Kommentar nach dem Selbstmord des Terrorverdächtigen in Leipzig

Deutschland debattiert die falschen Schlussfolgerungen

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Gefängnis
Gefängnis

Ein Suizid in einer Gefängniszelle – das ist nichts Außergewöhnliches, auch nicht in Deutschland, leider! Und doch ist die Empörung nun groß: Der Terrorverdächtige Al-Bakr konnte sich in der Leipziger Justizvollzugsanstalt das Leben nehmen – und das nur kurze Zeit nach seiner Festnahme durch Landsleute, die er selbst als Mittäter beschuldigte. Die Fassungslosigkeit aber ist heuchlerisch: Nein, es geht den Kritikern nicht darum, dass ein offenkundig suizidaler Mensch – und ja, auch ein dem geplanten Terror Angeprangerter ist ein Mensch – nicht davon abgehalten werden konnte, sich umzubringen, nicht geholfen wurde, sein Leben zu bewahren. Man trauert eher um die Informationen, die man von ihm nun nicht mehr bekommen kann, zu Hintermännern, Hintergründen und Zusammenhängen seines Handelns und desjenigen anderer Terrorhelfer.

Da reißt jemand die Deckenlampen herunter, schafft sich – bildlich gesehen – einen Galgen. Die Steckdosen werden manipuliert. Ein Hungerstreik beginnt. Und dem Anstaltsleiter fällt nichts Anderes ein, als festzustellen, dass der Gefangene doch auffallend ruhig war, keinerlei emotionalen Ausbrüche zeigte und ganz normal wirkte – und man seine plötzlichen Aggressionen deshalb auch als "Vandalismus" deutete. Wahrscheinlich hätte ein Blinder mehr gesehen bei solch eindeutigen Auffälligkeiten, die aber offenbar nicht einmal eine herbeigezogene Psychologin werten konnte. Da fragt man sich durchaus, ob Gutachter ausreichend für solch schwierige Aufgaben der Beurteilung des seelischen Zustandes von gefährdeten Persönlichkeiten geschult sind, wenn es eine Haftrichterin brauchte, um zu erkennen, was mit Al-Bakr los ist. Doch ihre mahnenden Worte blieben bei der sächsischen Justiz offenbar ohne Gehör.

Grotesk wirkt da auch die Aussage der Gewerkschaft der Strafvollzugsbeamten, die feststellt, dass sich Selbstmorde langfristig nicht verhindern lassen. Wie zynisch! Für mich deuten solch desinteressierten Feststellungen auf ein Weltbild, in dem Gefängnisse offenbar als Verwahranstalten gesehen werden, in denen man darauf hofft, dass die Insassen ihren Aufenthalt hoffentlich überleben – damit es keine Aufruhr gibt, wie jetzt. Doch dieses Denken kommt scheinbar vielen Bürgern entgegen, für die Straftäter anscheinend generell den Rand der Gesellschaft darstellen. "Aus den Augen, aus dem Sinn" – und wenn sich einer etwas antut, Pech gehabt! So kann man nämlich auch zahlreiche Kommentare deuten, die nach dem Tod von Al-Bakr kursieren, und die den Tenor tragen, es sei nicht schade um ihn. Wie verroht muss eine Gemeinschaft sein, wenn sie nicht die Tragik eines Selbstmordes in den Mittelpunkt stellt, sondern sich eher darum bemüht, wie viel Ballast eigentlich so ein Gefangener für die Allgemeinheit darstellt. Irgendwie windet man sich immer um Verantwortung: Entweder hat man Glück, ein Straftäter macht nicht von sich reden und kostet wenig Geld – und wenn er doch Schlagzeilen produziert, war man hilflos dagegen.

Suizide könne man nicht vorbeugen, so rechtfertigen sich die zuständigen Mitarbeitervertreter in den Justizvollzugsanstalten. Es ist zweifelsohne richtig, dass nicht alle Anzeichen erkannt werden können, die ein Sterbewilliger mitbringt. Und doch ist es eine Form der vollkommenen Überheblichkeit, der moralischen Egozentrik, wenn man per se nicht einmal bereit ist, sich mit Motiven von Selbstmordabsichten auseinanderzusetzen. Es zeigt, wie selbst manche derjenigen, die auf Gefangene aufpassen sollen, die ihnen zum Schutz unterstellt sind, über ihre Befohlenen denken: Ablehnend und nicht wertig genug, um sich überhaupt mit ihren Sorgen zu befassen. Denn Haft ist wahrlich kein Zuckerschlecken. Das soll sie sicher auch nicht sein. Aber wollen wir Gefängnisse als eine prosperierende Brutstätte für suizidale Gedanken? Die Systemfrage stellt sich, wieder einmal aufgekommen durch einen besonders prominenten Fall. Welche Würde lassen wir Menschen zukommen, die straffällig oder dessen verdächtig wurden? Ist sie wirklich unteilbar, für alle, wie es uns die Verfassung in Artikel 1 vorschreibt? Und behandeln wir jeden gleich, egal, ob Gewalttäter oder den mit der reinen Weste?

Haftanstalten sind leider nicht das, was sie unserem demokratischen Verständnis des Rechtsstaates gemäß eigentlich sein sollten: Statt Aussichten auf die Rückkehr in die Gesellschaft zu ermöglichen, nähren sie häufig Perspektivlosigkeit und Hoffnungslosigkeit. Man könnte meinen, das sei die passende Strafe. Doch möchten wir, statt auf Resozialisierung zu setzen, wirklich lieber Achsel zuckend dabei zusehen, wie sich hinter Gittern tiefe seelische Abgründe auftun – wenn sie nicht schon existieren –, und gar noch ermutigen, einem Leben in solch einem Umfeld ein schnelles Ende zu setzen? Al-Bakr wollte vielen Menschen hierzulande ebenso den Tod bringen. Ist es deshalb weniger verwerflich, ihn sich unbeobachtet strangulieren zu lassen? Ist es gar gerecht? Wir diskutieren die falschen Schlussfolgerungen aus dem aktuellen Ereignis, machen uns keine Gedanken, wie wichtig Therapie in der Haft ist, welch Defizite in der medizinischen Versorgung in unseren Gefängnissen bestehen und ob es überhaupt förderlich sein kann, den Freiheitsentzug in seiner bisherigen Form auch weiterhin als sinnvollstes Mittel der Strafe zu betrachten.

Dass die Mehrheit bei uns noch nicht für solche Differenzierungen offen ist, zeigen die vielen Reaktionen, ganz stellvertretend die der Gewerkschaft der Polizei. Sie kommt mit ihrer üblichen Forderung um die Ecke: Videoüberwachung in den Zellen sei jetzt erforderlich, meint sie. Dass aber auch Gefangene ein Recht auf Privatsphäre haben – und selbst dann, wenn sie als suizidal gelten – dürfte sich aus dem Grundgesetz bereits ableiten. Daher fragt man sich, warum nicht die bereits existierenden Maßnahmen angewendet werden, ehe wieder einmal Aktionismus aufgeboten wird: Sitzwachen sind ein adäquates Mittel, um Gefangenen in schwierigen Momenten eine Aufsicht an die Seite zu stellen, die schneller eingreifen kann, als eine Auszubildende, die Al-Bakr mehr zufällig gefunden hat. Doch auch hier gilt: Warum sollen Menschen mit Suizidabsichten nur beobachtet, ein Suizid durch Eingreifen erst "kurz vor zwölf" verhindert werden? Kaum jemand debattiert diese heikle Frage. Vielleicht ist es zu früh, denn nun muss erst einmal ins Bewusstsein dringen, welch wunde Stellen durch den Tod des Terrorverdächtigen getroffen wurden. Nein, nicht allein deshalb, um seine Pläne aufzudecken, und auch nicht, um zu fragen, ob er als Kleinkrimineller statt als potenzieller Massenmörder behandelt wurde, braucht es Aufklärung. Viel eher darum, was uns ein Leben abseits jeglicher Zuschreibungen bedeutet.