Rezension

Die Stunde der Physiker

"Das romantische Erlebnis, im Innersten der Welt auf das Geheimnis zu treffen, das man selbst ist, beglückte in der modernen Geschichte der Wissenschaft die Physiker, deren abenteuerliche Suche hier Schritt für Schritt erzählt ist." Ernst Peter Fischer, Physiker, Wissenschaftshistoriker und renommierter Wissenschaftspublizist, zeigt am Werdegang der Forschung und ihrer genialen Protagonisten, wie sich das moderne Bild der Physik in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts entwickelte und zu gravierenden Konsequenzen im Verstehen der Welt führte.

Anekdotenreich spannend erzählt, mit wissenschaftlichen Erklärungen und Abbildungen ergänzt, vermittelt der Autor Basis- und weiterführendes Wissen zur modernen Physik und ihrer Bedeutung für das Leben, auch Überleben, von einzelnen Menschen und der gesamten Menschheit.

"In den 1920er Jahren machten sich Physikerinnen und Physiker auf den Weg zu den Atomen im Innersten der Welt. Sie sahen sich gezwungen, ihr Verständnis des Wirklichen dramatisch umzugestalten, ohne zu ahnen, welch ungeheure Folgen der von ihnen vollzogene Wandel langfristig mit sich bringen sollte." Ernst Peter Fischer beschreibt, wie der Weg zu den Atomen durch Grenzüberschreitungen gefunden werden konnte, die Physiker*innen gerieten dabei in ein "Meer dynamischer Möglichkeiten". In ihrem Innersten zeigt sich die Welt als Energie voller Wandlungskünste; es gibt nur Bewegung, im Wirklichen wie im Wissen und Denken der Welt: Energie mit ihren Wendefähigkeiten und Wandlungsmöglichkeiten hält das Geschehen in Gang.

Cover

Anhand Max Plancks Formulierung der Quantentheorie erläutert Ernst Peter Fischer die Phänomene Quanten und Quantensprünge, mit den sich daraus ergebenden Konsequenzen und Gesetzen. Sie beschreiben nicht mehr, wie die Natur ist, sondern, wie die Natur wird, wenn Menschen auf sie zugreifen und bei den Atomen "nachfragen", was oder wie sie sind. Entgegen Ludwig Wittgensteins Postulat "worüber man nicht sprechen kann, muss man schweigen" betont der Autor, dass man, obwohl sich Quantenphänomene der Sprache des Alltags entziehen, sehr wohl über die durch sie begründeten offenen Möglichkeiten im Inneren der Welt sprechen kann.

Anekdotisch bei der Solvay-Konferenz von 1927 beginnend beleuchtet der Autor die Entdeckungen der wichtigsten Teilnehmer wie Marie Curie, Albert Einstein, Niels Bohr, Erwin Schrödinger, Wolfgang Pauli, Werner Heisenberg, Paul Dirac, Louis-Victor de Broglie, Max Born und vieler anderer. Er berichtet, wie die neuartigen Theorien der Materie ihren Erfindern schlaflose Nächte bereiteten und beschreibt, wie die Quantenphysik auch zu philosophischen Fragen führte. Wie ist zu verstehen und welche Bedeutung besitzt es, dass sich Atome in einer Dualität von Teilchen und Welle zeigen können, wobei ihr Zustand durch Beobachtungen zustande kommt, die den Übergang von Ausgangs- zu Endsituationen bewirken, ohne dass sie selbst zu erfassen sind. Den Schlüssel des Verstehens bildet die von Heisenberg als Besonderheit der physikalischen Gesetze im atomaren Bereich mathematisch formulierte "Unbestimmtheit", die zu Abläufen in der Natur nur Auskünfte über deren Wahrscheinlichkeit liefert. Inhaltlich geht es bei der Quantenmechanik um eine statistische Deutung der Wirklichkeit ("die darin enthaltene Forderung, sich mit Wahrscheinlichkeiten abzufinden, statt nach der Wahrheit zu suchen, ging Einstein bis zuletzt gegen den Strich"), die durch drei grundlegende Gleichungen von Born/Heisenberg/Jordan, Schrödinger und Dirac beschrieben wird.

In "Zehn Schritte durch die Zeit" mit zeitlich von 1900 bis 1932 gegliederten Unterkapiteln führt Ernst Peter Fischer – zum Teil autobiografisch humorvoll – durch die spannende Geschichte der großen physikalischen Entdeckungen (und zuweilen auftauchenden Irrtümer). Energie und Entropie, "Atomistik oder Atommystik" ("unter führenden Forschern tobte ein erbitterter Streit, ob Atome der spekulativen Metaphysik zuzurechnen sind, oder sich von einer empirischen Wissenschaft erforschen lassen"), das Quantum der Wirkung, die Gleichungen für die Energie, das "schizophrene" Atommodell, das "romantische" Modell (die Beschreibung der Quantenwelt bekommt eine romantische Dimension) werden beleuchtet. Das Periodensystem der Elemente, Quantenzahlen und halbe Quantenzahlen, das Pauli-Prinzip, Bosonen und Fermionen, das Heisenberg Modell, der Doppelspalt, Matrizen und imaginäre Dimensionen, Wellenmechanik und Wellenfunktionen, die Kopenhagener Deutung, die Komplementarität, die Prinzipien der Quantenmechanik, die Verschränkung und vieles mehr bilden weitere Abschnitte der Erläuterungen – ergänzt mit biografischen Details zum jeweiligen, oft auch kontroversiellen, Ringen der Forscher*innen um Erkenntnisse.

1932 stellte ein besonderes Jahr dar; im Frühjahr konnten sich die Physiker*innen zum letzten Mal friedlich versammeln, bevor die anschließende Brutalität der Anhänger Hitlers die Welt zu zerstören begann. Zudem wurde in diesem Jahr die Existenz des Neutrons nachgewiesen und der experimentelle Beweis geliefert, dass es tatsächlich Positronen und Antimaterie gibt (wie es Paul Dirac mit seiner Gleichung vorausgesagt hatte). "Die Theorie der Quantenmechanik hatte die Welt der Physik gewandelt. Jetzt konnte ihre Praxis den ganzen Erdball und das Leben auf ihm beeinflussen. Die Quantenphysiker waren im Innersten der Welt angekommen."

Neben dem Glück der Entdeckungen werden im Buch auch ihre negativen Folgen beleuchtet, mit dem Versagen von Rationalität ist auch das Auftreten einer "bösen Seite der Naturwissenschaften" verbunden. Anhand der Biografie von Lise Meitner wird die Entdeckung der Kernspaltung und in weiterer Folge – via Robert Oppenheimer - die Entwicklung der Atombombe beschrieben. "Schrödingers Katze" sowie das Rechnen mit Verschränkung und die Zusammenhänge von moderner Physik mit Molekularbiologie bilden weitere Unterkapitel. Last not least wird die große Bedeutung von Relativitätstheorie und Quantenmechanik für die heutige Informationsgesellschaft betont: John Wheeler hatte bereits 1989 prophezeit, dass es eines Tages gelingen werde, "die gesamte Physik in der Sprache der Information zu verstehen und auszudrücken". "Es gilt zu verstehen, wie die Welt (physikalisch durch Licht, biologisch durch molekulare Strukturen, sprachlich durch Symbole) nicht nur Informationen liefert, sondern wie auch die Informationen selbst zur Welt führen."

Mit "Die Stunde der Physiker" legt Ernst Paul Fischer ein Buch vor, das sehr hohe Erwartungen erfüllt.

Neben den physikalischen und biografischen Darlegungen ist es dem Autor auch ein Anliegen, geistesgeschichtliche Parallelen aufzuzeigen und zum Wesen, zur Methode und zum Glück von Wissenschaft interessante Beiträge zu liefern: "Das Geschätzte und Gewohnte nützen, um es erst zu stürzen und um danach mit seinen weiterhin nutzbaren Stücken etwas ungewohnt Neues über den Trümmern zu errichten." Die Ausführungen erfordern in einigen Bereichen etwas mathematisch/physikalisches Verständnis, ein umfangreiches Glossar der Fachausdrücke leistet dabei wertvolle Hilfe. Kurzbiografien der Protagonisten und ein ausführliches Literaturverzeichnis ergänzen das Gebotene.

"Die Stunde der Physiker" ist ein Buch, das physikaffinen Leserinnen und Lesern und darüber hinaus auch allgemein geistes- und naturwissenschaftlich Interessierten ohne Wenn und Aber empfohlen werden kann.

Ernst Peter Fischer, Die Stunde der Physiker – Einstein, Bohr, Heisenberg und das Innerste der Welt, 1922 - 1932, © Verlag C.H.Beck oHG, München, 2022, ISBN 978-3-406-78311-1, 288 Seiten, 25,00 Euro (eBook 18,99 Euro)

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