Die Erfindung des Terrorismus im 19. Jahrhundert – eine Studie

Die Historikerin Carola Dietze rekonstruiert in ihrer Studie "Die Erfindung des Terrorismus in Europa, Russland und den USA 1858-1866" das im Titel Gemeinte anhand von fünf ausführlichen Fallstudien. Die Autorin beschränkt sich aber nicht nur auf eine Darstellung der Ereignisse, sondern bettet sie in ein ausdifferenziertes Analyseraster mit hohem Erkenntnisgewinn ein.

Die Aktualität des Themas "Terrorismus" ist nahezu tagtäglich in den Nachrichten auszumachen. Doch wann, warum und wie entstand diese besondere Form von politisch motivierter Gewaltanwendung? Die Historikerin Carola Dietze antwortet auf den ersten Teil dieser Frage mit: zwischen 1858 und 1866. Dies geschieht in einer voluminösen Studie mit dem Titel "Die Erfindung des Terrorismus in Europa, Russland und den USA 1858-1866". In deren Mittelpunkt steht die ausführliche Darstellung und Erörterung von fünf Fallstudien, wobei Biographieforschung, Ideengeschichte, Medien- und Sozialwissenschaft miteinander verknüpft werden. Es geht dabei um Felice Orsini, der 1858 ein Attentat auf Napoleon III. verübte, John Brown, der 1859 einen Überfall auf das Arsenal der US-Armee in Harpers Ferry beging, Oskar Wilhelm Becker, der 1861 einen Anschlag auf den preußischen König Wilhelm I. durchführte, John Wilkes Booth, der 1865 Abraham Lincoln ermordete, und Dmitrij V. Karakozov, der 1866 einen Anschlag auf Zar Aleksandr II. versuchte.

Die Autorin berichtet indessen nicht nur über diese Ereignisse, sondern betten deren Beschreibung in ein ausdifferenziertes Untersuchungsraster ein. Um dies zu entfalten, benötigt sie allein schon 100 Seiten der 750seitigen Studie. Dies erweist sich aber auch als notwendig, geht es doch nicht nur um eine Aneinanderreihung von Fakten. Denn es sollen die Gemeinsamkeiten und Unterschiede sowohl der Rahmenbedingungen wie der Taten vergleichend erörtert werden. Demgemäss behandelt sie zunächst abstrakt wie historisch Begriff, Handlungslogik, Ursachen und Wirkungen des Terrorismus. Dabei betrachtet Dietze den bisherigen Forschungsstand, um daraus Anregungen für ihre eigene Untersuchungen zu gewinnen. Bei ihr kommt neben dem Agieren der Gewalttäter im engeren Sinne noch die Dimension der Kommunikation über die Medien hinzu. Denn Dietze will ihre Auffassung belegen, wonach die Attentate wie in einer Ereigniskette voneinander eine Initiierung erfuhren. Gleichwohl beschränkt sich ihre Deutung nicht auf Einflüsse auf die Taten.

Denn es gibt für die Autorin noch weit darüber hinausgehende Gemeinsamkeiten: Alle Akteure knüpften erstens an das Erbe der Amerikanischen und Französischen Revolution an. Sie reagierten zweitens auf politische Blockaden in ihren Gesellschaften. Und drittens strebten sie eine Kommunikation ihrer Taten über die Medien an. Dieser letztgenannte Aspekt erklärt, warum es zwei kürzere Kapitel zur "Transatlantischen Kommunikation" gibt. Dietze betrachtet die Berichterstattung über Orsinis Attentat in den USA, die auch Brown inspiriert habe, und danach ebenfalls die Berichterstattung zum Überfall Browns auf Harpers Fery in Europa, welche die dortige Gewaltakteure wie Becker und Karakozov motiviert habe. Die Autorin geht von eine Erfindung des Terrorismus als einem wechselhaften Prozess aus: "Eine überschaubare Gruppe von Akteuren in Europa, den USA und Russland brachte innerhalb weniger Jahre in einem transnationalen, seriell-kollektiven Lernprozess eine neue Form politischer Gewalt hervor, die wir heute als Terrorismus bezeichnen" (S. 629).

Die Arbeit beeindruckt gleich aus mehreren Gründen: Zunächst arbeitet Dietze die erwähnten Ereignisse aus einer Fülle von historischen Quellen detailreich auf. Bei dem Fall Becker leistet sie hier Pionierarbeit, bei dem Fall Brown fehlte eine derart akribische Aufarbeitung zumindest im deutschsprachigen Raum. Die Autorin bleibt aber nicht auf dieser Ebene stehen und dies macht ihre geschichts- dann letztendlich zu einer politikwissenschaftlichen Arbeit. Mit einem breit entwickelten Analyseansatz nimmt sie eine differenzierte Betrachtung der Gemeinsamkeiten und Unterschiede vor. Gerade dadurch hat man es mit einer imponierenden Analyse- und Forschungsleistung zu tun. Kritische Anmerkungen beziehen sich dann eher auf Details: Ist Browns Agieren doch nicht mehr das eines Guerilla denn eines Terroristen gewesen? Passt Booths Mord an Lincoln immer ins ideengeschichtliche Schema? Und wie stand es damals um die heute so bedeutsame Form des religiösen Terrorismus? Diese Detailkritik mindert aber nicht die Forschungsleistung in der Gesamtschau.

Carola Dietze, Die Erfindung des Terrorismus in Europa, Russland und den USA 1858-1866, Hamburg 2016 (Hamburger Edition), 750 S., ISBN 978-3-86854-299-8, 42,00 Euro