Rezension

Ein Skandal auf dem Prüfstand

menne02.jpg

BERLIN. (hpd) Rainer Werner Fassbinders "Der Müll, die Stadt und der Tod" zählt zu den umstrittensten Theaterstücken der Nachkriegszeit. Ein von Reiner Diederich und Peter Menne herausgegebener Sammelband beschäftigt sich fachkundig und perspektivenreich mit dem Skandal um das Drama. 

Fassbinders Skandalstück "Der Müll, die Stadt und der Tod" sollte am 31. Oktober 1985 im Schauspielhaus Frankfurt a. M. uraufgeführt werden. Die Aufführung wurde aber durch heftige Proteste verhindert. Mitglieder der Frankfurter Jüdischen Gemeinde besetzten die Bühne mit einem Transparent, das mit der Aufschrift "Subventionierter Antisemitismus" versehen war, da sie das Theaterstück als antisemitisch einstuften. Denn unter einer Vielzahl von Figuren tritt auch ein namenloser "reicher Jude" auf, der als gewinnorientierter Immobilienkaufmann und Spekulant antisemitische Klischees in sich vereine. Ihm wird ein Nazi gegenübergestellt, dessen Äußerungen von wüsten, judenfeindlichen Ressentiments und Vernichtungsphantasien durchsetzt sind.

Bis heute wird darüber diskuktiert, wie Fassbinders Stück zu interpretieren ist. Handelt es sich um ein antisemitisches oder um ein Stück über Antisemitismus? Oder bedient es möglicherweise unbewusst antisemitische Klischees? Der von Reiner Diederich und Peter Menne herausgegebene Sammelband "Der Müll die Stadt und der Skandal" versucht diese Fragen zu klären.

Inhalt

Eingeleitet wird das Buch mit einem Bericht über ein Gespräch mit Michel Friedmann, der sich damals wie heute mit dem Vorwurf der Zensur auseinandersetzt und selbst an den Protesten gegen Fassbinders Stück beteiligt war. Darin werden Eindrücke zu dem Skandal prägnant skizziert sowie der gegenwärtige Juden- und Fremdenhass thematisiert. 

Peter Menne geht anschließend in einer Textanalyse der Frage nach, inwiefern Fassbinders Stück offen für eine antisemitische Inszenierung ist. Zwar gebe es keine andere Figur, die den Hasstiraden des Nazis widerspricht. Doch die Demaskierung der barbarischen Ideologie finde gerade durch die Figur selbst statt, so Menne. Denn die karikative Zuspitzung perverser Phantasien demonstriere ausreichend, dass eine antisemitische Position indiskutabel sei und rationale Widerlegungen auf keinen fruchtbaren Boden fallen. Genau das gelinge Fassbinder mit seiner Montage. Schließlich werde das Widerliche von einer deutlich unsympathischen Figur vorgetragen, die nur jenen Personenkreis zur Identifikation einlädt, welcher sich selbst bereits als nazistisch und menschenfeindlich versteht. 

Anders verhalte es sich bei der Figur des "reichen Juden". Er diene als Projektionsfläche für antisemitische Vorurteile, sei zugleich aber die einzige Figur, die – trotz systemkonformen, fremdschädigendem Wirtschaften – Respekt vor seinen Gegenübern wahrt und Gefühle zulässt. Peter Menne bestätigt damit Fassbinders Einschätzung, der den "reichen Juden" selbst als "Figur mit positiven Einzelheiten", als Figur mit Licht-und Schattenseiten charakterisierte.

Peter Mennes Analyse überzeugt durch Abgewogenheit und weitsichtigen Überblick über unterschiedliche Interpretationsmöglichkeiten. Mit kurzen soziologischen Betrachtungen kontextualisert er die Motive und zeitgeschichtliche Zustände, die in Fassbinders Theaterstück eingeflossen sind. So verdeutlicht er, dass das Stück eine adäquate Darstellung gesellschaftlicher Wirklichkeit in einem kalten Stadt-Kosmos ist: "Fassbinder sucht die Entstehungsbedingungen von vorurteilsbesetzer Verfolgung einer Minderheit. Die Erklärung, die er anbietet, ist die Kombination aus marktwirtschaftlichem Konkurrenzmodell und den manipulativen Projektionsmechanismen, die da gedeihen."

Vertiefende Ausführungen erhalten die Leserinnen und Leser mit einem Beitrag von Reiner Diedrich. Darin wird zum einen der Zusammenhang zwischen Kapitalismus und Antisemitismus thematisiert sowie unterschiedliche Lesarten und die facettenreiche Rezeptionsgeschichte von Fassbinders Stück vorgestellt. 

Birgit Seeman erklärt in ihrem Beitrag über "Antisemitismus als gesellschaftliche und globale Konstante", dass Fassbinder "frelich keine Entfachung des Judenhasses beabsichtigt, sondern im Gegenteil dessen Entlarvung." Allerdings problematisiert sie die unzureichende Auseinandersetzung mit der Antisemitismusforschung: "Hätte Fassbinder deren Befunde bei der Vorbereitung für 'Der Müll, die Stadt und der Tod' in Betracht gezogen, hätten Konzeption und Inszenierung des umstrittenen Stücks vielleicht einen anderen Zungenschlag erhalten". So habe Fassbinder "mit dem Feuer gespielt".

In einem Essay untersucht Armin Pfahl-Traughber die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen dem Antisemitismus im Islamismus, Linksextremismus und Rechtsextremismus. Dabei stellt er klar, dass "es judenfeindliche Einstellungen und Handlungen auch außerhalb der angesprochenen politischen Lager gibt." Die stringenten und sprachlich präzisen Ausführungen Pfahl-Traughbers bereichern den Sammelband mit einem Überblick über aktuelle  Formen und Ausprägungen antisemitischen Denkens und Handelns im politischen und religiösen Extremismus. 

Fazit

Mit "Der Müll, die Stadt und der Skandal" liegt ein lesenswerter Sammelband vor, der die Rezeptionsgeschichte zu Fassbinders Theaterstück weitsichtig und perspektivenreich umreißt. Den Leserinnen und Lesern werden unterschiedliche Interpretationsmöglichkeiten und Erklärungsansätze angemessen vorgestellt. Unter den Autoren gibt es dabei einen Konsens: Obschon das Stück antisemitisch verstanden werden kann, müsse festgestellt werden, dass Fassbinder kein Antisemit war. Damit werden die Leserinnen und Leser bei der Beurteilung nicht allein gelassen.

Aber auch im Lichte aktueller Kontroversen um die Grenzen der Satire- und Kunstfreiheit lohnt sich die Lektüre des Sammelbandes. Denn ein Blick zurück auf vergangene Debatten, könnte vorhandene Parallelen aufzeigen und zu einer entschärfenden Versachlichung der Diskussion führen.