BERLIN. (hpd) Die Medien überbieten sich derzeit mit Analysen über die unerwartete Zunahme an Populismus und Demagogie in den Vereinigten Staaten. John Komlos hält den vollständige Glaubwürdigkeitsverlust des Establishments für ebenso bedeutsam. Dessen Angehörige führen die große Mehrheit ihrer Mitbürger seit über einer Generation an der Nase herum, und nun fällt Abraham Lincolns Warnung, man könne das auf Dauer nicht erfolgreich tun, mit Macht auf sie zurück.
Es hat eine Weile gedauert, bis sich das bei den Leuten herum gesprochen hatte und sie es schließlich nicht mehr hinnehmen wollten: 35 Jahre um genau zu sein. In diesen Jahren gab es keinen Mangel an großen Versprechungen, aber am Ende ließen sie die Mittelschicht alle mit immer schmaleren Geldbeuteln zurück, während die Apologeten der Versprechungen in Saus und Braus lebten. Die Liste der gescheiterten großen Ideen beginnt mit den sogenannten Reaganomics. Deren Steuerkürzungen sollten über stimulierende Effekte bis zu den breiten Massen durchsickern. Tatsächlich war der Geldregen jedoch zäh und klebrig, und blieb an den Reichen und Ultrareichen haften. Deren Steuern und Abgaben wurden signifikant verringert: etwa um die Hälfte. Man stelle sich einen Millionär vor, der in den 1970er Jahren noch 700.000 Dollar Steuern zahlte und plötzlich nur noch 350.000 Dollar zahlen musste. Was machte der jetzt bloß mit dem unverhofften Geldsegen? Selbstverständlich gab es manche, die das Geld für Luxusgüter ausgaben und herumprotzten. Viele entschieden jedoch stattdessen, Think Tanks zu finanzieren und Ökonomen einzustellen, um ihre Ideologie zu unterstützen. Andere kauften Politiker, um Gesetze zu beeinflussen und so ihre Anliegen voranzubringen.
Damit führten die Steuerkürzungen in einen Teufelskreis, der sich vom Geldregen für die Reichen zu mehr politischem und medialem Einfluss, und dadurch wieder zu noch mehr Profit und Macht weiterdrehte. Nach Reagan folgte Bush Senior. Der initiierte das NAFTA (Freihandelsabkommen zwischen den USA, Mexiko und Kanada), das später von Clinton in geltendes Recht überführt wurde. Letzterer versprach, NAFTA würde zu mehr Wachstum, mehr Gleichheit, und allein 1995 zu 200.000 neuen Arbeitsplätzen in den USA führen. Er vergaß natürlich zu erwähnen, wie viele hunderttausend andere Jobs zugleich verloren gehen würden, aber nur wenige machten damals auf solche Feinheiten aufmerksam.
Clintons Beraterstab in Wirtschaftsfragen wurde von Goldman Sachs- CEO Bob Rubin geleitet. (Goldman Sachs ist in Washington gut vernetzt. Auch Hank Paulson wurde von dort losgeschickt, um der Regierung Bush Junior zur Hand zu gehen). Niemand hat jemals behauptet, NAFTA wäre gut für alle. Im Zusammenspiel mit der Globalisierung, inklusive des Eintritts Chinas in die Weltmärkte, richteten die Handelsabkommen den amerikanischen Produktionssektor und mit ihm den Mittelstand zugrunde. Die Auswirkungen bestehen fort: erst vor kurzem verkündete der Klimaanlagenbauer Carrier zur großen Enttäuschung seiner Angestellten, 1500 Arbeitsplätze nach Mexiko zu verlegen.
Eine weitere große Idee, die gut für alle Amerikaner sein sollte, war die Deregulierung der Finanzmärkte. Und wieder war sie nur gut für die Eliten. Ernsthaft angestoßen zu Zeiten Reagans, wurde das Vorhaben von Clinton fortgeführt, der die Gesetze der New-Deal-Ära unter Roosevelt „antiquiert“ nannte und den Glass-Steagall-Act aufhob, der Geschäftsbanken das vom Steuerzahler besicherte Spekulieren an der Wall Street verbot. Die neue Gesetzeslage sollte „allen amerikanischen Konsumenten, Gemeinden und Unternehmen aller Größen“ zugute kommen. Man achte auf die auffällige Abwesenheit von „amerikanischen Arbeitnehmern“ in der Aufzählung. Während der feierlichen Unterzeichnung der neuen Gesetze sagte Clinton in bemerkenswerter Kurzsichtigkeit, nun werde der Finanzsektor modernisiert und die antiquierten Mauern und Wälle niedergerissen. Und so setzten wir uns langsam in Bewegung in Richtung Finanzkrise 2008, die schlimmsten Schaden in der Mittelschicht angerichtet hat.
Die Politik Bush Juniors stand unter einem ähnlichen Stern. Er machte weiter mit der Deregulierung, kürzte Steuern für die 1%, und verschloss die Augen vor der sich zusammenbrauenden Krise. Als der Zusammenbruch kam, überschüttete das Establishment die großen Banken und deren CEOs mit Großzügigkeiten und Milliarden an Dollar, ohne Gegenleistungen zu verlangen. Für die normalen Leute blieb nichts übrig, sie mussten nach sich selbst schauen. Sie verloren Arbeitsstellen, ihre Häuser wurden geräumt, oder sie mussten sich mit (natürlich befristeten) Niedriglohnjobs durchschlagen - am besten gleich mit zwei. Niemand erbarmte sich dieser Leute.
Dann kam Obama. Er versprach Wandel, führte im Wesentlichen jedoch die Politik seiner Vorgänger fort. Er stellte zum Beispiel Tim Geithner ein, Kumpel von Goldman Sachs- CEO Bob Rubin, der bereits unter Bush Jr. tätig war und mittlerweile für geschätzte 5 Millionen Dollar an der Wall Street arbeitet. Obama stellte großzügige Bailoutgelder zur Verfügung, die sich bis Ende der Finanzkrise auf mehrere Billionen Dollar summierten und der Wirtschaft wieder auf die Beine helfen sollten. Aber wieder wurde die Mittelschicht verraten. Jamie Dimon, CEO von JP Morgan Chase, strich natürlich auch 2009 mit freundlicher Unterstützung der Steuerzahler ca. 17 Millionen Dollar ein. Bis zur breiten Masse sickerte jedoch auch dieses Mal nichts durch. Noch nie in der Geschichte der Menschheit haben so wenige auf Kosten so vieler profitiert: nicht einmal damals, als die Pharaonen die Pyramiden bauen ließen.
Die unten dargestellte Grafik zeigt diese Entwicklung deutlich. Jeder Balken auf der linken Seite ("Quintiles") steht für das inflationsbereinigte Einkommen nach Steuern von einem Fünftel der 120 Millionen Haushalte der USA, inklusive Transferleistungen wie Essensmarken und Arbeitslosengeld. Jeder Balken steh also für 24 Millionen Haushalte (darin jeweils ca. 64 Millionen Menschen). Die Grafik zeigt klar, dass das oberste Fünftel den größten und einzig spürbaren Einkommenszuwachs zu verzeichnen hatte. Ein wenig sickerte bis zum vierten Fünftel durch. Dieses steht für die obere Mittelschicht, aber ein Einkommenszuwachs von 0,5% pro Jahr ist eigentlich nicht der Rede wert. In ganzen Zahlen macht das etwa 300 Dollar pro Jahr: kaum genug, um die eigene Zufriedenheit steigen zu spüren.
Die ärmsten 20% der Bevölkerung (der erste Balken) bekamen ihre Essensmarken um zu verhindern, dass sie hungern, denn das hätte die Gesellschaft als Ganzes destabilisieren können. Mit einem Jahresdurchschnittseinkommen von 18.000 Dollar blieb ihnen trotzdem nichts außer ihrer Unzufriedenheit. 18.000 Dollar kostet es, sein Kind auf eine staatliche Universität zu schicken. Das ist armen Familien also nur möglich, wenn sie im übrigen ohne Geld leben. Den zwei Mittelschicht-Gruppen von 21-60% erging es offensichtlich noch schlechter: deren Einkommenszuwachs lässt sich nur schwer von null unterscheiden. Tatsächlich hatte die mittlere Mittelschicht (Balken drei) in den 32 Jahren des Untersuchungszeitraums eine Einkommenssteigerung von gerade einmal 32 Dollar pro Jahr.
Die Aushöhlung der Mittelschicht wird aus der linken Seite der Grafik also mehr als deutlich. Auf der rechten Seite wird nun das oberste Fünftel noch einmal in vier Gruppen aufgeteilt. Daraus ergibt sich, dass das oberste 1% der mit Abstand größte Nutznießer des Wirtschaftswachstums war. Gewiss sickerten Teile von dort herab, aber nur auf die anderen Gruppen innerhalb der obersten 20%. Dort wird der Geldregen zäh und bleibt hängen.
Die Wut, die die Unterstützer von Donald Trumps Präsidentschaftskampagne antreibt, geht jedoch noch tiefer, als diese Grafik andeutet. Denn für diese Wut ist der Einkommensvergleich entscheidend, sowie der offensichtlich ungerechte Bailout 2008, der die Vermögen der 1% rettete. Es ist eine Sache, sich kein iPhone leisten zu können, wenn es auch kein anderer kann, aber etwas völlig anderes, wenn Superreiche gleichzeitig nicht nur das neueste iPhone, sondern auch ihre 3000-Dollar-Handtaschen, Privatflugzeuge, Jachten und ihren sonstigen Protz zur Schau stellen. Dann wird Neid zur Verzweiflung, insbesondere wenn man selbst sich um seinen Arbeitsplatz sorgt, Rechnungen nicht bezahlt sind, der Studienkredit auch nicht, das Konto ins Minus rutscht und man all das mit einem Teilzeit- oder Niedriglohnjob stemmen soll. Ich denke deshalb, dass die folgende Grafik die Veränderungen des Wohlstands der fünf Einkommensgruppen genauer abbildet.
Die Psychologie hat gezeigt, dass unsere Lebenszufriedenheit von unserer sozialen Umgebung abhängt. Die Grafik nimmt an, dass alle Gruppen die fünfte Gruppe der Reichen als Referenz nehmen, mit der sie sich vergleichen. Diese Grafik beinhaltet den wahren Schlüssel für den Erfolg von Trump. Der Wohlstand ist gefallen für alle Gruppen außer den Superreichen. So einfach ist das. Der große Rest der Gesellschaft wurde seit über einer Generation abgehängt.
In der Summe hatten wir also eine lange Reihe großer Versprechungen von Reagan bis Obama. Steuerkürzungen, Durchsicker-Ökonomie, Deregulierung, Globalisierung und Freihandelsabkommen, die alle nur der Gruppe der Superreichen große finanzielle Vorteile gebracht und die Mittelschicht ausgedünnt haben. Dadurch haben sich Reichtum und politische Macht ebenso stark konzentriert, wie zu Zeiten der Trusts und Ölbarone Anfang des 20. Jahrhunderts.
Nun wissen Sie, warum sich so viele Leute Donald Trump zuwenden. Das Establishment war gut darin, große Versprechen zu machen, aber am Ende blieb für die Mittelklasse nicht mehr übrig als ein paar Krümel. Die Eliten sind erstaunt. Sie verstehen nicht, was passiert, weil sie längst keinen Kontakt mehr haben zum Alltag ihres Landes. Dieser Vorgang lässt sich als Regel verallgemeinern: Eliten sind ständig in Gefahr, Opfer ihrer eigenen Gier zu werden. Es ist auch nicht ungewöhnlich, bis zur letzten Minute losgelöst zu sein von der Realität des eigenen Volkes. Ludwig XVI. proklamierte noch unmittelbar vor seiner Exekution, dass er immer nur durch die Liebe seiner Untertanen gehandelt habe. Und auch Mitt Romney bildet sich ein, das amerikanische Volk wolle ihm immer noch zuhören. Unglaublich!
Übersetzt von Ralph Zumkley, Erstveröffentlichung: norberthaering.de/de
3 Kommentare
Kommentare
Wolfgang am Permanenter Link
Früher feierte man Karneval, heute gibt es einen "Donald" Trump.
Schon bei dem Vornamen Donald müsste es doch in den Gehirnen
Oliver am Permanenter Link
@Wolfgang: Der Name Donald?
Wie wäre es mit Mickey?
Hmhhh, aber müsste er nicht eigentlich Dagobert heissen? ;-)
Auf jeden Fall ist es für den Wahlkampf hilfreich, wenn man die Wähler auf ihrem Niveau anspricht (entweder bewusst als Strategie, oder weil nicht mehr geht ;-))
Zum sprachlichen Niveau, siehe hier:
US-Wahlkampf: Politiker sprechen wie Siebtklässler
Donald Trump liegt in der Grammatik fast auf Grundschulniveau
http://www.scinexx.de/wissen-aktuell-19979-2016-03-21.html
pavlovic am Permanenter Link
Sehr schöner Artikel. Vielen Dank!