Kommentar

Transhumanismus: Ist der Mensch sich selbst ausgeliefert?

BERLIN. (hpd) Transhumanismus – derzeit scheint die Begrifflichkeit mehr denn je präsent. Für- und Gegensprache zu einer Ideologie, in deren Realität und gleichsam Existenz manch ein Vertreter die Welt bereits heute sieht – und andere Anhänger überzeugt sind, dass wir um ihre vollkommene Entfaltung gar nicht umhinkommen werden.

Mich stört in dieser Auseinandersetzung besonders die offenkundig ohnmächtige Unterordnung der Verfechter eines Transhumanismus unter seine schiere Unabänderlichkeit. Die Vision, wonach sich der Mensch durch seine Fähigkeiten über seine bisherigen, naturgesetzlichen Grenzen hinaus fortentwickeln kann und dabei mithilfe von Technik, Fortschritt und Moderne zum mächtigsten Akteur im Rahmen seines durch die Vernunft limitierten Universums wird, löst sich ab von klassisch humanistischen Denkweisen.

Dass wir in einer Welt leben, in der das Bemühen um das Erreichen von Wunschbildern schon seit langem Einzug hält, wird keiner bestreiten können. Doch die Darstellungen der losgestoßenen Dynamik, als habe sich die transhumanistische Weltanschauung bereits verselbstständigt und wir können nichts mehr dagegen unternehmen, ist aus meiner Sicht nicht haltbar. Die Auffassung, wonach wir ihr praktisch unterworfen sind und sie deshalb ungefragt annehmen müssen, widerspricht eigentlich dem Grundgedanken des Transhumanismus selbst. Dort, wo wir die menschliche Einflussnahme als derart universell ansehen, führt sich eine Überzeugung doch ad absurdum, wenn sie dem eigenen Impetus ausgeliefert ist.

Die Frage ist viel eher die des Willens: Wollen wir eine transhumanistische Lebensweise - und eben eine solche, die nichts mit den bislang noch milden Auswirkungen zu tun hat, die wir in Individualisierung, Entsolidarisierung und Digitalisierung schon heute sehen? Es geht um das, was für viele von uns aus augenblicklicher Sicht irreal zu wirken scheint: das Überführen des Menschen in seine "Vollendung", in seine Unantastbarkeit, in seine Stereotypisierung.

Natürlich hatte auch Einstein vor 100 Jahren nicht daran geglaubt, dass seine Relativitätstheorie durch den Nachweis von Gravitationswellen jemals - und schon gar nicht im Jahr 2016 - gelingen würde. Selbstredend entwickeln sich Forschung und Wissenschaft mit einer ungeahnten Geschwindigkeit. Doch wer steuert sie? Werden wir gezwungen, uns zu idealisieren? Sind nicht wir es, die im gemeinsamen Konsens gerade dazu verpflichtet sind, die Macht des Menschen verantwortungsvoll auszugestalten?

Ja, darin sehe ich die Gefahr des transhumanistischen Denkens: Diejenigen, die an der Quelle des Wissens sitzen, lenken die menschlichen Geschicke. Wir können das - wie den Lobbyismus der Globalisierung - als unabänderlich akzeptieren oder uns wieder darauf besinnen, dass unser Erdball nur schwer funktioniert, wenn wir uns nicht auf ein Mindestmaß an Werten verständigen. Und das kann und muss nach meiner Auffassung auch bedeuten, uns selbst zu regulieren. Vielleicht geschieht es wie an den Börsen, die ebenfalls keinen dauerhaften Aufschwung kennt, sondern sich vor Überhitzung schützt... Überdies will ich mich nicht auf eine philosophische Debatte einlassen, in der ich wahrscheinlich ohnehin verlieren würde. Denn moralische Argumente sind meist wirkungslos gegen Vernunft, wenngleich ich mich frage, ob wir denn in einem ausgedehnten Transhumanismus überhaupt noch eine Ethik brauchen würden. Solch eine Vorstellung schaudert mich, ist aber eine persönliche Empfindung, die in der Auseinandersetzung kein Gewicht haben darf. Mich irritiert in den Diskussionen viel eher die zumeist von Außenstehenden verbreitete Meinung, Krankheit oder Behinderung gehe unmittelbar mit Plagen, Qual und Schaden einher. Ich weiß es nicht, aber kann ein Leben ohne Tiefen erstrebenswert sein?

Wir könnten einerseits davon ausgehen, dass Krankheiten und "Handicaps" das Ergebnis einer entgleisten Evolution sind, die der Mensch mit seinem Können nicht nur auszugleichen vermag, sondern gar in ihren Auswirkungen vorhersehen und vermeiden kann. Doch auch, wenn ich kein Utopist bin, frage ich mich dann: Wenn wir die Fähigkeiten des Menschen derart hoch ansetzen, weshalb verhindern wir dann nicht zuerst einmal das Leid, das wir selbst verursachen, in Gewalt oder Krieg beispielsweise? Denn andererseits möchte ich in den Raum werfen, ob Erkrankungen und Behinderungen in gewissem Maße nicht auch ihren Sinn haben? Wir neigen heute rasch dazu, gesundheitliche Leiden um jeden Preis zu bekämpfen, weil wir sie als unmenschlich ansehen - das beginnt schon beim Schwangerschaftsabbruch und endet in der Sterbehilfe. Doch woher nehmen wir Fertigkeiten wie Einfühlungsvermögen, Sensibilität, Empathie, Verständnis und Mitgefühl, wenn wir keinerlei Möglichkeit mehr haben, diese auch zu erlernen - eben beispielsweise durch die Erfahrung des Leidens? Fragt man viele Betroffene auch von schweren Erkrankungen, so zeichnen sie ihre Situation weitaus weniger dramatisch, als ihnen ihre Umwelt dies in den Mund legen will. Blicke ich auf meine eigenen, genetisch bedingten, nicht heilbaren Beeinträchtigungen, so ergeht es mir ähnlich: Dieses "das ist aber schlimm..." von jenen, die meist vor Gesundheit strotzen, empört mich.

Gerade in Psychotherapien werden Patienten oftmals gefragt, wie es denn ohne Krankheit wäre. Und natürlich wünschen sich die meisten, dass es ihnen besser gehen würde. Aber vollständig auf eine Form von Leiden zu verzichten, das will dann kaum jemand. Denn die Feststellung, aus den Tiefen des Lebens eben auch erwachsen herauszugehen, ist keine weise Floskel, sondern ein Erlebnis, das selbst die nicht missen wollen, die wirklich geprüft wurden.

Es ist unbestritten, dass ich mir Hilfe wünsche für jeden Kranken und behinderten Menschen. Auch ich bin dankbar dafür, dass sie mir zuteil wird. Doch bedeutet ein Streben nach dem Perfekten nicht gleichsam, ein Ideal zu schaffen, dessen Einseitigkeit uns die Existenz auf dieser Welt nicht leichter, sondern gar langweiliger und inhumaner machen würde?