Rezension

Religionsunterricht oder Ethikunterricht?

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Schule ist Ländersache – das ist häufig die Reaktion, wenn man zum Thema Religionsunterricht bundesweite Diskussion sucht. Und viele bundesweit tätige Interessenorganisationen im Schulbereich (ob GEW, Bundeselternrat oder Parteien) fassen das Thema nur ungerne an. Das ist zwar einerseits verständlich, obwohl der Religionsunterricht als einziges Schulfach eine Absicherung im Grundgesetz hat (Artikel 7, Absatz 3). Genauso richtig aber ist auch, dass länderspezifische Besonderheiten dieses besonderen Faches nur richtig verstanden werden können, wenn die Debatte um dieses Fach in der Entstehungszeit des Grundgesetzes und seine Dis- und Kontinuitäten aus der Weimarer Reichsverfassung und der seinerzeit gescheiterte Versuch eines Reichsschulgesetzes einbezogen wird.

Die in der Regel erbitterten Debatten der letzten 120 Jahre um den langfristig schwindenden Einfluss der beiden Großkirchen auf die Schule brachen immer wieder auf. Zuletzt in den Auseinandersetzungen beim Berliner Volksentscheid um das Pflichtfach Fach Ethik im Jahre 2009, welche die Kirchen mit Härte führten und verloren. Und kurz danach beim sehr knapp gescheiterten Versuch der Kirchen, in die Verfassung des Bundeslandes Schleswig-Holstein einen Gottesbezug einzufügen.

Versuche, den schwindenden Kirchen-Einfluss in der sich weiter und beschleunigt säkularisierenden Gesellschaft über den schulischen Religionsunterricht zu kompensieren, gibt es auch aktuell wieder. Sie bewegen sich häufig in verfassungsrechtlichen Grauzonen. Derzeit werden in Bayern und in Hamburg neue Religionsunterrichtsmodelle eingeführt, recht gegensätzliche.

In dieser Situation kommt Hartmut Kreß gerade recht mit einem sehr hilfreichen Buch "Religionsunterricht oder Ethikunterricht?" in der Reihe Schriften zum Weltanschauungsrecht des gleichnamigen Instituts.

Cover

In drei Teilen stellt er zunächst die geistes- und rechtsgeschichtlichen Voraussetzungen des heutigen Religionsunterrichts (RU) bis zum Beginn der Weimarer Republik knapp und lesbar dar. Im zweiten Teil beschreibt er die Stellung des RU im Grundgesetz, stellt die Konfliktlinien in den seinerzeitigen Verfassungsberatungen dar und ordnet sie den damaligen Strömungen und einzelnen zentralen Akteuren zu. Anschließend beleuchtet er deren Grundlagen in den zum Teil übernommenen Bestimmungen der Weimarer Reichsverfassung und macht anschaulich, wo die Weimarer Realität in Bezug auf kirchlichen Einfluss auf die Schulen schon fortschrittlicher war als die heutige bundesrepublikanische. Im umfangreichen dritten Teil schildert er die heutige Lage des RU, spricht dabei die wichtigsten bislang ungelösten Probleme an: Im RU greift entgegen den Verfassungsbestimmungen aus Artikel 7 (3) GG, die explizit einen Unterricht auf der Grundlage des Bekenntnisses, das heißt der Glaubenswahrheiten der einzelnen berechtigten Religionsgemeinschaften fordern, immer mehr ein synkretistischer Mehr-Religionen-Unterricht auf unklarer rechtlicher Basis. Und dies mit allerlei Folgen im Einzelnen, so zum Beispiel dass die Praxis des RU häufig eigentlich eine religionskundliche Einführung junger oft religionsfern aufwachsender Menschen in die Glaubenslehren "ihrer" Religion oder oder auch diverser Religionen ist. Allerdings: einen christlichen Unterricht oder gar eine "pluralistische Religionstheologie" (Hamburg) kann es nach Verfassungsrecht gar nicht geben, einen islamischen RU auch nicht, denn den einen Islam gibt es bekanntlich nicht. Oder die unklaren Voraussetzungen bei der Zulassung des pädagogischen Personals, das – wo es im mehrperspektivischen RU schon nicht mehr Glaubenswahrheiten der einzelnen Religionsgemeinschaft als wahr lehren kann – lieber "konfessorisch" sein soll, also die eigene Religion authentisch bekennen und (vor-)leben soll. Persönlich "verkündigungsnahes" Lehrerverhalten, wie es die beiden Großkirchen wollen. Das Bundesverfassungsgericht hat unmissverständlich festgelegt, dass der RU nach Artikel 7 (3) GG kein Religionskunde- und kein vergleichender Unterricht sein darf.

Dazu befasst Kreß sich mit dem Problem des immer größer werdenden Anteils der Schüler*innen ohne persönliche religiöse Sozialisation, die "ihre" (?) Religion erst gelehrt bekommen. Oder der in Ballungsgebieten Westdeutschlands beziehungsweise in den östlichen Bundesländern mehrheitlich konfessionsfrei aufwachsenden Kinder; sie bräuchten eigentlich einen Unterricht, der ihre säkulare Identität stärkt und zugleich Kenntnisse über Religionen vermittelt. Dies aber lässt das Grundgesetz nicht zu, außer zum Beispiel in Berlin, wo alle Schüler den Ethik-Unterricht besuchen müssen, fakultativ aber einen Religionsunterricht hinzubuchen können.

Eine komplizierte Lage, aber das Buch lässt einen nicht ratlos zurück. Im abschließenden Kapitel werden drei "Entwicklungspfade" vorgestellt und ausgeführt: ein konfessioneller, ein multireligiöser, einer mit der Perspektive eines Schulfaches Ethik/Religionskunde. Letzterer ein richtiger und überzeugender Ansatz, wie ich meine. Und vermutlich auch der Buch-Autor.

Kreß' Buch ist keine Streitschrift. Der Autor enthält sich jeglicher Polemik oder Süffisanz angesichts der klar erkannten Schwäche vieler Positionen von Religionsgemeinschaften aber auch der Drückebergerei staatlicher Entscheidungsträger.

Gedacht ist es für diejenigen Leser*innen, die sich in die meist verdeckt geführten Diskussionen in ihren Ländern oder auch bundesweit einmischen wollen, dazu gegenwärtige Argumente und auch ein paar historische Kenntnisse brauchen. Und es ist gut zu lesen. Die Fußnoten sind nicht notwendig zum Verständnis, zeigen aber die wissenschaftliche Fundierung des Textes.

Wem der Kaufpreis zu hoch ist, kann das Buch auf der Website des Instituts für Weltanschauungsrecht dankenswerterweise auch online lesen.

Hartmut Kreß, Religionsunterricht oder Ethikunterricht? Entstehung des Religionsunterrichts – Rechtsentwicklung und heutige Rechtslage – politischer Entscheidungsbedarf, Nomos-Verlag, Baden Baden 2021

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