Kommentar

Relativiert Bundespräsident Gauck Luthers Antijudaismus?

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Bundespräsident Joachim Gauck
Bundespräsident Joachim Gauck

Kurz vor Ende seiner Amtszeit hat Bundespräsident in seinen alten Beruf zurückgefunden: Zum Auftakt des Reformationsjubiläums war er als Hauptredner beim staatlichen Festakt zu einem kirchlichen Ereignis eingeladen – gerechtfertigt mit der historischen Bedeutung der Vorgänge im Jahr 1517, als Martin Luther seine 95 Thesen an die Schlosskirche zu Wittenberg anbrachte. Und Gauck ließ sich diesen Anlass nicht nehmen, in Wortwahl und deutlicher Mission für den christlichen Glauben wieder als Pastor aufzutreten, die Berufung, die er wohl nie vollkommen verlassen hatte.

Wenngleich seine Darbietung eher ernst und nahezu müde wirkte, war sie über weite Strecken doch kaum von einer Predigt zu unterscheiden, von einer theologischen Ausarbeitung über den Begriff der "Gnade". Und auch die "Freiheit" durfte nicht fehlen: Obwohl Gauck bei dieser Passage eigens noch einmal seufzen musste, als ob ihn sein nicht erst durch 1989 lieb gewordenes Lebensthema und "roter Faden" durch seine bisherige Präsidentschaft mittlerweile auch selbst nerve, versuchte er einen Spagat der Übertragung christlicher hin zu einer weltlichen Freiheit, die unsere Gesellschaft brauche – und deshalb, mehr denn je, auf seine religiösen Ursprünge angewiesen sei.

Bewusst wendete sich der Bundespräsident immer wieder an die Christen im Land, forderte sie zur Mitwirkung und zum kritischen Dialog auf. Als ob es zu Beginn eines Lutherjahres nur noch eine Glaubensrichtung gebe, hob Gauck den Verdienst Luthers hervor, verwies allerdings auch auf die multireligiösen Herausforderungen. Humanisten oder gar Atheisten schienen an diesem Tag nicht zu Deutschland zu gehören. Denn es wurde keine Möglichkeit ausgelassen, die Verbindung von Staat und Kirche hervorzuheben, ihre Bedeutung zu unterstreichen, statt den säkularen Charakter der Bundesrepublik zu würdigen und eine weitere Trennung von Religion und weltlichem System einzufordern. Und obwohl der Bundespräsident einerseits verdeutlichte, dass es die Reformation war, die die Menschen zu skeptischem Nachfragen befähigte und die bis dorthin durch den Gedanken einer Käuflichkeit des eigenen Seelenheils geprägte Hingabe an die Kirche erstmals aufweichte, war es doch die Barmherzigkeit, die als theologischer Begriff weite Teile seiner Ausführung begleitete.

Aufhorchen lassen musste auch die Feststellung des Bundespräsidenten, dass der Antisemitismus von Martin Luther hinzunehmen sei, nicht zu untertreiben, aber eben auch nicht überzubewerten. Viel eher sei das Thema bereits in den letzten Jahren hinlänglich diskutiert worden. Es wirkte fast so, als wolle sich Gauck nicht erneut mit den schrecklichen Seiten dieses Reformators beschäftigen – aus Scham, aus Ignoranz oder auch aus Überdruss. Ähnlich, wie schon zuvor bei der ernannten Botschafterin der Evangelischen Kirche in Deutschland, Margot Käßmann, schien es, als wolle man dieses dunkle Kapitel nun endlich beiseitelegen – auch wenn man betonte, sich im kommenden Jahr nochmals mit den Einlassungen dieser großen Gestalt des Protestantismus zu befassen. Gleichsam hatte die frühere Bischöfin aber ebenso betont, dass man die Hassreden von Luther im Angesicht seines Altersstarrsinns betrachten müsse. Noch Jahrzehnte zuvor habe er sich positiv über das Judentum geäußert. Relativieren der Bundespräsident, relativiert die Kirche damit den Schatten dieser bedeutsamen Persönlichkeit aus der Angst heraus, seine enormen Verdienste könnten in den Hintergrund gestellt werden? Bewertet man wahre Tiraden gegen das jüdische Volk über, wenn diese sogar geeignet waren, durch den Nationalsozialismus als Bilderbuchvorlage für den Mord an Millionen missbraucht zu werden?

Luther hatte zweifelsohne ein offenkundig ambivalentes Verhältnis zum Judentum. Die bis heute in vielen christlichen Kreisen noch immer zum Programm gehörende Judenmission, der Versuch, jüdische Gläubige von Jesus als Messias zu überzeugen, fand wohl in den Überzeugungen des großen Reformators ihren Ursprung. Das Christentum als das alleinige Heil, es hat durchaus etwas Narzisstisches, vielleicht auch Wahnhaftes, was Luther hier trieb in seinem festen Gedankengut, dass allein in Christus die tatsächliche Erlösung zu erreichen sei. In Wahrheit grenzte er sich damit kaum von der Ideologie der Kirche ab, auch sie hatte ihr Tor zu Gott gefunden und es durch Drohungen in die Köpfe der Menschheit indoktriniert – den Geldbeutel. Dass es für eine Religion den einen Weg zur religiösen Erfülltheit geben mag, liegt in der Sache ihrer eigentlichen Definition. Gerade, weil man aber Luther auch nachsagt, er habe zu einer demokratischen Entwicklung beigetragen und Freiheiten geschaffen, ist es doch überaus anstößig, wenn diese Offenheit an der Grenze der eigenen Religion endet. Was auch auf dem Festakt mit jüdischen und muslimischen Vertretern als Religionsfreiheit gepriesen wurde, war bei Luther keinesfalls zu erkennen. Seine Auswüchse mit einer Altersverwirrtheit rechtfertigen zu wollen, ist ein billiger Versuch, ein Heldenbild vor jeder Antastbarkeit bewahren zu wollen. Sieht man sich den Verlauf seiner Schriften an, könnte man Luther viel eher eine Taktik zutrauen, die für damalige Zeiten schon recht beeindruckend gewesen ist. Antisemitische Töne fanden sich bereits in frühen Texten des Reformators, doch ließ er seine Ehrfurcht vor dem Judentum als Wiege des Christentums solange überwiegen, bis seine Fundamentalkritik schlussendlich darauf abzielte, einen christlichen Fundamentalismus zu etablieren, der dem Gedanken seiner Reformation als Neustart in völliger Bibeltreue entsprach. Nicht umsonst war es das Neue Testament als Auslöser für den Glauben an Jesus, das Luther mit besonderer Akribie übersetzte.

Wenn im Rahmen des nun startenden Reformationsjubiläums tatsächlich etwas überbewertet wird, sind es möglicherweise die Errungenschaften von Luther. Zwar war er der Erste, der die Bibel in eine bürgernahe und einheitliche deutsche Sprache gebracht hat. Übersetzungen gab es aber bereits lange vor seinem Werk. Und überhaupt waren die Gedanken eines Aufbruchs nicht neu: Spätestens mit Jan Hus war die grundlegende Kritik an den Kirchen formuliert worden, Calvin und Zwingli komplettierten diese. Luthers Thesenanschlag gilt als offizieller Beginn für die Spaltung, wenngleich der Reformator diese eigentlich gar nicht erringen wollte. Vielleicht war er gar mit manchem Enthusiasmus über die Ziellinie hinausgeschossen, wie dieser Tage offenbar nun auch der Bundespräsident, der sich nach seiner Rede doch viele Frage gefallen lassen muss. Ein Repräsentant aller Deutschen? Zumindest auf diesem Festakt nicht – im Übrigen auch nicht Staatsministerin Grütters, die sich gleichsam in ein Lobhudeln auf das Christentum einließ und vergaß, dass sie die Bundesregierung dieses gesamten Volkes vertritt, eben nicht nur der konfessionell gebundenen. Selten verschwammen religiöse und irdische Welt derart offenkundig, kaum zuvor wurde deutlicher, welche Abhängigkeiten von Seiten des Staates gegenüber der Kirche bestehen, wenn er sich derart anbiedert und sein Staatsoberhaupt auf die Kanzel stellt, um zu erklären, dass wir in Wahrheit doch eine christliche Leitkultur besitzen, in der wohl allein das Mitwirken derjenigen gewünscht ist, die sich über diese auch definieren. Zumindest für Joachim Gauck wünscht man sich dieser Tage, dass alsbald eine Nachfolge gefunden sein möge. Denn er ist augenscheinlich nicht mehr unser aller Präsident.