Der Radikalisierungsprozess der NSU-Terroristen

BONN. (hpd) Der Politikwissenschaftler Matthias Quent legt mit "Rassismus, Radikalisierung, Rechtsterrorismus. Wie der NSU entstand und was er über die Gesellschaft verrät" eine Studie zum Thema vor. Während der erste Teil zu methodischen Fragen eher beschreibend und einseitig gehalten ist, gelingt dem Autor im zweiten Teil eine Rekonstruktion einer sicherlich diskussionswürdigen, aber wichtigen Deutung des NSU-Radikalisierungsprozesses.

Die Anschläge und Morde des "Nationalsozialistischen Untergrunds" (NSU) haben in Medien und Politik große Aufmerksamkeit gefunden. Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive sind bislang indessen nur einzelne Aufsätze, aber noch keine umfangreichere Monographie vorgelegt worden. Eine solche liefert jetzt der Politikwissenschaftler Matthias Quent mit seiner Studie "Rassismus, Radikalisierung, Rechtsterrorismus. Wie der NSU entstand und was er über die Gesellschaft verrät". Auch wenn das eher wie eine journalistisch Arbeit klingt, handelt es sich doch um eine ursprüngliche Promotionsschrift. Dem Autor geht es im Kern darum, die Entwicklung der drei NSU-Angehörigen und deren Umfeld als Radikalisierungsprozess zu untersuchen. Dabei nimmt er eine Differenzierung unterschiedlicher Ebenen vor und geht von ihrem Ineinandergreifen aus: die Gesellschaft (Makroebene), die Bewegung bzw. Subkultur innerhalb der Zivilgesellschaft (Mesoebene) und die radikalisierten Individuen und Kleingruppen (Mikroebene).

Das Buch besteht aus zehn Kapiteln, die zwei größeren Teilen zugeordnet werden können. Zunächst geht es um die Definition von "Radikalisierung", den Forschungsstand zum Thema und den Kontext von Gesellschaft und Rechtsterrorismus. Dabei fällt auf, dass Quent Verweis auf Verweis, Zitat auf Zitat aneinander reiht. Er referiert dabei einzelne Autoren mal eher ablehnend, meist aber zustimmend. Als Beispiel heißt es dann auf nur zwei Seiten: "Hobsbawn (...) meint", "Gurr (...) beschreibt", "So stellt Della Porta (...) fest" oder "Richardson (...) hält" (S. 100). Demnach "klebt" der Autor auf nahezu der Hälfte der Studie an der Sekundärliteratur. Dabei ignoriert er aber auffälligerweise Beiträge aus der Extremismus- und Terrorismusforschung zum NSU. Auch führt er in Anlehnung an Peter Waldmann die Formulierung "vigilantistischer Terrorismus" (vgl. S. 133-141) für Gewalttäter ein, welche eigentlich die soziale Ordnung bestehen lassen wollen. Doch davon kann bei Neonazis, die doch die Etablierung eines "Vierten Reiches" anstreben, nicht die Rede sein.

Erst nach gut der Hälfte des Textes geht es dann zum eigentlichen Thema: Ausführlich schildert Quent die Entstehung, Gruppenkultur und "Rationalität" des NSU. Dabei nimmt er immer wieder die allgemeine Entwicklung des Rechtsextremismus in Ostdeutschland in den Blick. Meist in Anlehnung an Donatella Della Porta nimmt der Autor gelegentlich auch komparative Betrachtungen zum linken Terrorismus vor (vgl. z.B. S. 251f.), wenngleich er bei der Abhandlung des Forschungsstandes die inhaltlich allerdings verzerrt dargestellte vergleichende Extremismusforschung verdammt. Aber immer dann wenn Quent sich dem NSU nähert, wird seine Analyse besser und zielführender. Dies gilt allgemein für die Ausführungen zu den Karrieren individueller Radikalisierung (vgl. S. 289-312), aber auch zu Deutungsversuchen über das Ende der Mordserie (vgl. S. 279-284). Er formuliert hier etwa: "Der Terrorismus des NSU ist zu deuten als ein Kommunikationsprozess zwischen Rechtsextremen und migrantischer Bevölkerung (S. 280).

In der Gesamtschau fällt das Urteil demnach ambivalent aus: Während der erste Teil zwar eine informative Darstellung zu verschiedenen Aspekten der Forschung enthält, blitzt hier nur selten die eigene analytisch-wissenschaftliche Leistung durch. Darüber hinaus finden sich mitunter Einseitigkeiten und Fehldeutungen insbesondere zur Extremismustheorie, die gerade mal mit einem Buchtitel überhaupt im Literaturverzeichnis einen Platz findet. Die Darstellung und Untersuchung des NSU-Komplexes im engeren Sinne ist dann gelungener. Quent geht nicht nur ausführlich auf die Artikel von Uwe Mundlos ein (vgl. S. 234-251), er zeichnet auch detailliert den Radikalisierungsprozesses des NSU-Trios und ihres Umfeldes nach und entwickelt dabei eine gelungene Typologie (vgl. S. 289-312). Auch wenn zu vielen Detailfragen noch immer Wissenslücken bestehen, gelingt es dem Autor hier doch, den Kontext von Gesellschaft, Radikalisierung und Rechtsterrorismus näher zu reflektieren. Dabei findet man beachtenswerte Ansätze für die weitere Forschung.

Matthias Quent, Rassismus, Radikalisierung, Rechtsterrorismus. Wie der NSU entstand und was er über die Gesellschaft verrät, Weinheim 2016 (Beltz Juventa), 374 S., ISBN: 978-3-7799-3435-6, 29,95 Euro