BERLIN. (hpd) Transhumanismus – derzeit scheint die Begrifflichkeit mehr denn je präsent. Für- und Gegensprache zu einer Ideologie, in deren Realität und gleichsam Existenz manch ein Vertreter die Welt bereits heute sieht – und andere Anhänger überzeugt sind, dass wir um ihre vollkommene Entfaltung gar nicht umhinkommen werden.
Mich stört in dieser Auseinandersetzung besonders die offenkundig ohnmächtige Unterordnung der Verfechter eines Transhumanismus unter seine schiere Unabänderlichkeit. Die Vision, wonach sich der Mensch durch seine Fähigkeiten über seine bisherigen, naturgesetzlichen Grenzen hinaus fortentwickeln kann und dabei mithilfe von Technik, Fortschritt und Moderne zum mächtigsten Akteur im Rahmen seines durch die Vernunft limitierten Universums wird, löst sich ab von klassisch humanistischen Denkweisen.
Dass wir in einer Welt leben, in der das Bemühen um das Erreichen von Wunschbildern schon seit langem Einzug hält, wird keiner bestreiten können. Doch die Darstellungen der losgestoßenen Dynamik, als habe sich die transhumanistische Weltanschauung bereits verselbstständigt und wir können nichts mehr dagegen unternehmen, ist aus meiner Sicht nicht haltbar. Die Auffassung, wonach wir ihr praktisch unterworfen sind und sie deshalb ungefragt annehmen müssen, widerspricht eigentlich dem Grundgedanken des Transhumanismus selbst. Dort, wo wir die menschliche Einflussnahme als derart universell ansehen, führt sich eine Überzeugung doch ad absurdum, wenn sie dem eigenen Impetus ausgeliefert ist.
Die Frage ist viel eher die des Willens: Wollen wir eine transhumanistische Lebensweise - und eben eine solche, die nichts mit den bislang noch milden Auswirkungen zu tun hat, die wir in Individualisierung, Entsolidarisierung und Digitalisierung schon heute sehen? Es geht um das, was für viele von uns aus augenblicklicher Sicht irreal zu wirken scheint: das Überführen des Menschen in seine "Vollendung", in seine Unantastbarkeit, in seine Stereotypisierung.
Natürlich hatte auch Einstein vor 100 Jahren nicht daran geglaubt, dass seine Relativitätstheorie durch den Nachweis von Gravitationswellen jemals - und schon gar nicht im Jahr 2016 - gelingen würde. Selbstredend entwickeln sich Forschung und Wissenschaft mit einer ungeahnten Geschwindigkeit. Doch wer steuert sie? Werden wir gezwungen, uns zu idealisieren? Sind nicht wir es, die im gemeinsamen Konsens gerade dazu verpflichtet sind, die Macht des Menschen verantwortungsvoll auszugestalten?
Ja, darin sehe ich die Gefahr des transhumanistischen Denkens: Diejenigen, die an der Quelle des Wissens sitzen, lenken die menschlichen Geschicke. Wir können das - wie den Lobbyismus der Globalisierung - als unabänderlich akzeptieren oder uns wieder darauf besinnen, dass unser Erdball nur schwer funktioniert, wenn wir uns nicht auf ein Mindestmaß an Werten verständigen. Und das kann und muss nach meiner Auffassung auch bedeuten, uns selbst zu regulieren. Vielleicht geschieht es wie an den Börsen, die ebenfalls keinen dauerhaften Aufschwung kennt, sondern sich vor Überhitzung schützt... Überdies will ich mich nicht auf eine philosophische Debatte einlassen, in der ich wahrscheinlich ohnehin verlieren würde. Denn moralische Argumente sind meist wirkungslos gegen Vernunft, wenngleich ich mich frage, ob wir denn in einem ausgedehnten Transhumanismus überhaupt noch eine Ethik brauchen würden. Solch eine Vorstellung schaudert mich, ist aber eine persönliche Empfindung, die in der Auseinandersetzung kein Gewicht haben darf. Mich irritiert in den Diskussionen viel eher die zumeist von Außenstehenden verbreitete Meinung, Krankheit oder Behinderung gehe unmittelbar mit Plagen, Qual und Schaden einher. Ich weiß es nicht, aber kann ein Leben ohne Tiefen erstrebenswert sein?
Wir könnten einerseits davon ausgehen, dass Krankheiten und "Handicaps" das Ergebnis einer entgleisten Evolution sind, die der Mensch mit seinem Können nicht nur auszugleichen vermag, sondern gar in ihren Auswirkungen vorhersehen und vermeiden kann. Doch auch, wenn ich kein Utopist bin, frage ich mich dann: Wenn wir die Fähigkeiten des Menschen derart hoch ansetzen, weshalb verhindern wir dann nicht zuerst einmal das Leid, das wir selbst verursachen, in Gewalt oder Krieg beispielsweise? Denn andererseits möchte ich in den Raum werfen, ob Erkrankungen und Behinderungen in gewissem Maße nicht auch ihren Sinn haben? Wir neigen heute rasch dazu, gesundheitliche Leiden um jeden Preis zu bekämpfen, weil wir sie als unmenschlich ansehen - das beginnt schon beim Schwangerschaftsabbruch und endet in der Sterbehilfe. Doch woher nehmen wir Fertigkeiten wie Einfühlungsvermögen, Sensibilität, Empathie, Verständnis und Mitgefühl, wenn wir keinerlei Möglichkeit mehr haben, diese auch zu erlernen - eben beispielsweise durch die Erfahrung des Leidens? Fragt man viele Betroffene auch von schweren Erkrankungen, so zeichnen sie ihre Situation weitaus weniger dramatisch, als ihnen ihre Umwelt dies in den Mund legen will. Blicke ich auf meine eigenen, genetisch bedingten, nicht heilbaren Beeinträchtigungen, so ergeht es mir ähnlich: Dieses "das ist aber schlimm..." von jenen, die meist vor Gesundheit strotzen, empört mich.
Gerade in Psychotherapien werden Patienten oftmals gefragt, wie es denn ohne Krankheit wäre. Und natürlich wünschen sich die meisten, dass es ihnen besser gehen würde. Aber vollständig auf eine Form von Leiden zu verzichten, das will dann kaum jemand. Denn die Feststellung, aus den Tiefen des Lebens eben auch erwachsen herauszugehen, ist keine weise Floskel, sondern ein Erlebnis, das selbst die nicht missen wollen, die wirklich geprüft wurden.
Es ist unbestritten, dass ich mir Hilfe wünsche für jeden Kranken und behinderten Menschen. Auch ich bin dankbar dafür, dass sie mir zuteil wird. Doch bedeutet ein Streben nach dem Perfekten nicht gleichsam, ein Ideal zu schaffen, dessen Einseitigkeit uns die Existenz auf dieser Welt nicht leichter, sondern gar langweiliger und inhumaner machen würde?
18 Kommentare
Kommentare
Bernd Vowinkel am Permanenter Link
Der Artikel liest sich, als ob er von einem Vertreter einer christlichen Kirche geschrieben wäre.
"Überdies will ich mich nicht auf eine philosophische Debatte einlassen, in der ich wahrscheinlich ohnehin verlieren würde."
Ja, Volltreffer!
"...wenngleich ich mich frage, ob wir denn in einem ausgedehnten Transhumanismus überhaupt noch eine Ethik brauchen würden".
Die ethische Begründung des Transhumanismus fundiert auf dem Utilitarismus. Daneben kann man den Transhumanismus als Ergänzung des evolutionären Humanismus sehen. Übrigens gilt Julian Huxley sowohl als einer der Begründer des evolutionären Humanismus wie auch des Transhumanismus.
"Denn andererseits möchte ich in den Raum werfen, ob Erkrankungen und Behinderungen in gewissem Maße nicht auch ihren Sinn haben?"
Nein, sie sind völlig sinnlos und überflüssig! Sinn machen sie bestenfalls für Religioten und die Pharmaindustrie.
"Ich weiß es nicht, aber kann ein Leben ohne Tiefen erstrebenswert sein?"
Ja, aber nicht ohne Höhen!
Wolfgang Graff am Permanenter Link
Ist die Unvollkommenheit ein Wesensmerkmal des Menschen? Darüber kann man durchaus einmal nachdenken. Es stimmt schon: Wer würde ein Hoch schätzen, ohne jemals ein Tief durchschritten zu haben?
Es stellt sich aber die Frage, ob der transhumanistisch optimierte Mensch tatsächlich von keinen natürlichen und moralischen Übeln mehr heimgesucht werden kann.
Je komplexer ein System, desto störanfälliger. Das ist zwar nur eine Faustregel, aber sie hat sich bislang recht gut bewährt.
Man kann also vermuten, dass es auch in ferner transhumanistischer Zukunft noch genügend Unbilden geben wird, um sich in Empathie, Solidarität und Hilfsbereitschaft zu schulen.
Sehen wir also nicht zu schwarz und lassen die transhumanistisch inspirierten Forscher weiterhin daran arbeiten, die Leiden der Menschheit zu minimieren.
Thomas Friedrich am Permanenter Link
«Es stimmt schon: Wer würde ein Hoch schätzen, ohne jemals ein Tief durchschritten zu haben?»
Der Mechanismus, den Sie beschreiben, ist selbst nur ein Bestandteil unserer darwinistischen Psyche, und könnte mit Hilfe der Gentechnik überwunden werden.
Man muss sich klar machen, dass die Evolution nie auf unser Wohlergehen ausgerichtet war. Glücksmomente sind nur ein Lockmittel, das uns zu bestimmten, für die Weitergabe von Genen notwendigen Tätigkeiten wie Fressen und Kopulieren motivieren soll. Das ist der Grund, weshalb sich unser Glück in so engen Grenzen bewegt und weshalb kaum ein Mensch langfristig über eine dumpfe Alltagszufriedenheit hinauskommt. Sigmund Freud hat das gut auf den Punkt gebracht:
"Wir sind so eingerichtet, daß wir nur den Kontrast intensiv genießen können, den Zustand nur sehr wenig. Somit sind unsere Glücksmomente schon durch unsere Konstruktion beschränkt."
Mit Hilfe der Gentechnik werden wir diese Konstruktion verändern. Wir werden unsere Glücksfähigkeit verstärken und unsere Empfänglichkeit für Leid und Schmerz abschwächen. Vermutlich werden unsere genetisch verbesserten Nachkommen Glückszustände erleben, die alles übersteigen, was wir uns heute vorstellen können.
http://www.hedweb.com/hedab.htm
Markus Pfeifer am Permanenter Link
Man muss sehen, dass der Kontrast auch lehrreich ist.
Vorstellbar ist daher, dass wir uns bewusst selbst künstlichem Leid aussetzen. Das tun wir ja heute schon: In Kunst und Kultur sind wir regelmäßig mit unaussprechlichen Dingen konfrontiert, von Mord und Totschlag bis hin zu Folter. Ob wir wollen oder nicht, ein bisschen leiden wir immer mit - das müssen wir schon, um die Handlung zu verstehen. Ich denke, die Kreativität wird da eher zunehmen. Schon heute beschränken sich Darstellungen von Leid nicht mehr nur auf Theater und Film, es gibt sie auch interaktiv in Konsolenspielen. Für den mündigen Rezipienten kann das durchaus eine lehrreiche Erfahrung bieten.
Thomas Friedrich am Permanenter Link
Mord und Totschlag in der Kunst genießen wir doch gerade deshalb, weil es nicht unser eigenes Leid ist, und weil wir beim Anblick von Dramen, an denen wir nicht beteiligt sind, Lust empfinden.
Thomas Friedrich am Permanenter Link
Krankheit und Behinderung gehen nicht immer mit Qual einher, bedeuten aber immer eine Verschlechterung der Lebensqualität und sind deshalb vermeidenswert.
Das ästhetische Argumente, wonach das Leben auch "Tiefen" braucht und wir deshalb schwerste Krankheiten an unsere Kinder weitergeben müssen, finde ich geradezu menschenverachtend. Auf gleiche Weise hat man früher über Krieg und Armut geredet. "Der ewige Friede ist ein Traum und nicht einmal ein schöner". Heute heißt das: "Gesundheit für alle Menschen ist ein Traum und nicht einmal ein schöner".
Noch schlimmer ist das Argument, dass wir kranke und behinderte Menschen brauchen, um unser Mitgefühl zu trainieren. Diese Aussage könnte auch von 'Mutter Teresa' stammen.
«Fragt man viele Betroffene auch von schweren Erkrankungen, so zeichnen sie ihre Situation weitaus weniger dramatisch, als ihnen ihre Umwelt dies in den Mund legen will. »
Das ist eine unhaltbare Pauschalisierung. Ich leide zum Beispiel an chronischer Borreliose und empfinde schon diese Krankheit als eine furchtbare Zumutung. Ich würde nie auf die Idee kommen, meine Krankheit als Bereicherung anzusehen oder mich für ihre künstliche Erhaltung oder Weitergabe einzusetzen. Mich hat meine Krankheit nur bestärkt in der Überzeugung, dass Leid schlecht ist, und dass wir so viel Leid wie möglich vermeiden sollten.
«Blicke ich auf meine eigenen, genetisch bedingten, nicht heilbaren Beeinträchtigungen, so ergeht es mir ähnlich: Dieses "das ist aber schlimm..." von jenen, die meist vor Gesundheit strotzen, empört mich.»
Auch Sie legen vermutlich großen Wert darauf, nicht noch eine zusätzliche Behinderung zu erwerben, beispielsweise das Augenlicht zu verlieren oder dement zu werden. Und umgekehrt: Gäbe es eine magische Pille, die Ihre Behinderung über Nacht zum Verschwinden bringt, würden Sie es tatsächlich vorziehen, behindert zu bleiben?
Ilse Rose am Permanenter Link
Wer kann von sich behaupten, wirklich zu 100 % gesund, also ohne Leiden zu sein, sei es Migräne oder Reizdarm? Irgendetwas hat jeder, wenn Mensch ehrlich ist. Viele nehmen es wie es ist.
Wir sollten daran arbeiten, dass sich niemand als „behindert“ betrachten
muss, nur weil ihn die anderen so sehen wollen.
Thomas Friedrich am Permanenter Link
Den Spruch "Man ist nicht behindert, man wird behindert" halte ich für abwegig.
Andreas E. Kilian am Permanenter Link
Die Gattung Homo hielt sich nicht an die Moral und Ethik der Australopithecen. Und wäre es nach deren Moral und Ethik gegangen, dann würde die Gattung Homo heute wahrscheinlich nicht existieren.
Wir sollten den Menschen der Zukunft nicht nach unseren Maßstäben messen, sondern unseren Nachfahren die Mittel an die Hand geben ihre eigene Moral und Ethik – die des Homo transhumanus - zu begründen.
Etwas mehr zusätzlicher Arbeitsspeicher und schnellere Prozessoren würden uns – bei unseren jetzigen IQ – sicherlich nicht schaden, denn auch unsere momentane Moral und Ethik basiert nur auf den Zusammenhängen, deren Komplexität wir meinen überblicken können.
Wir sollten uns damit abfinden, dass auch „unser“ Humanismus evolvierbar ist.
Hans Trutnau am Permanenter Link
Ja sicher evolvierbar, lieber Andreas; eben deswegen evolutionärer Hum.
Ich finde die Fast-Glorifizierung des Leidens durch Dennis R. auch etwas überzogen, die Replik von Bernd V. hier oben aber nicht minder (will ich hier auch nicht doppelt kommentieren).
Aber ich will hier gar nicht viel weiter kommentieren als ich es vor ein paar Tagen eh schon tat (ohne Antwort dort).
"Diese ganze Transkiste erscheint mir immer mehr wie ein elitäres, im besten Fall utopisches, realitär aber dystopisches Geschwurbel, das eigentlich nur mit/in einem reaktionären Staatsgebilde und williger Ubergugel-Industrie durchsetzbar erscheint.
Nur mit gehöriger SOMAtisierung auszuhalten."
Und der evol. Hum. benötigt m.E. auch keinesfalls des Transhum. als Ergänzung, zumindest nicht in der verschärften 'Alles geht'-Variante.
Deren Beschwichtigungsversuche finde ich wie Daniela Wakonigg in ihrem Beitrag hier vor fast 3 Monaten (http://hpd.de/artikel/12698) einfach nicht überzeugend.
Ketzerisch vermute ich, dass Julian Huxley (der die Begriffe evol. Hum. und Transhum. prägte) evtl. die Dystopie 'Brave New World' seines Bruders Aldous nicht gelesen hat.
Bernd Vowinkel am Permanenter Link
Hans, ich habe ja durchaus großes Verständnis für Leute, die den Transhumanismus, aus welchen Gründen auch immer, ablehnen.
Hans Trutnau am Permanenter Link
Stimmt, Bernd; du bist seit deinem Transhumanismus- (TH-) Beitrag hier auf eine Reihe meiner Argumente exakt NULL eingegangen* und kommst jetzt mit einem ad hominem ("Beschimpfung der Verfechter").
Ja doch, auf einen groben Klotz gehört ein grober Keil (deshalb z.B. 'Transen'); aber der Klotz bist nicht du, sondern die (ideologische) TH-Pseudoreligion.
Schön pointiert hat das gestern (28.4.) Th. Metzinger bei Scobel dargestellt:
http://www.3sat.de/mediathek/?mode=play&obj=58701 (ab ca. 15:50).
M. hat (folgend sinngemäß, und jetzt wohl auch beschimpfend?) wahnhaft-verrückte evangelikale Informatiker kennengelernt, die mit ihrer Techie-Religion das Produkt "STERBLICHKEITSVERLEUGNUNG" anbieten, das seit Jahrtausenden stabil ist - der Erfolg der RKK - nur mit dem Unterschied, dass das jetzt im 'bundle' mit Fortschrittsgläubigkeit angeboten wird.
Nö, solcherley science fiction benötige ich ganz einfach nicht (mehr); sie ist mit Daniela Wagonigg und deren Argumentation auch schlicht nicht überzeugend (nicht einmal in irgendeiner Weise notwendig), zumal Julian Huxley die Tragweite der (durchaus realistischen) Dystopie "Brave New World" seines Bruder Aldous (* noch so ein Argument...) offenbar überhaupt nicht überblickte.
Inhaltlich im Detail werde ich dies hier b.a.W. nicht weiter darlegen, allenfalls in einer eigenen Publikation (so ich kann und will). Die sattsam bekannten Kritiken des TH und deren im Netz verfügbaren Diskussionen sind ja ohne jede weitere Quellenangabe allemal sauber recherchierbar.
Last, but not lease, dein vordergründig "großes Verständnis" für Leute, die ablehnen, nehme ich dir SO lapidar nicht ab. Schon wegen deiner Folgeworte kommt das bei mir wie eine Nebelkerze an, die verschleiern, nicht aufklären will.
Bernd Vowinkel am Permanenter Link
Argumente? welche?
Zu Metzinger: Ich habe den 3sat-Beitrag auch gesehen und ich habe mich mit Metzinger beim letzten Stiftungstreffen längere Zeit unterhalten. Ich habe auch sein Buch "Der Ego Tunnel" gelesen. Er sieht die Zukunft allgemein eher pessimistisch. Allerdings hält er die meisten Zukunftsprognosen über die technologischen Entwicklungen für durchaus realistisch (und nicht für Geschwurbel). Er warnt davor, dass wir mit der künstlichen Intelligenz womöglich neue leidensfähige Wesen erschaffen und damit potentiell das Leid vergrößern könnten. Dieses Argument nehme ich absolut ernst, auch wenn ich nicht so schwarz sehe.
Ich bin kein Anhänger eines Unsterblichkeitswahns. Ewiges Leben im Diesseits ist schon aus Gründen der Kosmologie unmöglich. Aber die Möglichkeit einer ganz erheblichen Lebensverlängerung ist schon jetzt abzusehen. Unsere durchschnittliche Lebenserwartung steigt jedes Jahr um etwa 3 Monate. Und der Trend ist entgegen aller Vorhersagen ungebrochen.
Metzinger hat aufgrund persönlicher Erfahrungen insbesondere gegenüber Ray Kurzweil eine tiefe Abneigung. Kurweil zählt sicher zu den Euphorikern unter den Transhumanisten. Allerdings sind seine Vorhersagen aus seinen älteren Büchern (z.B. "The Singularity is near") zu über 80% eingetroffen. Sowas soll ihm erst mal einer nachmachen.
Mein Verständnis der Gegner des Transhumanismus geht so weit, dass ich mit Michael Schmidt-Salomon der übereinstimmenden Meinung bin, dass wir den Transhumanismus nicht zu einem großen Thema innerhalb der gbs machen sollten, um nicht zu viele Leute zu verschrecken.
Thomas Friedrich am Permanenter Link
"Brave new world" ist eine erfundene Geschichte. Als Argument hat sie nur dann einen Wert, wenn man plausibel machen kann, dass die Anwendung der Gentechnik zu einer solchen Gesellschaft führen würde.
Hier eine transhumanistische Replik auf Aldous Huxley:
http://www.huxley.net/
Evolutionärer Humanismus ohne Transhumanismus halte ich für eine witzlose Position. Worin soll die Evolution bestehen, wenn unser biologisches Wesen sich nicht ändert? Dass man die Menschen durch politische Veränderungen nicht besser oder klüger machen kann, haben die letzten Jahrhunderte eindrücklich bewiesen. Vermutlich sind die heutigen Menschen nicht mal wesentlich glücklicher als ihre jagenden und sammelnden Vorfahren vor 20.000 Jahren. Eigenschaften wie Intelligenz und Glück sind so stark durch unser biologisches Wesen limitiert, dass der Transhumanismus als die einzige Chance auf eine grundlegende Verbesserung des menschlichen Lebens gelten kann.
Hans Trutnau am Permanenter Link
Ah ja: "dass die Anwendung der Gentechnik zu einer solchen Gesellschaft führen würde.
Eine entsprechende Begründung habe ich aber noch nie gelesen" -
Thomas Friedrich am Permanenter Link
Nein, das ist nicht der Punkt. Man kann ja trotzdem argumentieren, dass die Gentechnik zu genau der Gesellschaft führen wird, die Aldous Huxley (auf der Basis einer anderen fiktiven Technik) beschrieben hat.
Andreas E. Kilian am Permanenter Link
Hallo Hans,
ohne jegliche Beurteilung des Transhumanismus, sondern nur als Realist und Biologe sehe ich die Entwicklung folgendermaßen:
Brillen, 3. Zähne, Hörgeräte, Herzschrittmacher, etc. sind bereits Teile einer technischen Erweiterung des Menschen. Und wenn es möglich ist, werden auch Neuro-Implantate für etwas mehr IQ angeboten und akzeptiert werden.
Firmen werden dann die „fitteren“ Arbeitnehmer einstellen und Heiratswillige die „fitteren“ Partner auswählen. Auch Du würdest keine kurzsichtige Frau heiraten, die zu doof ist, eine Brille zu akzeptieren und sich aufzusetzen, wenn sie vor ihr liegt. Die Frage ist also nicht, ob es kommt, sondern nur was es kostet und ob es für alle verfügbar sein wird.
Selbstverständlich klingt dies elitär. Aus der Sicht des „Survival of the fittest“ ist der Fittere immer elitär, solange er seinen Vorteil nicht mit anderen teilen kann. Der Homo Transhumanus wir uns genauso elitär erscheinen, wie sich Humanisten und Atheisten heute gegenüber Islamisten und Gläubigen verhalten.
Ob mit oder ohne Transhumanismus: In unserer Evolution ist der Mensch selber der stärkste Selektionsfaktor des Menschen geworden. Und die Evolution schreitet so oder so voran, ob wir wollen oder nicht. Daran ändern auch unsere Ideologien und Religionen nichts.
Menschen werden daher ihr Genom verändern („verbessern“?) und wo dies nicht mehr reicht, werden sie sich mit technischen Attributionen „fitter“ machen, so sie es können. Lassen wir sie doch!
Vielleicht sehen Menschen später die Umweltverschmutzungen und unsere Wettbewerbsgesellschaft mit anderen Augen, wenn sie 200 Jahre alt werden oder einen IQ von über 200 besitzen. Dies wissen sie aber erst, wenn sie es ausprobiert haben. Ich wünsche all jenen, die wissen, dass sie sich verändern müssen, viel Glück auf ihrer Reise.
LG
Andreas
Markus Pfeifer am Permanenter Link
Die Dialektik des Transhumanismus geht so:
Wie in vielen anderen Diskussionen wird daher richtigerweise geschlossen, dass man mit einem Verbot also wahrscheinlich nicht weiter kommt und daher zusehen sollte, dass man den technologischen Fortschritt in einem positiven Sinne gestaltet.
Dies ist ein zutiefst humanistischer Gedanke. Alles Weitere sind im Wesentlichen Schlussfolgerungen, die einerseits auf diesem Gedankengang und andererseits auf den individuellen Spekulationen über den weiteren Fortgang der Technik beruhen. Hinzu kommen weitere Überlegungen darüber, wie die Gesellschaft funktioniert.
Letztlich muss man den transhumanistischen Diskurs aber lesen wie einen gewöhnlichen humanistischen Diskurs, der nur eben einen starken Akzent auf obigen Gedankengang legt.
Mitnichten sagen transhumanisten, der technologische Fortschritt sei determiniert. Uns allen ist bewusst, dass wir schon seit Mitte des 20. Jahrhunderts fähig wären, jedem menschlichen Streben ein jähes Ende zu setzen - und diese Fähigkeiten werden sogar noch ausgebaut und diversifiziert. Aber eben das nimmt der Transhumanist zum Anlass, Konzepte zu entwickeln, wie man all dem etwas Positives abgewinnen und Sicherheiten schaffen kann. Verzagen und sich die gute alte Zeit zurück wünschen kann jeder.