Evolution, Sex und Religion

BERLIN. (hpd) Schon immer hat den Autor des Artikels eine Auffälligkeit der Religionssysteme interessiert, nämlich ihre Fixierung auf das Geschlechtliche. Kaum ein religiöser Gesetzesbereich ist so reglementiert und durch Strafandrohung eingeengt wie die Sexualität, vor allem die der Frauen.

Darüber ist viel geschrieben worden. Wo die Emanzipation der Frau weit fortgeschritten ist, wurde viel von den archaischen Gesetzen des Alten Testaments über Bord geworfen. Wo die alten "heiligen" Bücher und Sitten noch dominieren, hat sich nicht viel verändert. Den sehr langsamen Entwicklungen im indischen und chinesischen Bereich stehen rückwärts gerichtete, fundamentalistische Strömungen insbesondere in der islamischen Welt gegenüber, aber auch in christlichen Gesellschaften der USA oder Afrikas.

Ich habe immer gedacht, die Religionen und ihre Priester hätten die Sexualität deshalb mit Vorliebe unterdrückt, weil der Mensch dann sündig wird und als Sünder besser beherrscht werden kann. Nun scheint mir einiges dafür zu sprechen, dass die gesellschaftlichen Regeln zur Sexualität älter sein könnten als die Religionen, dass die Unterdrückung insbesondere der weiblichen Sexualität biologisch-evolutionäre Wurzeln hat. Die Religionen hätten dann diese Sex-Fixierung "nur" übernommen, ihrer hohen Bedeutung für das Herrschaftssystem wegen aber bereitwillig in den Mittelpunkt ihrer Regeln gestellt.

Die Weitergabe der Gene ist ein zentrales Element der Evolution. Der Mensch ist Erbe dieser Entwicklung, er steht selbst in diesem Prozess. Mag er sich auch kulturell von biologischen Evolutionsstrategien befreit fühlen, er ist es nicht. Als religiöse Vorstellungen aufkamen, dürfte der Mensch in Horden gelebt haben. Jagd war die Ernährungsgrundlage, Jagd war Sache des Mannes, der Mann war der Frau körperlich überlegen. Das führte in fast allen Fällen zu patriarchalischen Ordnungen innerhalb der Gruppen.

Schon lange vor dem Aufkommen religiöser Systeme muss es für den Urmenschen eine zentrale Lebensaufgabe gewesen sein, den richtigen Partner zur Fortpflanzung zu finden und seine Gene zu streuen; denn so war es schon bei seinen tierischen Vorfahren. Er dürfte erste Regeln geschaffen haben, diesen Bereich so zu ordnen, dass innerhalb der Gruppe Streit und Gewalt verhindert werden konnten.

Mit der Religion kam die Vorstellung von Göttern, die über Mensch und Welt wachten und herrschten. Was immer die Horde, der Stamm an Regeln entwickelt hatte, es wurde an den behaupteten Willen der Götter gebunden, um heilig und unverletzlich zu werden.

Wo auch immer die Vorstellung von Göttern herkam, ihre Funktion war immer dieselbe: sie hatten nach Aussage der Schamanen, Priester etc. die Regeln und Rituale befohlen, nach denen die Menschen zu leben hatten. Diese Götter waren zu (ver)ehren, ihre Herrschaft gab jeder menschlichen Herrschaft Legitimität. In diese Ordnung war der Schutz des Eigentums einzubauen, und dabei war wiederum das Eigentum an Frauen und Töchtern von höchster Bedeutung (letztere als Tauschobjekt und Bündnissicherung durch Verschwägerung).

Dementsprechend dürfte es in hohem Interesse der Männer gelegen haben, auch die Regeln der Sexualität zu einem zentralen Element göttlicher Vorschriften zu machen – und zwar so, dass ihre Herrschaft über die Sexualität der Frauen religiös verankert wurde.

So wird verständlich, dass fast alle Religionen den Bereich der Sexualität und Fortpflanzung im Sinne männlicher Ansprüche geregelt haben. Sexuelle Vorschriften für den Mann betrafen meist nur die Verdammung von Homosexualität und Onanie – zwei sexuelle Praktiken, die nicht zur Fortpflanzung und Stärkung des Stammes führen. Das alles findet sich in den Büchern Moses ebenso wie im Koran, aber auch in Kulturen ohne solche heiligen Schriften, etwa im hinduistischen Indien, dem wenig religiösen China und buddhistischen Kulturen, weil diese Regeln eben vor der Entwicklung der Religionen entstanden waren.

Meines Erachtens weisen auch Forderung nach vielen Kindern bei religiösen Fundamentalisten sowie die Vielweiberei auf die biologischen Wurzeln aus vorhominider Zeit. Auch die Universalität der Sex-Fixierung aller Religionen kann als Beleg gewertet werden, dass dieses Zentralelement der gesellschaftlichen Ordnung schon vor der Ausbildung der Religionssysteme existierte, weil es ein zentrales Element auch der Evolution ist.

Mit dem Eigentum an Frauen und Töchtern war das Eigentum an anderen Dingen eng verknüpft - möglicherweise weil dieses Eigentum etwa an Land und Vieh an die eigenen Kinder weitergegeben werden sollte, nicht etwa an Kuckuckskinder, die die Frau aus einer anderen Beziehung hätte haben und unterschieben können. Bezeichnenderweise fasst das 10. Gebot des Moses Frau, Vieh, Gesinde etc. in einen zu schützenden Eigentumsbegriff zusammen, wie es die Calvinisten noch unverfälscht beibehalten haben.

Wie zentral die Sexualitätsge- und verbote innerhalb der religiösen Moral sind, zeigte eine Studie, von der Michael McCullough kürzlich in der Süddeutschen Zeitung berichtet hat. Es zeigte sich bei der Einhaltung der zahlreichen, religiös verankerten moralischen Gebote, dass bei streng religiösen Menschen die Einhaltung der sexuellen Moralvorstellungen sehr viel genauer genommen wird als die Befolgung anderer Ge- und Verbote, etwa Ehrlichkeit und Liebe zum Mitmenschen. McCullough hält die These für keinesfalls abwegig, dass es bei Religion sogar hauptsächlich um Sex geht.

Vieles, was in den Religionen so aus früherer Zeit aufgenommen worden ist, hat sich verselbstständigt und verkrustet. Es wird von den Glaubensoberen weiter verteidigt, weil man es nun einmal als Gottes Gebot (oder das eines Propheten) verkündet hat und aus dieser Selbst-Einmauerung nicht mehr herauskommt – ja, auch gar nicht herauskommen will, weil man dann Irrtümer einräumen müsste, die die Aura des Klerus zerstören würde, Gottes unmittelbare Gesetze zu kennen.

Für die Milliarden von Menschen, insbesondere Frauen, die als Folge eines wesentlichen Teils freien Lebens beraubt bleiben, ist es allerdings gleichgültig, welche Gründe die Kleriker aller Religionen haben, sexfixiert Freiheitsberaubung zu begehen, ja besessen zu sein von der Idee, Sex sei das Einfallstor des Satans.