Rote Parlamente und Christenverfolgungswahn

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Das österreichische Parlament in Wien wurde im Rahmen des "Red Wednesday" rot angestrahlt.
Österreichisches Parlament

Am 17. November twitterte der zweimal gescheiterte Ex-Bundeskanzler von Österreich: "Rund 80 Prozent der Menschen, die weltweit aufgrund ihres Glaubens verfolgt werden, sind Christen". Sein Tweet bescherte ihm hunderte von hämischen Kommentaren wie Zitate aus sichergestellten Chats, in denen er seine Parteikollegen gebeten haben soll, beim Druck auf die Kirche "Vollgas zu geben". Aber was ist inhaltlich dahinter?

Zwischen dem 17. und 21. November wurde vom Verein Kirche in Not ein "Red Wednesday" ausgerufen. Dieser sollte auf die "weltweite" Verfolgung christlicher Menschen hinweisen. Der Verein, oder wohl eher die Hintermänner bei der katholischen Kirche, konnte einfädeln, dass nicht nur Kirchen, sondern auch Symbole des säkularen, demokratischen Österreichs wie das Parlament und das Bundeskanzleramt in diesen vier Nächten "blutrot" beleuchtet wurden, um auf das Leid der verfolgten Christen aufmerksam zu machen. Die Atheisten Österreich, der Humanistische Verband und auch die Piratenpartei erhoben ihre Stimme gegen diese Vereinnahmung öffentlicher Gebäude für einseitige kirchliche Propaganda.

Kirche in Not?

Der Ex-Kanzler wird seine Zahl ja von irgendwo herhaben, vielleicht von den Initiatoren der Aktion? Auf kirche-in-not.at findet sich zwar die Information von "Millionen verfolgten, unterdrückten und bedrohten Christen weltweit", aber ohne weitere Belege und Informationen. Keine Spur von "80 Prozent der Menschen, die ... verfolgt werden". Die Website ist aber offensichtlich auch nicht als objektive Information gedacht, ein Großteil der Seiten und Links sind Glaubensinhalte, Gebetsaufrufe und Nachrichten über Einzelereignisse, Armut, Verfolgung, Corona und so weiter. Das kann nicht Kurz' Quelle sein.

Ein Link führt zu einem "Religionsfreiheitsbericht", auf die Seite acninternational.org, die wie eine internationale Version von Kirche in Not aussieht und tatsächlich neben Punkten wie "Ausbildung von Priestern" und "Verteilung von Bibeln" den versprochenen "Bericht" enthält. Also keine objektive, sondern eine katholische Quelle, aber schauen wir in den Bericht: In den "wichtigsten Ergebnissen" ist keine Rede von Prozentsätzen oder Anteilen. Als größte Faktoren werden Jihadisten und autoritäre Regierungen genannt. Das wissen wir, aber auch, dass die Jihadisten am meisten in islamischen Ländern wüten und dort – auf Basis kleiner Abweichungen im Glauben – hauptsächlich andere Moslems unterdrücken. Repressive Regierungen? China betreibt Konzentrationslager für Millionen muslimischer Uiguren und hindert auch andere Religionen an der freien Ausübung; die hindu-nationalistische Regierung in Indien diskriminiert die circa 13,4 Prozent Moslems und etwa halb so viele "andere", was auch ein paar Prozent Christen inkludiert. Pakistan genauso, nur in die entgegengesetzte Richtung. In Myanmar findet der schlimmste Genozid auch an den muslimischen Rohingya statt. JüdInnen können im ganzen Nahen Osten de facto nur in Israel unbehelligt leben, aber selbst Teile von Paris sind für sie nicht mehr sicher. Also wo sind die 80 Prozent Christen unter allen Verfolgten?

Es gibt noch "Regionale Analysen". Sie nennen hauptsächlich Beispiele, keine Summen oder Überblickszahlen. Für Afrika werden jihadistische Banden als Hauptproblem genannt, die neben Terrorismus und Kriminalität auch gegen unerwünschte Religionsausübung in ihrem Herrschaftsgebiet vorgehen. Die Anteile der betroffenen Religionen sind nicht bekannt. In Asien werden kommunistische Diktaturen und religiöser Nationalismus als Hauptprobleme genannt, aber wieder keine Prozentsätze. Im Nahen Osten, wo die meisten muslimischen Länder liegen, die häufig nicht so viel von Religionsfreiheit halten, gibt es natürlich auch Probleme: Für Christen, je nach Gebiet für Sunniten oder Schiiten und sogar AtheistInnen werden explizit genannt. In Südamerika, dessen Länder ja allesamt mit Gewalt christianisiert wurden, ist schon "Beschleunigung der Säkularisierung" eines der Hauptprobleme im Bericht. Und in den OSZE-Ländern dominieren die Covid-19-Maßnahmen und daraus resultierende kurzzeitige Einschränkungen einzelner Rituale die Erzählung über die "Einschränkung der Religionsfreiheit". Schutz von Menschenleben und Regeln, die für alle gelten, auch auf Religionsgemeinschaften anzuwenden – das als Unterdrückung von Christen zu interpretieren, ist schon Verfolgungswahn.

Fazit: Selbst diese offizielle Seite der katholischen Kirche, reichlich mit Bildern und Zitaten von Papst Franziskus verziert, schafft es nicht, irgendeinen Prozentsatz für die Verteilung der religiösen Verfolgung zu nennen. Also woher hat Kurz seine Aussage? Von der Kirche wissen wir, dass sie nicht so gut mit Zahlen ist; wir wissen auch, dass sie gerne Aussagen ohne jedwede Evidenz als Fakt kommuniziert. Dies gilt anscheinend auch für den Rechtspopulisten Sebastian Kurz.

Repression durch Religion

Die Medaille hat auch eine zweite Seite: Die Verfolgung durch Religion. Am selben 17. November findet sich in den internationalen Medien unter anderem: "Ghanas Parlament debattiert ein Gesetz, das homosexuelle Handlungen mit jahrelanger Haft bestraft. Das hat mit dem Einfluss der Kirchen zu tun". Auch am gleichen Tag: US-Bischöfe diskutieren, ob sie den Präsidenten Joe Biden wegen dessen politischer Haltung zu Schwangerschaftsabbrüchen an der freien Ausübung seiner Religion hindern sollen, indem sie ihm die Kommunion verweigern. Das ist ein Glashaus mit vielen Steinen.

Eines der für den "Red Wednesday" vereinnahmten Bundesgebäude in Wien ist das Bundeskanzleramt. In diesem sitzt auch das "Kultusamt" der Republik, das sich ebenfalls am 17. November mit der Antwort auf eine Frag-den-Staat-Anfrage vom Frühjahr meldete. Nachdem die Frist mehrfach verstrichen war, musste der Antragsteller auf eigene Kosten ein Anwaltsbüro einschalten, was nach acht Monaten statt acht Wochen doch noch eine Antwort ergab. Inhalt der Anfrage: Prüft das Kultusamt auf Basis des Bekenntnisgemeinschaften-Gesetzes die Aberkennung des Status' der katholischen Kirche nach den homosexuellenfeindlichen Äußerungen des Oberhauptes und der Bischöfe in Österreich, wie es in Paragraph 11a vorgesehen ist? Die Antwort lautet, wenig überraschend: Da die katholische Kirche nicht erst mit diesem Gesetz aus 1874 anerkannt wurde, sondern eine historische Religionsgemeinschaft ist, gilt das Gesetz für sie nicht. Außerdem sei ihr Status zusätzlich im Konkordat geregelt.

Wir haben hier also: eine katholische Kirche, die sich als Opfer von Verfolgung darstellt und dafür auch säkulare Symbole der Demokratie vereinnahmt; für die nach offizieller Auskunft Gesetze über Bekenntnisgemeinschaften nicht gelten; und eine Kirche, die im Ausland für harte Repression gegen andersdenkende Menschen auftritt. Das ist Christenverfolgungswahn in Aktion.

Was eine säkulare Demokratie tun würde

Die Humanisten, Atheisten und Piraten in Österreich haben eine gemeinsame Forderung aufgestellt: Die säkularen Gebäude sollen lieber mit weißer Farbe, also der Vereinigung aller Lichtfarben beleuchtet werden, um zu zeigen, dass alle Religionen Opfer und Täter zugleich sind. Und ein besseres Datum für ein solches Symbol wäre der 22. August, der von den Vereinten Nationen ausgerufene Tag des Gedenkens an die Opfer von Gewalthandlungen aufgrund der Religion oder der Weltanschauung.

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