Vor 50 Jahren starb Otto Dibelius, der langjährige EKD-Vorsitzende und Bischof von Berlin-Brandenburg. Sein Name steht für eine schwere Gedächtnislücke in der evangelischen Kirche.
Militärseelsorgevertrag
Als EKD-Ratsvorsitzender sollte Dibelius in den Fünfzigerjahren die evangelische Kirche fest an der Seite Adenauers positionieren, für Westintegration und Wiederbewaffnung.
Zum historischen Gepäck, das Otto Dibelius bei seinem Tod zurückgelassen hat, gehört auch der bis heute gültige Militärseelsorgevertrag. Auf einer außerordentlichen Synode der EKD am 29. Juni 1956 hatte die Mehrheit der Synodalen noch gefordert, "endgültige Maßnahmen zur Ordnung der Militärseelsorge nicht zu treffen". Dibelius setzte sich im Jahr darauf über das Votum hinweg und unterzeichnete am 22. Februar 1957 den Vertrag (der im Übrigen in keiner Weise regelte, was unter dem Begriff Militärseelsorge konkret zu verstehen war) – ein aus kirchenhistorischer Sicht ungeheuerer Vorgang. Die EKD war und ist nach dem Willen ihrer Gründer keine Kirche, sondern lediglich ein Kirchenbund. Kirchengesetzliche Bestimmungen mit Wirkung für die Gliedkirchen kann die EKD nur mit deren Zustimmung erlassen. Wie der Theologe Jens Müller-Kent in seiner Dissertation zur Militärseelsorge konstatiert, schuf der Rat der EKD mit seinen Entscheidungen zur Militärseelsorge Tatsachen, "die die landeskirchliche und synodale Willensbildung außer Kraft setzten". Dass der Rat der EKD dann auch noch den Beschluss der Synode von 1956 völlig ignoriert habe, sei Ausdruck einer besonderen Geringschätzung gewesen. Der SED hätte man für ihre Kirchenpolitik keinen besseren Hebel in die Hand geben können. Die EKD konnte fortan nach Belieben als NATO-Kirche denunziert werden.
Die Evangelischen Kirchen in Deutschland, allen voran der EKD-Ratsvorsitzende Dibelius, hatten es endgültig versäumt, die Regierungen beider Staaten zu Verhandlungen zu drängen. Wenn auch für die Bonner Regierung nicht beides, die Westoption und eine erfolgreiche Wiedervereinigungspolitik, in Einklang zu bringen war, hätte der Rat der EKD seiner ursprünglichen Haltung aus dem Jahr 1950 durchaus treu bleiben können: "Deutsche Brüder und Schwestern: Redet Gutes voneinander, auch über den Eisernen Vorhang hinweg! Vertraut einander und haltet Gemeinschaft miteinander!"
"…weil Geld und Material für die Frauenbataillone gebraucht werden"
In der evangelischen Kirche in Erinnerung geblieben ist Dibelius vor allem durch seine strikte Ablehnung der SED-Diktatur. Im Ringen für die Menschenrechte verschickte der Bischof schon mal Briefe an Stalin und Grotewohl, in denen er nicht nur Gesetzlichkeit, sondern auch Recht einforderte. Seine Predigten sind Legende. An der SED-Diktatur missbilligte Otto Dibelius sogar die StVO: "Wenn ich in der sogenannten freien Welt einem Straßenschild begegne, das mich nötigen will nur 15 km zu fahren, dann werde ich mich ohne weiteres danach richten. Denn ich weiß, dass diese Vorschrift für alle gilt (…). Indem ich aber dasselbe Schild auf einer Autobahn der DDR sehe, rast schon ein russisches Auto mit 100 Sachen an mir vorbei, von einem ostzonalen Behördenwagen gefolgt. Die dürfen; ich darf nicht, weil ich nicht Parteifunktionär bin. Und nicht nur das! Warum soll ich nicht schneller fahren? Weil da gerade die Umgehungsstraße gebaut wird, die – ohne dass das offen gesagt wird – der Aushungerung Westberlins dienen soll? Oder weil die Elbbrücke nach 15 Jahren immer noch nicht fertig ist – nicht weil man kein Geld und kein Material hätte, sondern weil Geld und Material für die Frauenbataillone gebraucht werden, die für die Besetzung Westberlins im Straßenkampf geschult werden müssen? Ein solches Verbot hat für mich keinerlei verpflichtende Kraft, weil ich es nicht für legitim erachten kann."
Eben diese sture Haltung, die für Christen in der DDR nur zwei Optionen kannte, Überwinterung oder Republikflucht, trug dazu bei, dass der Protestantismus in seinem Kernland, wo die Reformation einst ihren Ausgang genommen hatte, einen Mitgliederschwund ohnegleichen erleiden sollte. Wohl hatte der Prozess der Entfremdung der Kirchenbasis von ihrer Kirchenleitung bereits im 19. Jahrhundert eingesetzt, doch brachte erst der Konflikt um die Jugendweihe eine neue Qualität der Entkirchlichung…
Jugendweihe vs. Konfirmation
Um die Menschen auch emotional zu erreichen, praktizierte die SED seit den 1950er-Jahren eigene Riten, wie die sozialistische Heirat und die Jugendweihe. Mit der Einführung eben dieser Jugendweihe bediente sich die Partei, die damit 1954 an eine Tradition der Freidenker anknüpfte, eines, wie sich herausstellen sollte, wirksamen Mittels, ganze Generationen der Kirche zu entfremden. Schon bald wandelte sich die Jugendweihe in eine Pflichtveranstaltung, deren Nichtteilnahme für Heranwachsende berufliche Nachteile nach sich ziehen konnte und die im Vergleich zur antiquierten Konfirmation vielen auch modern und zeitgemäß erschien. Die Jugendweihe war der entscheidende Schachzug in der SED-Kirchenpolitik. Die Reaktion der Kirchen, ihre Erklärung zur Unvereinbarkeit von Jugendweihe und Konfirmation, gilt heute selbst aus kirchlicher Sicht gemeinhin als der entscheidende politische Fehler in der Auseinandersetzung mit dem SED-Staat.
Innerhalb weniger Jahre sollte hierzulande die Geschichte des Protestantismus als Volkskirche besiegelt sein. Es begann damit, dass im November 1954 die Kirchenleitung Berlin-Brandenburg unter Bischof Dibelius in einer auch von anderen ostdeutschen Landeskirchen übernommenen Erklärung daran erinnerte, dass die Jugendweihe seit jeher eine Ablehnung der Kirche und ihrer Botschaft bedeute. Folglich könnten Kinder, die an ihr teilnehmen, nicht konfirmiert werden.
Zu wieviel Unrecht hatte Otto Dibelius bis dahin geschwiegen? Zur Judenverfolgung der Nationalsozialisten, zur Beseitigung der Demokratie von Weimar, zu den Verbrechen der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg usw. Die Einführung der Jugendweihe war offenbar ein derart ungeheuerlicher Vorgang, dass er nicht länger schweigen konnte. Erstmals erklärte im deutschen Raum eine Kirchenleitung den status confessionis – den Bekenntnisnotstand! Die anderen DDR-Landeskirchen schlossen sich Dibelius an.
Ganze Generationen in der DDR, die ohne Konfirmation in der Kirche rechtlos geblieben wären, traten aus. Denn im Unterschied zur Jugendweihe sind mit der Konfirmation bestimmte Rechte verbunden. Ohne Konfirmation kann niemand in der Kirche Taufpate werden oder sich kirchlich trauen lassen. Nichtkonfirmierte haben in der evangelischen Kirche weder das aktive noch das passive Wahlrecht, sie können im Kirchenparlament nicht Synodale und in ihrer Gemeinde nicht Kirchenältester werden und schon gar nicht können ihre Hinterbliebenen sie kirchlich bestatten lassen. Hierin lag das Kernproblem für die Zukunft der evangelischen Kirchen in der DDR: Wenn die Kirche einem Großteil ihrer Mitglieder die normalen Mitgliederrechte verweigerte, weil die Betreffenden an der Jugendweihe teilgenommen hatten, warum sollten eben diese Leute dann noch Kirchensteuer zahlen? Dass es der Staat irgendwann ablehnen würde, der Kirche die Steuern einzutreiben, war ohnehin nur eine Frage der Zeit…
Vorläufiges Ende der gesamtdeutschen EKD
Mit den "Maßnahmen zur Grenzsicherung" im August 1961 war die organisatorische Verbindung der EKD in die DDR nahezu zerstört. Die letzte gesamtdeutsche Organisation, in der die Gliedkirchen aus der DDR über die Organe der EKD-Synode und des Rates der EKD fest eingebunden waren, dies nicht zuletzt durch umfangreiche Finanztransfers der westdeutschen Landeskirchen, war nur noch unter schwerer Mühe gesamtdeutsch arbeitsfähig. Wie schwach die Kirchen in der DDR schon damals waren, wird daran deutlich, dass man zwar die Regierung zur Großzügigkeit bei den Passierscheinen aufforderte, der massive Protest jedoch ausblieb. Die DDR, die im Westen allenfalls den Status des Freistaates Bayern zugestanden bekam, denn international beanspruchte die BRD auch weiterhin das Alleinvertretungsrecht für alle Deutschen, dieser Staat sollte die EKD-Organe auf seinem Territorium zwar nicht verbieten, deren Arbeit aber mit Ein- und Ausreisesperren weitgehend lahmgelegen.
Bischof Dibelius, der in Westberlin residierte und den EKD-Ratsvorsitz nach heftigen Debatten bereits im Frühjahr ’61 abgegeben hatte, durfte nicht mehr nach Ostberlin einreisen. Sein Nachfolger im EKD-Ratsvorsitz, Kurt Scharf, wurde von Dibelius nun auch als "Bischofsverweser" für die Region Ostberlin und Brandenburg eingesetzt. Eine Aufgabe, der er nur kurze Zeit nachgehen konnte. Kurt Scharf – alles andere als ein "kalter Krieger", vielmehr ein bedächtiger Kirchenmann, der sich in den 1980er-Jahren mit der Aktion Sühnezeichen für die Versöhnung mit Polen engagierte –, ihm wurde gleich zu Beginn seiner Amtszeit als Brandenburger Bischofsverweser die DDR-Staatsbürgerschaft aberkannt.
Erst nach und nach löste sich der Protestantismus in Deutschland von seinen deutschnationalen Bindungen. Unter dem neuen EKD-Ratsvorsitzenden Kurt Scharf suchte ein neues Denken in der Kirche Raum. Am 1. Oktober 1965 erschien die später als "Ostdenkschrift" bekannt gewordene EKD-Erklärung "Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn". Dieses Papier gehört, das ist unbestritten, zu den wichtigsten Publikationen der evangelischen Kirche im 20. Jahrhundert. Die Ostdenkschrift sollte den Boden für die Jahre später unter Brandt und Scheel einsetzende neue Ost- und Deutschlandpolitik mit vorbereiten; eine Politik, die zur Annäherung Polens und der Bundesrepublik Deutschland führte. Zum Inhalt: Die Ostdenkschrift beschrieb zwar vordergründig die Lage der deutschen Vertriebenen, indem sie von den materiellen Opfern und der latenten sozialen Benachteiligung der Betroffenen erzählte und von ihren Problemen bei der Integration in die westdeutsche Gesellschaft – dennoch, und das war neu, benannte sie auch die Opfer der Westverschiebung Polens in der polnischen Bevölkerung. Eine Schuldaufrechnung fand nicht mehr statt. Dieses EKD-Dokument gilt als erster bedeutender Versuch der evangelischen Kirche, die Vertreibung der Deutschen aus den Ostgebieten in einen Kontext zu setzen mit der Schuld der Deutschen im Zweiten Weltkrieg. Die Ostdenkschrift löste eine leidenschaftliche Diskussion innerhalb und außerhalb der Kirche aus. Dem Kirchenhistoriker Martin Greschat zufolge, wühlte sie "die Menschen in einer Weise auf, die sich nur mit dem erbitterten Streit um die Stuttgarter Schulderklärung oder der Wiederbewaffnung der Bundesrepublik zu Beginn der Fünfzigerjahre vergleichen lässt". Manfred Gailus geht in seiner Einschätzung noch weiter: "Die 1965 publizierte Ostdenkschrift der EKD markiert eine Zäsur nationalprotestantischen Denkens." Sie ist Ausdruck dafür, dass die seit der Reichsgründung 1870/71 in der evangelischen Kirche zu allen Zeiten spürbare, lange Zeit sogar vorherrschende nationalprotestantische Mentalität in den 1960er-Jahren nach und nach abbrach – infolge anderer gesellschaftlicher Traditionsabbrüche und nicht zuletzt der aufkommenden westdeutschen Studentenbewegung.
Feuer und Flamme
Im selben Monat als die Ostdenkschrift der EKD erschien, am Erntedanksonntag des Jahres 1965, stellte der Jugendbund für Entschiedenes Christentum (EC) einen "missionarischen Einsatz" der ganz besonderen Art auf die Beine: eine Bücherverbrennung. Eine Gruppe von 25 jungen Protestanten im Alter von 17 bis 28 Jahren, begleitet von zwei dreißigjährigen Diakonissen, errichtete am Düsseldorfer Rheinufer einen Scheiterhaufen. Straßenpassanten beobachteten das Geschehen. Ein gewisser Karl-Heinz Vranken, Mitglied der EC, hielt eine kurze Ansprache: "Wir haben uns über Schmutz- und Schundliteratur unterhalten und sind zu der Erkenntnis gelangt, dass brutale, kriminelle, sexuelle und utopische Szenen und Bücher das Glaubensleben des einzelnen beinträchtigen können. Wir wollen uns von der Übermacht solcher Leitbilder befreien. Sie bringen uns von Jesus ab." Einen Moment später schossen die Flammen empor. Neben billigen Romanheften, Kinoreklamebildern und allerhand Pin-up-girl-Ausschnitten aus der "Bravo" brannten auch Erich Kästners "Herz auf Taille" und Günter Grass’ "Blechtrommel" und nicht zu vergessen: Vladimir Nabokovs "Lolita". Dazu sangen die Jungen und Mädchen fromme Lieder zur Gitarre, u.a. das Lied Nummer 125 aus dem Liederbuch "Frohe Botschaft": "Wir jungen Christen tragen/ins dunkle deutsche Land/ ein Licht in schweren Tagen / als Fackel in der Hand." – Die Bücherverbrennung war sogar angemeldet, beim Amt für öffentliche Ordnung.
Otto Dibelius, zu diesem Zeitpunkt immer noch amtierender Bischof von Berlin-Brandenburg mit Dienstsitz in Westberlin, begrüßte damals das entschiedene Eintreten der jungen Protestanten. "Man muss den Mut beweisen, sich auch äußerlich frei zu machen, von allem, woran man innerlich Schaden nimmt – dafür wird jeder rechtschaffene Christenmensch Verständnis haben." Jedes Unrechtsbewusstsein und jede historische Sensibilität blieb ihm sein Leben lang fremd. Aber auch seine Zeit ging vorüber. Mit Dibelius trat 1966 der letzte große Kirchenmann nationalprotestantischer Prägung vom Bischofsamt zurück. Sein Tod im Jahr darauf (die Bischöfe Theophil Wurm, August Marahrens und Hans Meiser waren bereits in den 1950er-Jahren gestorben) symbolisiert das Ende einer Ära. Das Ende des deutschen Nationalprotestantismus machte den Weg frei, für eine Kirche, die sich eines Tages den Neuen Sozialen Bewegungen öffnete, aber auch für eine organisatorisch eigenständige Entwicklung der DDR-Kirchen.
Aber das ist eine andere Geschichte…
siehe auch: Das schwere Erbe von Otto Dibelius (1)
3 Kommentare
Kommentare
Kay Krause am Permanenter Link
Lassen wir den religiösen Glauben des Einzelnen einmal beiseite, so können wir immer wieder nur feststellen: Kirche ist eine von Menschen erdachte (angeblich religiöse) Institution.
Tatsache ist jedoch, dass "Kirche" lediglich eine Macht-Institution ist, die Euren religiösen Glauben benutzt, um ihren finanziellen und politischen Einfluß zu meheren!
Das ist Ihr einziger Sinn und Zweck! Und jedes einzelne Mitglied des Klerus weiß das ganz genau. Und daraus folgt, dass diese ganzen wunderbaren einlullenden Predigten von der Kanzel, im Radio und im TV reine Heuchelei sind. Der Mensch in seinem Wahn....!
Ulrike Polster am Permanenter Link
Das Problem zwischen Jugendweihe und Konfirmation war das Jugendweihegelöbnis. Man musste sich dem sozialistischen Staat angeloben, der ja weltanschaulich atheistisch war.
Ralf am Permanenter Link
Aus heutiger Sicht kann ich sagen, dass ich als Jugendlicher gar nicht in der Lage gewesen bin, eine für mein ganzes Leben verbindliche schwerwiegende Entscheidung zu treffen.
Aus heutiger Sicht würde ich sagen, bei der Konfirmation geht es um die Bindung von bewusst in Unkenntnis der Kirchengeschichte gelassenen Jugendlichen an die Kirche. Mit einer Entscheidung für oder gegen Christus hat das Konfirmationsspektakel so wenig zu tun wie die Kirchen selbst etwas mit Christus zu tun haben, ausser dass sie seinen Namen missbrauchen.
Ich kann mich erinnern, dass mir ein Paten-Onkel auf der Konfirmationsfeier erzählt hat, dass er nicht an Gott glaubt. Da er in Bayern lebte, traute er sich aber nicht, aus der Ev. Kirche auszutreten. Er hat sogar seine Kinder getauft und konfirmieren lassen. Vermutlich wollte er seine Universitätskarriere nicht gefährden. In Westdeutschland gab und gibt es das also auch - tausendfach -, die Entscheidung zwischen dem Gewissen und einer ungebrochenen Karriere.
Wenn Jugendliche an der Konfirmation oder der Jugendweihe teilnehmen wollen - von mir aus, jeder muss seine eigenen Erfahrungen machen. Ich halte es aber für ein Verbrechen, den Jugendlichen zu suggerieren, dass sie sich damit unwiderruflich auf irgendetwas für ihr zukünftiges Leben festlegen.