Interview mit Thomas von der Osten-Sacken

Die weibliche Genitalverstümmelung hat auch etwas mit dem Islam zu tun

Welche Rolle spielt der Islam bei der weiblichen Genitalverstümmelung (FGM)? Und welche politische Reaktionen sind notwendig? Über diese und andere Fragen sprach der hpd mit Thomas von der Osten-Sacken, Geschäftsführer der Menschenrechtsorganisation WADI.

hpd: Erst vor kurzem wurde in Somaliland eine Fatwa zur weiblichen Genitalverstümmelung erlassen. Sie kritisieren diese Verlautbarung. Wieso? 

Osten-Sacken: Die Fatwa ist international begrüßt worden, weil sie sich angeblich gegen Genitalverstümmelung bei Mädchen richtet. Nur handelt es sich dabei ganz offensichtlich um ein großes Missverständnis. Denn auf der einen Seite wird das Wegschneiden aller äußeren Geschlechtsmerkmale verurteilt, auf der anderen Seite wird aber erklärt, dass das Verstümmeln der Klitoris oder der Klitorisvorhaut vorgeschrieben und auch gut sei. Es sei keine "Verstümmelung", die man selbst ja auch ablehne, sondern eine "Beschneidung", wie sie auch bei Jungen praktiziert werde. Damit gehen gewisse muslimische Organisationen seit einiger Zeit in die Offensive, indem sie argumentieren, dass es sich dabei nur um einen "kleinen Schnitt" handelt, der medizinisch kein Problem sei. 

Welche Konsequenzen könnte diese Fatwa haben?

Es steht zu befürchten, dass diese Fatwa in anderen Ländern Schule macht und sich ein solcher Diskurs durchsetzen könnte. So müssen wir in Indonesien, Ägypten, aber auch in Europa feststellen, dass es die Tendenz gibt, die weibliche Genitalverstümmelung von der "Beschneidung" zu trennen. 

Erst vor kurzem wurde genau dieser Vorstoß vom Islamischen Zentralrat in der Schweiz gemacht, um zu sehen, wie reagiert wird. Dieser Zentralrat ist zwar nicht repräsentativ für die Schweizer Muslime, sondern eher eine salafistische Krawalltruppe. Trotzdem ist aber zu bemerken, dass es diese Strömung gibt, die gerade auch angesichts der Gesetzgebung in Deutschland gefährlich werden könnte. Und interessanterweise gibt es seitens anderer islamischer Organisationen keine nennenswerten Reaktionen auf diese Vorstöße.

Sie warnen also davor, dass das Gesetz zur sogenannten Knabenbeschneidung in Deutschland zur Bagatellisierung der weiblichen Genitalverstümmelung führen könnte?

Ja, natürlich. Diesbezüglich gibt es nämlich keinen Unterschied zwischen Schafiiten, die sich für die weibliche 'Beschneidung' aussprechen, und Juden oder Muslimen, die die Beschneidung bei Jungen fordern. Und wir haben damals immer vor diesem Gesetz gewarnt, da es eine Hintertür aufmacht. Denn wenn man die Beschneidung von Jungen aus religiösen Gründen legitimiert und legalisiert, ist es leider schwer zu begründen, warum sie bei Mädchen verboten werden sollte. Es kann nämlich nachgewiesen werden, dass die Beschneidung der Klitorisvorhaut, wenn sie unter chirurgischen Bedingungen im Krankenhaus stattfindet, medizinisch ganz ähnliche Auswirkungen hat wie die Beschneidung der Vorhaut von Jungen. 

Dabei finden die meisten dieser Genitalverstümmelungen nicht unter Vollnarkose mit ausgebildeten Chirurgen in Krankenhäusern statt, sondern sie werden meistens unhygienisch von miserabel ausgebildeten Hebammen durchgeführt, die mit Rasierklingen, Fingernägeln und Nagelscheren rumschneiden und das ganze dann mit heißer Asche "desinfizieren". In der Praxis handelt es sich also immer um eine ganz barbarische Verstümmelung von Mädchen.

Auf welcher Grundlage wird die weibliche Genitalverstümmelung religiös abgeleitet? 

Abgeleitet wird sie vor allem von der schafiitischen Rechtsschule, die sich auf eine Überlieferung der Hadith-Sammlung Sunan Abu Dawud bezieht. Darin trifft Mohammed auf eine Frau, die gerade eine Beschneidung durchführt und die ihn fragt, was sie beschneiden soll und was nicht. Mohammed erklärt ihr, dass sie nicht zu viel, aber auch nicht zu wenig beschneiden soll. Daraus leitet die schafiitische Rechtsschule die sogenannte "Sunnat-Beschneidung" ab, also das Abschneiden der Klitoris oder der Klitorisvorhaut. Und überall, wo diese Rechtsschule dominant ist, also etwa in Gegenden und Ländern wie Irakisch-Kurdistan, Ägypten, Somalia und Indonesien, hat man extrem hohe hohe Zahlen von verstümmelten Mädchen. 

Dabei wird die weibliche Genitalverstümmelung hauptsächlich als afrikanisches Problem wahrgenommen…

Ja, lange Zeit hieß es, dass die weibliche Genitalverstümmelung nichts mit dem Islam zu tun habe, sondern nur mit Tradition und Kultur. Das ist natürlich Unsinn. So wird FGM in Asien fast ausschließlich von Muslimen praktiziert. Und interessanterweise ist es so, dass es sehr lange gedauert hat, bis erkannt wurde, dass FGM auch in asiatischen Ländern ein großes Problem ist. Erst im Jahr 2016 hat die UN endlich zugestanden, dass ihre alten Zahlen überhaupt nicht adäquat gewesen sind, weil sie sich immer nur auf Afrika bezogen haben. Sie spricht nun von 200 Millionen betroffenen Mädchen und Frauen weltweit, während vorher immer nur von 120 - 130 Millionen Betroffenen die Rede war.

Der Verein Wadi e.V., bei dem Sie Geschäftsführer sind, hat vor einigen Jahren herausgefunden, dass FGM auch in Irakisch-Kurdistan praktiziert wird. Wie seid ihr darauf aufmerksam geworden? 

Wir sind auf das Thema eigentlich per Zufall gestoßen. Lokale Mitarbeiterinnen von uns, die in mobilen Teams in Dörfern in der Region Germian arbeiteten, wurden 2003 auf dieses Problem aufmerksam. Nach Monaten hat sich dann ein Vertrauensverhältnis zu diesen Menschen aufgebaut. Und dann haben Frauen aus den Dörfern berichtet, dass sie ein Problem mit der Genitalverstümmelung haben und gefragt, was man dagegen tun kann. Wir waren völlig überrascht, denn davon hatte vorher nie irgendjemand geredet. Es war ein absolutes Tabuthema. Und als wir dann davon erfahren haben, haben wir entschieden, dass etwas dagegen getan werden muss.

Nämlich?

Unsere Kampagne hatte zwei Stoßrichtungen. Zunächst war es wichtig, das Problem international bekannt zu machen. Wir haben uns daher an Medien und andere Organisationen gewendet und mussten natürlich Zahlen vorlegen. Dazu haben wir zwei relativ große Felduntersuchungen durchgeführt, in denen tausende von Frauen befragt worden sind. Die Ergebnisse waren drastisch: In einigen Regionen in Irakisch-Kurdistan waren mindestens 80 Prozent der Frauen und Mädchen genitalverstümmelt. 

Zeitgleich haben wir die StopFGMKurdistan gestartet, die mit Aufklärungsarbeit vor Ort angefangen hat. Es wurde ein Film gedreht und unsere Mitarbeiterinnen sind in Dörfer gefahren, um mit den Frauen über die negativen Auswirkungen der Genitalverstümmelung zu reden. Neben einer Medienkampagne haben wir dann Unterschriftensammlungen durchgeführt, bei denen 30.000 Unterschriften zusammenkamen. Diese haben wir dem Parlament übergeben und ein gesetzliches Verbot der Genitalverstümmelung gefordert. 2011 wurde dann die weibliche Genitalverstümmelung in Irakisch-Kurdistan per Gesetz verboten. Und auch über die Grenzen des Irak hinaus hatte die Kampagne eine große Wirkung. Wir haben heute Partner im Iran, in Malaysia, in Indonesien und im Oman. 

Gab es Widerstände gegen eure Aufklärungsarbeit? 

Ja, es gab eine ganze Fülle von Verteidigungen und vermeintlichen Argumenten. So erklärten viele Frauen und Männer in den Dörfern, dass man das Essen einer unbeschnittenen Frau nicht essen dürfe, da es "haram" sei. Auch wurde gesagt, dass unbeschnittene Frauen eine starke Libido und daher ungeregelten Geschlechtsverkehr haben. Zudem stellten sich viele Kleriker gegen unsere Kampagne.

Doch trotz aller Widerstände war unsere Kampagne recht erfolgreich. Denn überall dort, wo gegen die Genitalverstümmelung vorgegangen worden ist und aufgeklärt wurde, ist die Quote von beschnittenen Mädchen zurückgegangen. 

Zuletzt: Welche politische Reaktion erhoffen Sie sich bei dem Thema? 

Nun, jahrelang haben nicht nur islamische Organisationen, sondern auch Menschenrechtsorganisationen gesagt, dass die Genitalverstümmelung nichts mit dem Islam zu tun habe, obwohl es ganz offensichtlich etwas mit der Religion zu tun hat. Und jeder, der das thematisierte, wurde als "islamophob" bezeichnet. Diese Organisationen müssten endlich mal Stellung beziehen, damit am Ende nicht die Mädchen den Preis dafür bezahlen müssen. 

Zudem ist das Thema immer noch nicht in dem Ausmaß auf der politischen Agenda, wie es das sein müsste. Dabei ist es neuerdings auch ein Thema, das gerne von AfD und Neuen Rechten instrumentalisiert wird und wo es fraglich ist, ob das sehr konstruktiv ist. 

Vielen Dank für das Interview!


Zur Person: Thomas von der Osten-Sacken ist Geschäftsführer der Hilfsorganisation Wadi e. V. und als solcher seit über 20 Jahren regelmäßig im Nahen Osten unterwegs. Er ist freier Publizist und schreibt u. a. für die Jungle World und Die Welt