18,7 Millionen Wählern (das entspricht 64,7 Prozent), war die höchste nach der politischen Wende vor 30 Jahren. Der Einsatz für die Demokratie war allerdings auch sehr hoch: Es ging darum, die Herrschaft der seit vier Jahren in beiden Parlamentskammern mit absoluter Mehrheit regierenden Nationalpopulisten zu brechen.
Im polnischen Parlament, dem Sejm, konnten die Prawo i Sprawiedliwość (PiS) eine geringe Mehrheit behalten. Den Senat aber haben die Oppositionsparteien und die unabhängigen Abgeordneten – mit nur einer Stimme Mehrheit – erobert.
Die PiS war ihres Wahlsieges nicht sicher und nutzte eine zwar legale, aber noch nie in Anspruch genommene Verfassungsvorschrift: Bis die neuen Parlamentarier vereidigt werden, kann das alte Parlament noch arbeiten. Die letzte Tagung der beiden Kammern vor den Wahlen wurde bis zum 14. Oktober, einen Tag nach den Wahlen, unterbrochen.
Die Oppositionellen fürchteten, dass im Falle ihrer Wahlniederlage die von der PiS im Obersten Gerichtshof verfassungswidrig gebildete neue Kontrollkammer unter irgendeinem Vorwand oder mittels eines blitzschnell verabschiedeten Sondergesetzes die Wahlen für ungültig erklären würden. Deshalb haben sich viele Menschen am 14. Oktober vor dem Parlament versammelt.
Der Präsident hat die erste Sitzung von Sejm und Senat für den letzten gesetzlich möglichen Termin am 12. November einberufen. Die 30 Tage Zeit nutzte die PiS zum Versuch, einzelne demokratische Senatoren mit lukrativen Pöstchen auf ihre Seite zu ziehen. Vergeblich.
So erklärte der am 12. November gewählte neue Senats-Marschall Grodzki, ein aus Szczecin stammender Medizinprofessor, dass die PiS ihm für den Seitenwechsel den Posten des Gesundheitsministers angeboten habe.
Die regierende PiS hat in dieser neuen Wahlperiode noch mehr Probleme. In Sejm ist auch mit elf Abgeordneten die Konfederacja, eine Koalition rechtextremer Gruppierungen, zum ersten Mal vertreten. Es ist auch, nach vielen Jahren Pause, die Linke, diesmal als Koalition von drei Linksparteien, mit 49 Abgeordneten ins Sejm zurückgekehrt. Diese beiden Gruppierungen, wenn auch aus völlig entgegengesetzten Gründen, sind Erzfeinde der regierenden PiS. Bisher spielte die PiS erfolgreich die Rolle des Wohltäters für die von den neoliberalen Eliten aus dem Wohlstand ausgegrenzten Gesellschaftsschichten und die des Verteidigers vor den Gefahren der Genderideologie, vor dem Zustrom der Flüchtlingen oder der Gefährdung des heiligen katholischen Glaubens seitens des Islam. Kaczyński muss jetzt andere Strategien erfinden, um nicht gleichzeitig von links und rechts überholt zu werden.
Sowohl die Linke als auch die Rechte hatten bisher ziemlich geringe Möglichkeiten, ihre Anhänger und Wähler zu erreichen. Die mächtigen öffentlichen (staatlichen) Medien dienten nur den Machthabern. Für die großen privaten Sender und die Presse war vor allem die vorher regierende und jetzt oppositionelle Partei Bürgerplattform interessant. Doch jetzt haben die Abgeordneten der Linken und der Rechten den Sejm als Tribüne zu Verfügung. Politologen sind der Meinung, dass sowohl die Konfederacja als auch die Linke in den Meinungsumfragen schnell nach oben segeln werden.
Ist es möglich, dass die Zusammensetzung des künftigen Parlaments an die des neuesten Thüringer Landtags erinnert? Die gegenwärtige politischen und gesellschaftlichen Prozesse in Ostdeutschland und Polen sind von der gemeinsamen jüngsten Geschichte geprägt.
Noch bevor die neuen Parlamentarier vereidigt wurden, am 11. November, dem Nationalfeiertag, veranstalteten schon zum elften Mal in Warschau rechtsextreme Gruppen, von den einige die Konfederacja gebildet hatten, den sogenannten "Unabhängigkeitsmarsch". Das Motto des Marsches "Nimm die ganze Nation in deinen Schutz" ist einem Mariengebet entlehnt; das Logo war die geballte Faust mit Rosenkranz. Das Rathaus schätzte die Anzahl der Teilnehmenden auf 47.000, weit weniger als im vergangenen Jahr. Da beteiligten sich anlässlich des 100-jährigen Jubiläums der Wiedererlangung der Unabhängigkeit bis zu 250.000 Personen an der Kundgebung. Darunter auch Präsident Andrzej Duda, Ministerpräsident Mateusz Morawiecki und PiS-Chef Jarosław Kaczyński. Diesmal waren, bis auf die neugebackenen Parlamentarier der Konfederacja, keine Politiker mit dabei. Auch die Bischöfe wollten die Schirmherrschaft über den Marsch nicht wieder übernehmen.
Das sind gute Informationen, aber der diesjährige Marsch unterschied sich (außer in der Anzahl der Teilnehmenden) fast nicht von den vorherigen: Die gleichen fremdenfeindlichen und antisemitischen Parolen. In den Redebeiträgen wurde deutlich, welche Eigenschaften die polnische Nation haben soll: Weiß, heterosexuell, streng katholisch und auf keinen Fall jüdisch: "Das ist Polen, nicht Israel", skandierten die Teilnehmenden. Wieder zu Gast waren die Faschisten von Forza Nuova und zum ersten Mal auch die holländischen Identitären mit ihren Omegasymbolen.
Eine weitere gute Meldung ist, dass an der antifaschistischen Gegendemonstration 17.000 Menschen teilgenommen haben. Wesentlich mehr als im vorigen Jahr. Sie marschierten unter dem Motto "Für unsere und deine Freiheit". Zu den Veranstaltern gehörten Aktivisten und Organisationen aus verschiedenen Milieus: Grüne, Linke, LGBT, Antifa, Gewerkschaften, Feministen, alternative Künstler, Studentenorganisationen et cetera. Es waren auch einige neugewählten Politiker*innen mit dabei.
Wie also wird sich Polen nach der Wahl entwickeln?
Die guten Informationen sollen nicht täuschen. Die regierenden Nationalpopulisten der PiS üben noch (fast) die volle Macht aus. Der Senat kann die willkürliche und verfassungswidrige Gesetzgebung der regierenden Mehrheit nur verlangsamen, aber nicht verhindern. Die PiS hat alle staatlichen Institutionen und öffentlichen Medien für sich; sie kann sich aus der Staatskasse und den Geldern der staatlichen Großkonzerne bedienen. Das ruinierte Schulsystem erzieht die Kinder zu "echten" Polen und "wahren" Patrioten. Die höchsten Beamten des Staates knien anlässlich der Staatsfeierlichkeiten vor den Bischöfen und empfangen die heilige Kommunion. Die Nationalisten und Faschisten marschieren durch die polnischen Städten und die diese Märsche blockierenden Aktivisten werden vor Gerichte gestellt …
Die bisherige parlamentarische Opposition war machtlos, nicht nur wegen der PiS-Mehrheit. Man hat sie, nicht ohne Gründe, als faule, dicke, satte Katzen bezeichnet. Die europäischen sicher, aber auch die Landeswahlen könnte man gewinnen, wenn die Wahlkampagnen der Opposition wenigstens halb so gut, so entschieden und so überzeugend, wie die PiS das getan hat, durchgeführt würden.
Die, die sich in den letzten vier Jahren wirklich in dem Kampf mit dem Unterdrückungsregime engagiert hatten, waren die Menschen auf den Straßen; die Straßenopposition. Ich habe schon einige Male in meinen Texten gefordert, die EU sollte ihre Prioritäten neu gewichten. Nicht nur in die Objekte (Straßen, Bauten, Fabriken …), sondern auch in die Menschen, in die Bürger zu investieren. Und ich meine nicht nur die polnische Straßenopposition. Die Menschen, die ein vereinigtes Europas zeigen, beweisen, dass sie, und nicht die Regierungen und Politiker, die Demokratie und Menschenrechte ernst nehmen und verteidigen wollen. Die Menschen in Budapest haben sich mit Erfolg dem Diktator entgegensetzt und einen eigenen Bürgermeister in der Hauptstadt erkämpft. In diesen Tagen demonstrieren hunderttausende Tschechen gegen eine korrupte Regierung. So war es auch in Rumänien. Diese Menschen brauchen Schutz und Unterstützung seitens europäischer Institutionen, auch finanzielle.
Die Amadeu Antonio Stiftung hat nach den Thüringer Landtagswahlen zehn Forderungen definiert. Die dritte davon lautet: "Mit den Stimmengewinnen der AfD gerät die demokratische Zivilgesellschaft weiter unter Druck. Schon jetzt nutzt die rechtsradikale Partei alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel, um zivilgesellschaftliche Organisationen zu diskreditieren und ihre Finanzierung in Frage zu stellen. (…) Damit sich nicht noch mehr Engagierte zurückziehen, gilt es, sie weiterhin finanziell abzusichern und ihnen politisch den Rücken zu stärken – jetzt erst recht!" Das gilt auch für Polen. Sowohl die Konfederacja als auch die regierende PiS kann man mit der AfD gleichstellen.