Am Titicacasee in Peru

Als Lehrer an der Deutschen Schule Santiago de Chile ist es gewiss sinnvoll, Spanisch zu sprechen. Aber wenn Du das nicht vorher gelernt hast, musst du das eben nachholen. Doch der ständige Umgang mit deutschen Kolleginnen und Kollegen sowie der tägliche Unterricht in deutscher Sprache zwingen einem gar nicht, wirklich Spanisch zu sprechen. Also nehmen viele Lehrkräfte Intensivkurse in den Ferien und verbinden diese meist mit einer Reise in ein anderes Land. So auch ich im Februar 2017 in Peru.

Schon die Anreise war ein Abenteuer. Da es keine Direktflüge in die Stadt der vielen Sprachschulen, Arequipa im Süden Perus, gibt, flog ich von Santiago die 2.000 km bis nach Arica an der Nordgrenze Chiles.

Arica ist eine Oasenstadt am Pacifik umgeben von der Wüste Atacama. Sie lebt vor allem vom Bergbau bzw. der Verschiffung der Erze aus den entfernteren Minen zur Gewinnung von Kupfer, Gold oder sog. "seltenen Erden" in alle Welt.

Der kleine, aber sehr modern Flughafen selbst liegt schon inmitten der trockenen und öden Umgebung. Mit einem Shuttle-Bus geht es dann über die Grenze nach Peru. Da beide Länder nicht gerade gerade befreundet sind, gibt es auch bei den Grenzabfertigungen keinerlei Zusammenarbeit. Also muss man zweimal lange anstehen und warten. Und das kann bei dem ständigen Massenandrang lange dauern. Bei mir ca. fünf Stunden. Anschliessend geht es weiter bis zur Peruanischen Grenzstad Tacna. Spätestens hier wird einem das deutliche ökonmische Gefälle zwischen beiden Ländern bewusst. Während auf der chilenischen Seite der Verkehr von den bekannten westlichen Automarken beherrscht wird, sieht man auf der peruanischen Seite viel mehr Kleinwagen made in China oder Indien.

Die letzte – und bei weitem längste Etappe – konnte ich zum Glück mit einem kompfortablen Überlandbus bewältigen. Doch leider hatte ich einen Platz im Oberdeck ganz vorne – und bekam bei jedem der vielen für mich extrem gefährlichen Überholmanöver Schweissausbrüche. Denn die Fernstrasse durchquert auf ihren gut 500 km eine Hochgebirgslandschaft inmitten der verlängerten Atacamawüste – eine Serpentine nach der anderen in einer der trockensten Regionen der Erde. Kein Baum, kein Strauch, nur Sand, Geröll und felsige Abgründe. Der höchse Pass liegt bei ca. 3.500 m bis man dann endlich die Oasenstadt Arequipa erreicht.

Der Vulkan "Misti" bei der Oasenstadt Arequipa in Peru
Der Vulkan "Misti" bei der Oasenstadt Arequipa in Peru

Doch bei dem Wort "Oasenstadt" hat man als Europäer meist andere Assoziationen. Arequipa ist in Wirklichkeit eine postkoloniale Metropole mit fast einer Million Einwohnern und verdankt ihre Bedeutung ebenfalls dem Bergbau. Hier findet alle zwei Jahre der weltgrösste Bergbau-Kongress statt. Umgeben ist Arequipa von impossanten 5.000m hohen Vulkanen. Dass hier überhaupt so viele Menschen leben können, verdankt die zweitgrösste Stadt Perus vor allem dem wasserreichen Gletscherfluss "Chili".

Aufgrund der ganzjährig gleichmässigen Temperatur von 20 bis 25 Grad und einer beständigen Sonne wachsen entlang des Flusses nahezu alle bekannten Nutzpflanzen und Obstsorten. Selbst Reis wird stellenweise angebaut. Sobald man aber einige Kilometer links und rechts des grünen Tales entfernt ist, befindet man sich in extrem aridem Gebiet. Schroffer können Gegensätze bei der Vegetation und im Landschaftsbild kaum sein.

Dann begann mein zweiwöchiger Sprachkurs mit täglich vier Stunden Einzelunterricht. Intensiv, interessant und sehr, sehr anstrengend. Um das Wochenende in der Mitte des Kurses sinnvoll zu nutzen und mich vom strapaziösen Unterricht zu erholen entschied ich mich zu einem "Ausflug" an den weltberühmten, weil höchst gelegenen "Titicacasee". Doch was als Erholung gedacht war entpuppte sich als noch strapaziöseres Unternehmen.

Zwar liegt Arequipa selbst schon auf 2300 m Höhe. Aber der Titicacasee liegt auf knapp 4.000 m! D.h. der Bus schraubt sich nochmal fast 2000 Höhenmeter durch die Anden auf die Hochebene des sog. "Alto Plano". Hier geht die wüsenartige Landschaft allmählich in eine Hochgebirkgssteppe über, in der vor allem die Vacunas leben, eine Unterart der Alpacas mit noch dichterem und feinerem Fell. Eine Vacuna-Jacke kostet deshalb leicht über 500 Euro.

Kolonial- und "Oasenstadt" Stadt Arequipa

Kolonial- und "Oasenstadt" Stadt Arequipa

Nach ca. sieben Stunden Busfahrt erreicht man am Abend endlich die Stadt Puno direkt am Titicaca-See – und man spürt die sehr, sehr dünne Luft. Jeder Schritt und Tritt wird anstrengend und selbst beim Treppensteigen im Hotel pocht schon das Herz.

Am nächsten Morgen begann eine hochinteressante 2-Tages-Exkursion auf dem See zu verschiedenen indigenen Stämmen. Nach der Durchquerung der Puno vorgelagerten – und leider sehr verschmutzten – Bucht öffnet sich das Gewässer zu seiner ganzen Grösse und man ahnt, dass der "See" auch ein Binnenmeer sein könnte: knapp 70 km breit und fast 180 km lang!

Die tiefste Stelle misst 281 m und ist damit tiefer als der grösste Teil der Nordsee. Gespeist wird der Titicacasee von 25 Zuflüssen. Aber es gibt nur einen Abfluss, der "Rio Desaguadero", der zudem nur 5 bis 10 Prozent des Überschusswassers abführt – der Rest wird verdunstet. Ein Zeichen für die sehr trockene Höhenluft. Die Seefläche gehört zu etwa zwei Drittel zu Peru und zu einem Drittel zu Bolivien. Der Name des Sees bedeutet in einer der alten Sprachen "Aymara" soviel wie "Puma-Felsen" – ein Hinweis auf die weite Verbreitung dieser Wildkatze im gesamten Bergland der Anden.

Die schwimmenden Inseln der “Urus”

Die erste Station der längeren Bootsfahrt ging zu den berühmten "schwimmenden Inseln" des stolzen Volkes der "Uros". Das sind tatsächlich aus Schilfrohr gefertigte Flossähnliche kleine Inseln, auf denen die Ureinwohner in ihren kleinen Strohhütten als Fischer leben. Es sind jedoch keine Inka-Nachfolger, sondern stammen von noch älteren Indio-Stämmen ab, die sich einst vor den kriegerischen Inkas auf den See flüchteten. Und sie sprechen ihre eigene Sprache, das "Aymara". Auch die Kinder lernen neben Spanisch die Sprache ihrer Vorfahren in der Schule.

Am Titicacasee
Am Titicacasee

Ein Boot holt die Schülerinnen und Schüler jeden morgen zum Unterricht auf einer grösseren Insel ab. Heute lebt von den ca. 2.000 Urus jedoch nur noch ein Teil wie die Vorfahren auf dem See.

Die schwankenden Inseln müssen jede Woche mit einer neuen Schicht Schilfrohrmatten belegt werden damit ihre Stabilität auch bei Sturm und Regen erhalten bleibt. (BILD) Erleichtert wird das Leben der Menschen mittlerweile durch kleine Solarpanelen, so dass sie zumindest eine Beleuchtung haben. Eine wichtige Einnahmequelle ist neben dem Fischfang der Tourismus bzw. der Verkauf selbst gefertigter farbiger Mützen, Decken und Ponchos. Trotzdem gleicht das Leben der meisten der Urus noch dem ihrer Vorfahren aus grauer Vorzeit. So gibt es in den Strohhütten nur eine kleine offene Feuerstelle zum Kochen. (BILD)

Im Ursprungsland der Kartoffel

Die zweite Station war die feste Insel "Amantani". Hier wurden alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Reisegruppe auf je eine Familie aufgeteilt, wo wir den Abend und die Nacht verbrachten. Denn die Bewohner lehnen jeden Hotelbau strikt ab. Zur Begrüssung gab es eine herrliche Gemüsesuppe und Tee. Denn alle Einwohner sind reine Vegetarier. Das günstige Klima des Sees erlaubt hier den Ackerbau noch bis auf die beiden über 4.000 m hohen Berge der Insel. Man lebt hauptsächlich vom Kartoffel-, Weizen und Bohnenanbau auf kleinen Terassenfeldern. Im übrigen gilt die gesamte Region des Peruanischen Hochlandes als das Ursprungsgebiet der Kartoffel. Entsprechend gross ist hier noch heute die Vielfalt an Varietäen dieser alten Kulturpflanze.

Am Titicacasee
Am Titicacasee

Interessant sind die Namen der beiden Gipfel: "Pachatata" steht für "Vater Erde" und "Pachamata" für "Mutter Erde". Und auf beiden Berggipfeln stehen noch Gebäude und Kultstätten der Inka- bzw. Tiwanaku-Kultur. Religionshistorisch haben sich diese Kulturen mit der christlichen Religion der spanischen Eroberer in der Regel vermischt. So ging das Prinzip der "Mutter Erde" oftmals in der christlichen Marienverehrung auf. Die indigenen Gruppen der Quechua und Aymara verehren die "Pachamama" als allmächtige Göttin, die allen Kreaturen das Leben schenkt und sie nährt. Pachamama wird heute als Faktor für Identität und sogar für sozialpolitischen Widerstand angesehen. So wurde im Jahr 2008 "Pachamama" neben "Sumak kawsay" ("gutes, harmonisches Leben") als ein Grundprinzip in die neue Verfassung von Ecuador aufgenommen.

Doch zurück zum praktischen Leben auf Amantani.

Neben einigen Schafen und Hühnern bei jedem Haus für Wolle und Eier sowie wenigen Alpacas an den Hängen gibt es keinerlei Nutztiere auf der Insel – selbst Hunde fehlen. Denn sie alle wären Nahrungskonkurrenten der Menschen auf der kleinen Fläche. Und nur an Feiertagen gibt es Fisch.

Am Titicacasee
Am Titicacasee

Selbstverständlich gibt es auch keine Strasse oder gar irgendwelchen Verkehr. Und neben einigen Solarpanelen verfügen die gut 2.000 Einwohner auch nicht über Strom oder fliessendes (kaltes) Wasser in den Wohnungen. Eine Pumpe vor dem Haus reicht zumeist aus. Und gekocht wird ebenfalls auf einer mit wenig Holz (es gibt fast keine Bäume auf der Insel!) und getrocknetem Schilfrohr beschickten offenen Feuerstelle. Aber der Staat sorgt bei aller Einfachheit für eine Schulausbildung: so kommt der Lehrer jeden Montag per Boot vom Festland und bleibt meist bis Freitag Nachmittag im Dorf. Und auch diese Kinder werden zweisprachig erzogen – neben Spanisch lernen sie die Sprache ihres Volkes, das "Quechua". Seit einigen Jahren gibt es auch eine kleine Krankenstation sowie einen modernen Fussballplatz.

Hervorzuheben ist, dass das gesamte Leben hier wie auch auf der Nachbarinsel "Taquile" genossenschaftlich organisiert ist. Die Gemeinde erhebt auch keine Steuern. Vielmehr werden kommunale Aufgaben traditionell in Gemeinschaftsarbeit erledigt.

Am Titicacasee
Am Titicacasee

Besonders interessant waren für die meisten Besucher die sehr speziellen sozialen Regeln der Ureinwohner, die sich auch in den verschiedenfarbigen trachtenähnlichen Kleidungen, Kopfbedeckungen und Scherpen bzw. Gürteln ausdrücken. So wird z.B. sehr früh geheiratet – meist bis zum zwanzigsten Lebensjahr – und man wechselt damit automatisch die Farbe seiner Bekleidung. Und man bleibt ein Leben lang zusammen. Scheidungen sind unbekannt. Wenn jemand "ein Problem hat", zeigt man dies durch eine andere Farbbommel an der obligatorischen bunten Gürtelschärpe am Körper. Daraufhin treffen sich die älteren Männer mit der betroffenen Person zum ausführlichen Gespräch – meist 2 bis 3 Stunden – um eine Lösung zu finden. War die Unterredung erfolgreich, wird die Bommel durch eine Andersfarbige ausgetauscht und alle im Dorf wissen Bescheid. Das ist nur ein Beispiel für das sehr klar, einfach aber auch streng geregelte Leben dieser Menschen.

Allerdings gibt es zumindest zwei deutliche Veränderung – die Zahl der Kinder pro Familie hat sich im Laufe der Zeit von über zehn auf unter fünf mehr als halbiert. Und viele der jungen Menschen gehen mittlerweile auf dem Festland arbeiten. Einige davon dürften wohl auch zum Heer der vielen peruanischen Arbeitsmigranten in Chile gehören.