Der Antisemitismus-Beauftragte und die Anthroposophie

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Michael Blume 2017 während einer Sitzung des Europarates in Straßburg
Michael Blume

Michael Blume, Antisemitismus-Beauftragter Baden-Württembergs, hatte bereits im Herbst 2020 die Anthroposophische Gesellschaft in Deutschland1 besucht, nun gab er der anthroposophischen Zeitschrift info3 ein Interview. Schon die Überschrift des Interviews macht deutlich, wie wertvoll Blume die Anthroposophie ist: "Eine Anthroposophie in der Defensive wäre ein Verlust."2

Gleich zu Beginn des Interviews versucht Michael Blume, originell zu sein und schafft doch nur Verwirrung; Zitat Blume: "Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts galt eine induktive Methode: Wissen wurde geschöpft, indem – meistens – Männer religiöses und philosophisches Wissen verkündet haben. Jetzt gilt für alles Wissen nur noch das Prinzip der Falsifikation und es soll nur noch das als Wissen gelten, was empirisch überprüft und gegebenenfalls auch widerlegt werden kann."

Mit "Männern, die religiöses und philosophisches Wissen verkündet haben", hat die "induktive Methode" nun rein gar nichts zu tun: Die "Induktion" ist "der abstrahierende Schluss aus beobachteten Phänomenen auf eine allgemeinere Erkenntnis", ein Verfahren, das seit sehr langer Zeit in der Wissenschaft angewandt wird. Wie auch das "Prinzip der Falsifikation", das nicht erst "jetzt" – ab "Mitte des 20. Jahrhunderts" – gilt, sondern in den Naturwissenschaften als Kriterium der Falsifizierbarkeit mindestens schon etwa 300 Jahre länger.3

Auffällig ist, dass Blume den Begriff "Wissen" unscharf gebraucht, bei ihm scheint damit im weiteren Sinne nur philosophisches und religiöses Wissen gemeint zu sein, weiter Blume: "Dieser zunehmend scharfe Blick fällt auf alle heiligen Texte und auch viele philosophische Werke. Das trifft Kant mit seinen teilweise rassistischen Äußerungen, das trifft Karl Marx mit seinem Antisemitismus, das trifft auch Rudolf Steiner."

Versucht Blume die Esoterik Rudolf Steiners aufzuwerten, indem er sie im Zusammenhang von "Wissen" und "philosophischen Werken" nennt? Für diejenigen, die Steiner noch nie im Original gelesen haben, hier ein Beispiel für seine "Erkenntnisse", Zitat Rudolf Steiner:

"Der Neger hat also ein starkes Triebleben. Und weil er eigentlich das Sonnige, Licht und Wärme, da an der Körperoberfläche in seiner Haut hat, geht sein ganzer Stoffwechsel so vor sich, wie wenn in seinem Innern von der Sonne selber gekocht würde. Daher kommt sein Triebleben. (…) Und so ist wirklich ganz interessant: Auf der einen Seite hat man die schwarze Rasse, die am meisten irdisch ist. Wenn sie nach Westen geht, stirbt sie aus. Man hat die gelbe Rasse, die mitten zwischen Erde und Weltenall ist. Wenn sie nach Osten geht, wird sie braun, gliedert sich zu viel dem Weltenall an, stirbt aus. Die weiße Rasse ist die zukünftige, ist die am Geiste schaffende Rasse. (…) Und so werden in der Zukunft gerade aus den Rasseeigentümlichkeiten solche Dinge hervorgehen, die man kennen muss, damit man sich richtig hineinstellt ins Leben."4

Kennt Blume dieses weitverbreitete, zum "Klassiker" gewordene Zitat Rudolf Steiners gar nicht, oder blendet er es bewusst aus? Wie kommt er dazu, im info3-Interview zu sagen: "Im Kontext seiner [Steiners, Anm. d. Red.] Zeit gab es also weit Schlimmeres!"

Apologetik-Nachhilfe vom Antisemitismus-Beauftragten

Statt als Antisemitismus-Beauftragter öffentliche Sanktionen gegen anthroposophische Einrichtungen zu fordern – gar eine Einschränkung der Finanzierung von Waldorfschulen? –, empfiehlt Blume im info3-Interview der Anthroposophie eine eigene, kritische Auseinandersetzung mit Rudolf Steiner. Welche Wunder mit Steiners Texten geschehen, wenn Anthroposophen sie mit "Historisierung", "Kontextualisierung", und "Steiners Vorträge wurden nur mitstenografiert!", "bearbeiten", ist mittlerweile Legende – das Ergebnis ist dann beispielsweise so etwas: "In seiner Gesamtheit ist Steiners Lebenswerk aber zutiefst humanistisch und das exakte Gegenteil eines systematischen Rassismus", wie der Vorstand und Sprecher des Bundes der Freien Waldorfschulen Henning Kullak-Ublick im Januar in einem Interview erklärte.

Da müsste der Antisemitismus-Beauftragte wirklich keine Apologetik-Nachhilfe geben, tut er aber, Zitat Blume: "Bei Steiner kommt noch hinzu, dass ein Großteil seines Werkes eigentlich gesprochenes Wort ist – Vorträge, die stenografiert wurden." Man muss Steiners Aussagen also gar nicht allzu ernst nehmen – wie sollte Blume auch sonst der Anthroposophie "zur Verfügung stehen", für einen "Weg nach vorne", Zitat Blume: "Es wäre ein Verlust auch für das ganze Land, wenn die Anthroposophie in eine Defensive geriete und zum Gespött und Angriffs-Objekt für die Epoche der Falsifikation würde. Ich bin aber guter Hoffnung, dass sich da genügend Menschen finden werden, die sagen, wir finden gemeinsam einen Weg nach vorne. Dafür stehe ich gerne zur Verfügung." Warum für Blume eine "Anthroposophie in der Defensive" ein "Verlust für das ganze Land" wäre, bleibt unklar.

Als Arbeitshypothesen biete ich an:

  • Die Anthroposophie ist eine Erfolgsgeschichte "Made in Baden-Württemberg"! Anthroposophische Produkte – wie Waldorfschulen, Demeter, Weleda, etc. – sind äußerst beliebt und müssen unbedingt weiter staatlich gefördert werden. Produktwarnungen würden massiven Protest hervorrufen, nicht nur bei den bestens vernetzten Anthroposophen.5
  • Blume befürchtet einen Domino-Effekt, wenn es der Anthroposophie nicht gelänge, sich gegen Kritik zu behaupten, Zitat Blume: "Mein Eindruck ist, dass sich die Anthroposophie in dieser Debatte mit einer reinen Verteidigungshaltung selber schaden würde. Sie würde aber darüber hinaus, wenn sie es versäumt, in den angedeuteten weiteren Diskurs einzusteigen, dafür sorgen, dass auch andere ihre Freiheit mit verlieren." Als "evangelisch-lutherischer" Christ möchte Blume vermeiden, dass die Auseinandersetzung um Martin Luther noch einmal an Schärfe gewänne: In einem Podcast vergleicht Blume Luther mit den "Schlümpfen" und verharmlost damit Luthers Antisemitismus.

  • Als dem Libertarismus Nahestehender lehnt Blume jeglichen staatlichen Eingriff ab, also auch gegen die Anthroposophie. Blume veröffentlichte jahrelang bei der der "Neuen Rechten" zugeordneten Monatsschrift eigentümlich frei, Zitat Wikipedia: "Die Politikwissenschaftlerin Karin Priester schrieb Ende 2010 in 'APuZ', dass der minimalstaatliche Libertarismus in Deutschland ein Forum in der Zeitschrift 'eigentümlich frei' finde. Die ideologischen Leitfiguren seien die politischen Philosophen Murray Rothbard und Ayn Rand, welche Eigennutz und Egoismus moralphilosophisch als Tugenden legitimierten." Für Blume ist Ayn Rand – die Ikone der rechten Libertären – eine "große Liberale" (sic!).

Genießt die Anthroposophie gegenüber anderen Weltanschauungen Privilegien? Beispielsweise gilt für anthroposophische Arzneimittel in Deutschland ein "besonderes Zulassungsverfahren", bei dem der sonst übliche Wirksamkeitsnachweis nicht erforderlich ist. Sollten auch für Rudolf Steiners Antisemitismus besondere Maßstäbe gelten?

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1Im hpd-Artikel "Anthroposophie und Antisemitismus" über Blumes Besuch bei der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland erklärt der Religionsphilosoph Ansgar Martins ausführlich Rudolf Steiners Antisemitismus.

2Die Überschrift des Interviews ist ein zusammengefasstes Zitat Blumes, Originalwortlaut: "Es wäre ein Verlust auch für das ganze Land, wenn die Anthroposophie in eine Defensive geriete und zum Gespött und Angriffs-Objekt für die Epoche der Falsifikation würde."

3Sir Isaac Newton: "Philosophiæ Naturalis Principia Mathematica", "Rules of Reasoning in Philosophy", 1726 edition: "In experimental philosophy we are to look upon propositions inferred by general induction from phenomena as accurately or very nearly true, not withstanding any contrary hypothesis that may be imagined, till such time as other phenomena occur, by which they may either be made more accurate, or liable to exceptions."

4Rudolf Steiner: "Vom Leben des Menschen und der Erde. Über das Wesen des Christentums", GA 349

5Wenn Caren Miosga nach Rudolf Steiners Anweisungen tanzt …: "Werbeunterbrechung für Waldorfschulen in den Tagesthemen"