"Le nozze di Figaro" an der Bayerischen Staatsoper – inszeniert von Christof Loy

Das Theater mit der sexuellen Belästigung

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Solenn' Lavanant-Linke (Cherubino), Alex Esposito (Figaro)
Solenn' Lavanant-Linke (Cherubino), Alex Esposito (Figaro)

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Alex Esposito (Figaro)
Alex Esposito (Figaro)

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Olga Kulchynska (Susanna), Alex Esposito (Figaro), Christian Gerhaher (Graf Almaviva)
Olga Kulchynska (Susanna), Alex Esposito (Figaro), Christian Gerhaher (Graf Almaviva)

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Olga Kulchynska (Susanna), Anne Sofie von Otter (Marcellina)
Olga Kulchynska (Susanna), Anne Sofie von Otter (Marcellina)

"Die Hochzeit des Figaro" von W. A. Mozart zählt zu den beliebtesten Werken des Komponisten. Das Libretto stammt aus der Feder des kongenialen Lorenzo Da Ponte und lieferte Mozart eine theatrale Vorlage allererster Güte. Im Verlauf von knapp 24 Bühnenstunden spannt sich das Musterbeispiel eines dramaturgischen Bogens – mit der musikalischen Interpretation der Bayerischen Staatsoper eine Sternstunde für Mozart-Fans im speziellen und Opernliebhaber überhaupt.

Was die Handlung in diesem Werk antreibt, sind Eifersucht und sexuelle Begierde sämtlicher Protagonisten. Was eigentlich stattfinden soll, an diesem "verrückten Tag" (so der Originaltitel der Dramen-Vorlage von Beaumarchais), ist die Hochzeit von Figaro und Susanna. Beide sind Angestellte im Dienste des Grafen Almaviva, Figaro ist gar sein langjähriger Freund, der ihm dazumal zur Eroberung seiner Gattin, der Gräfin Rosina, verhalf. Statt Figaro nun retour ebenso zum ehelichen Glück zu verhelfen, hat der Graf nichts Besseres zu tun, als Susanna, Figaros Braut, nachzusteigen. Als fortschrittlicher Monarch hat er immerhin das "Recht der ersten Nacht" abgeschafft, das ihm als Feudalherren den Beischlaf mit der Frau seines Bediensteten in der Hochzeitsnacht gewährt hätte. Ärgerlich also für ihn, dass er sich jetzt anderweitig Zutritt zu Susannas Schlafzimmer verschaffen muss.

Susanna weiht Figaro in die Problematik ein und verbündet sich zugleich mit der Gräfin, um sich selbst den Grafen und der Gräfin wiederum den Betrug zu ersparen. Die Damen hecken raffinierte Pläne aus und fallen dabei gelegentlich selbst ihren Trieben zum Opfer, als sie mit dem Pagen Cherubino in ihren Gemächern neckische Verkleidungsspielchen treiben. Eine weitere Gefährdung der Hochzeit geht von der alten Dienerin Marcellina aus. Sie hat einen unterschriebenen Schuldschein von Figaro mit der Klausel, er werde sie ehelichen, so er nicht bezahlen könne. Unterstützt von ihrem Anwalt Doktor Bartolo fordert sie vehement die Heirat mit Figaro ein.

Christian Gerhaher (Graf Almaviva), Olga Kulchynska (Susanna), Foto: © Wilfried Hösl
Christian Gerhaher (Graf Almaviva), Olga Kulchynska (Susanna), Foto: © Wilfried Hösl 

Nach einigem Hin und Her schließlich kehrt der Graf reumütig zur Gräfin zurück, Figaro heiratet Susanna, Marcellina und Bartolo (die sich als Figaros Eltern herausstellen) geben sich ebenso das Jawort und der Page Cherubino wird der Gärtnerstochter Barbarina versprochen.

Die Neuinszenierung von Christof Loy holt das komödiantische Verwirr-Spiel ins Hier und Jetzt. Das Bühnenbild von Johannes Leiacker zeigt Bühne und Zuschauerraum der Bayerischen Staatsoper, wobei man anhand der Türen sieht, wie sehr der Raum – und somit wohl das Spiel – den Figuren immer weiter über den Kopf wächst. Was als Puppenspiel im Guckkasten begann, endet vor einer portalfüllenden Türe, die von Menschenhand alleine schon gar nicht mehr bewegt werden kann.

Das Kostümbild von Klaus Bruns zeigt teils die übliche Abendgarderobe von Operngängern (Graf, Gräfin, Susanna, Figaro), teils Kostüme aus einer Typen-Komödie (Cherubino als Page, Antonio als Gärtner, Bartolo als Rechtsanwalt). Der Chor trägt eine Art Uniform des Vorderhaus-Personals. Es bleibt bis zuletzt unklar wer in dieser fiktiven Bühnenwelt welche Rolle und Funktion einnimmt. Klar ist aber eines: Das hochaktuelle Thema der sexuellen Belästigung wird an diesem Abend szenisch bis aufs Äußerste ausgereizt. Der Graf ist sowieso hinter jeder Frau her, außer seiner eigenen. Die Gräfin fällt regelrecht über Cherubino her. Der wiederum ist überall gewillt, jedoch meist nicht mutig genug, zur Tat zu schreiten. Ganz anders Basilio, der es augenscheinlich sowohl auf Susanna als auch auf Cherubino abgesehen hat. Und nicht einmal Marcellina gelingt es, ihren zurückgewonnene Sohn Figaro mütterlich zu umarmen – glühend reißt sie ihn in ihr Dekolleté.

Die großartig besetzte Sänger-Riege läuft in der minutiös gearbeiteten Personenregie zu Höchstform auf. Es ist eine Freude, dem Verwirren, Verstecken und Begrapschen zuzusehen. Obwohl die Oper nahezu ungekürzt dem Publikum insgesamt viel Sitzfleisch und Konzentration abverlangt, ist es ein kurzweiliger und temporeicher Abend.

Ensemble und Chor der Bayerischen Staatsoper, Foto: © Wilfried Hösl
Ensemble und Chor der Bayerischen Staatsoper, Foto: © Wilfried Hösl 

Auch das musikalische Tempo hat es in sich. Constantinos Carydis heizt mit dem Bayerischen Staatsorchester durch die Partitur als ob es kein Morgen gäbe. Das hat gleich mehrere ohrenbezwingende Effekte. Der Klangkörper schillert in allen Farben und versprüht Mozarts jugendliches Gemüt mit schier unerschöpflicher Wucht pausenlos durch den Saal. Die sexualisierte Triebfeder, die den Kern des Dramas bildet, wird greifbar. Die Rezitative werden zu Wortgefechten in Echtzeit. Das funktioniert vor allem auch deshalb, weil dieses perfekt einstudierte Ensemble (allen voran Olga Kulchynska als Susanna – mit einem Touch ins Depressive) dabei keine Silbe verschluckt, sondern die Textverständlichkeit des Italienischen einwandfrei erhält. Einzelne Sätze werden denn auch geknurrt (Fiagro: Alex Esposito) oder gebrüllt (Graf: Christian Gerhaher) – unter Türengeknalle kommt die Bühne hier der Realität zum Verwechseln ähnlich nahe.

Die wenigen "Dämpfer", die das Dirigat diesem Tempo verpasst, setzen eindrucksvolle Akzente. Die Klagen der Gräfin über die entschwundene Vergangenheit und den Verlust der Liebe ihres Gatten, zeigen die boshafte Kehrseite des triebgesteuerten egoistischen Handelns. Die eingefügte "Abendempfindung an Laura", die Marcellina (Anne Sofie von Otter) statt ihrer Arie im dritten Akt singt, nur begleitet vom Klavier, lässt nachdenklich innehalten bevor das letzte Finale aufbraust. Und wenn Cherubino (Solenn’ Lavanant-Linke) das "Voi che sapete" über die Entdeckung von Liebe und Trieb singt, steht die Zeit für ein paar Takte still.

Noch in den letzten Orchesterklängen, drängt sich alles grapschend und fummelnd abgehend hinter den Vorhang. Nur Figaro bleibt auf der leeren Bühne zurück bevor schlagartig das Licht ausgeht. Man könnte es als einen zynischen Kommentar zum Thema "Ehe" in der heutigen Zeit begreifen.