Rudolf Steiners Rassismus und die "Stuttgarter Erklärung"

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Wenn irgendwo über Rudolf Steiners Rassismus gesprochen wird, ist es nur eine Frage der Zeit, bis der erste Anthroposoph zur Verteidigung Steiners die "Stuttgarter Erklärung" präsentiert. Der "erste Anthroposoph" ist dann auch schon mal der Sprecher und Vorstand des "Bundes der Freien Waldorfschulen", Henning Kullak-Ublick.

Entgegen Kullak-Ublicks Darstellung in seinem Kommentar bei "Allgäu-rechtsaussen" vom 13. Juni 2020 ist die "Stuttgarter Erklärung" nicht das Ergebnis einer freiwilligen anthroposophischen Initiative, sondern eine erzwungene Reaktion auf die massive mediale Auseinandersetzung (TV, SPIEGEL und viele andere) mit Rudolf Steiners Rassismus im Jahre 2007. Das große öffentliche Interesse war Folge des Indizierungsverfahrens der "Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien" (BPjM) gegen zwei Bücher Rudolf Steiners. Am 6. September 2007 entschied die BPjM, dass Steiners Bücher rassistischen Inhalt haben, "in Teilen als zum Rassenhass anreizend beziehungsweise als Rassen diskriminierend anzusehen" sind.

Die nach der Entscheidung der BPjM auf einer eigens einberufenen Pressekonferenz des "Bundes der Freien Waldorfschulen" in Berlin vorgestellte "Stuttgarter Erklärung" versucht, von außen kommende Kritik an Rudolf Steiner Rassismus abzuwehren, und zugleich waldorfintern irritierte Eltern zu beruhigen. Ziel ist die Wiederherstellung des alten "Wir sind die Guten!"-Bildes der Waldorfschule.

Einen lebendigen Eindruck vom aktuellen Stand der fortdauernden Auseinandersetzung vermittelt Dorothea Brummerlohs Beitrag "Steiners religiöser Kosmos – Woran glauben Anthroposophen?" vom 3. April 2020 im Hessischen Rundfunk (hr). Die Seite der Kritik vertritt Prof. Helmut Zander, Anthroposophie-Experte und Autor des Standardwerkes "Anthroposophie in Deutschland"1, Steiners Verteidigung übernimmt der in der Ausbildung von Waldorflehrern tätige Anthroposoph Christoph Hueck. Transkription des im Internet abrufbaren Podcasts, ab 19:04 Minuten:

Sprecherin hr: "Immer wieder in der Kritik sind Rudolf Steiners rassistische, antisemitische Aussagen. Steiner sprach von 'menschlichen Rassen', von 'Wurzelrassen', von 'degenerierten Indianern', vom 'starken Triebleben der Neger'. Das Problem dieser Rassenlehre liegt tief, sagt Helmut Zander."

Helmut Zander: "Es ist bei Steiner Teil seiner Evolutionslehre. Er glaubt, dass sich der Kosmos evolutionär entwickelt hat, dass sich Kulturen evolutionär entwickeln, und er glaubt letztlich auch, dass der Mensch sich evolutionär entwickelt, etwa in seinen Reinkarnationen." [Anmerkung Lichte: die folgende Stelle ist unverständlich, von Helmut Zander korrigiert:] "Evolution im Verständnis des 19. Jahrhunderts ist ein grundlegender Bestandteil seines Systems. Und diese Evolutionsvorstellung hat ihre eigene Logik. In ihrem Fortschrittsdenken gibt es dann degenerierte 'Rassen' wie die Indianer und diejenigen, denen die Zukunft gehöre, wie die weiße."

Sprecherin hr: "Christoph Hueck sagt, dass man mit einem solchen Erbe sachlich umgehen muss. Der 'Bund der [Freien] Waldorfschulen' und auch die 'Anthroposophische Gesellschaft' haben dies getan."

Christoph Hueck: "Man hat sich von diesen einzelnen Äußerungen Steiners distanziert. Man sieht die als damals zeitgebunden an, es gibt genauso Aussagen, wo Steiner gesagt hat: 'Rassenideale sind der Untergang der Menschheit'2. Steiner beschreibt für frühere Zeiten, dass früher – man mag das Wort ja gar nicht benutzen – aber die Differenzierung der Menschengruppen eine größere Rolle gespielt hat, dass wir aber in einer Zeit leben, wo das völlig irrelevant wird. Und die Menschen, die immer wieder diesen Vorwurf erheben, die wollen der Anthroposophie und der Waldorfpädagogik Böses."

Helmut Zander: "Erst mal muss man festhalten, dass sich derartige Äußerungen durch Steiners gesamtes Leben ziehen. Das sind keine Ausrutscher in irgendwelchen Phasen. Ich gebe Ihnen ein Zitat von 1902: 'Soll Goethe die gleichen Bedingungen haben wie ein beliebiger Hottentotte? So wenig wie ein Fisch die gleichen Voraussetzungen hat wie ein Affe, so wenig hat der Goethesche Geist dieselben geistigen Vorbedingungen wie der des Wilden.' Steiner, 1902, schriftlich."

Sprecherin hr: "Der 'Bund der Freien Waldorfschulen' schreibt in der 'Stuttgarter Erklärung' zu den Vorwürfen: 'Die Freien Waldorfschulen sind sich bewusst, dass vereinzelte Formulierungen im Gesamtwerk Rudolf Steiners nach dem heutigen Verständnis nicht dieser Grundrichtung entsprechen und diskriminierend wirken.'"

Helmut Zander: "Das sind Äußerungen, die sich scheuen, das Grundproblem in Steiners Denke zu identifizieren. Es sind eben nicht nur vereinzelte Formulierungen, die man irgendwie nach heutigem Verständnis nicht mehr akzeptieren könne, sondern es ist Teil seines evolutionstheoretischen Denkens."3

Prof. Helmut Zander ist mit seiner Sicht nicht allein, der Historiker Prof. Peter Staudenmaier sagt im Interview bei hpd: "Ausgehend von Blavatskys4 entwicklungstheoretischem Ansatz baute Steiner eine Evolutionslehre der Völker- und Rassengruppen auf, wonach die menschliche Seele durch aufeinanderfolgende Verkörperungen in immer 'höheren' Rassen geistig wie leiblich fortschreitet. Diese Stufenleiter der Rassen steht im Mittelpunkt von Steiners esoterischem Verständnis der Gesamtentwicklung der Menschheit, vom Verhaftetsein in der Materie hin zur geistigen Vervollkommnung."5

Und auch im Indizierungsantrag des "Bundesministeriums für Familie, Senioren und Jugend" an die BPjM vom 21. Dezember 2006 heißt es:

"Die Rassen diskriminierenden Aussagen in den Werken Rudolf Steiners sind als besonders gravierend zu betrachten, da es sich keinesfalls um Zufallsprodukte oder durch den Zeitgeist bedingte rassistische Stereotype handelt. Sie sind vielmehr als Ausprägungen einer spezifisch Steinerschen esoterischen Rassenkunde zu sehen, siehe dazu das Gutachten Jana Husmann-Kasteins6 insgesamt, bzw. speziell Andreas Lichte, Kapitel 1 (S. 38): 'Steiners Menschheitsentwickelung7 als Ursache von Rassismus.'"

Nur der "Bund der Freien Waldorfschulen" spricht noch im Jahre 2020 von "vereinzelten Formulierungen" Rudolf Steiners, die diskriminierend "wirken" – wohlgemerkt: "wirken", nicht diskriminierend sind. Vielleicht möchte jemand Henning Kullak-Ublick fragen, warum das so ist? Als "Ansprechpartner" der Waldorfschulen kennt er sicher die Antwort…

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  1. Helmut Zander, "Anthroposophie in Deutschland – Theosophische Weltanschauung und gesellschaftliche Praxis 1884–1945", Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 2007 ↩︎
  2. "Rassenideale sind der Untergang der Menschheit" ist kein Zitat Rudolf Steiners, sondern der von Christoph Hueck entstellte Titel "Rassenideale sind der Niedergang der Menschheit" zweier Publikationen von Lorenzo Ravagli, dem "Mann fürs Grobe" des "Bundes der Freien Waldorfschulen", siehe: https://de.wikipedia.org/wiki/LorenzoRavagli ↩︎
  3. Dem Autor liegt die Genehmigung der Autorin Dorothea Brummerloh (hr) für das ausführliche Zitieren vor. ↩︎
  4. Helena Petrovna Blavatsky (1831 – 1891), begründete die esoterische Weltanschauung "Theosophie", deren rassistisches Konzept der "Wurzelrassen" Rudolf Steiner übernahm und weiterentwickelte. ↩︎
  5. Peter Staudenmaier im Interview mit Ansgar Martins: "Anthroposophie und Faschismus", Humanistischer Pressedienst, 07.06.2012 ↩︎
  6. heute: Jana Husmann, siehe: https://de.wikipedia.org/wiki/JanaHusmann ↩︎
  7. "Menschheitsentwickelung" ist Steiners Begriff für "Evolution der Menschheit" ↩︎