In griechischen Flüchtlingslagern: Wo die Zeit zum Feind wird

"Das hier ist kein Leben"

Der Schrei einer Frau zerreißt die träge Sonntagsstimmung im Militärcamp Softex. Eine Tür knallt, aufgeregte Stimmen. Ahmad runzelt die Stirn und steht auf. "Ich gehe nachschauen, was los ist." Kurze Zeit später verstummen die Schreie. Ahmad kommt zurück. "Alles in Ordnung", sagt er und winkt lächelnd ab. "Das war eine Mutter, die dachte, ihr Kind sei entführt worden. Dabei war es nur um die Ecke zum Spielen verschwunden."

Szenen wie diese sind absurde Alltäglichkeit im Militärcamp Softex. Ein Leben zwischen gähnender Langeweile und ständiger Anspannung, mitten im Industriegebiet von Thessaloniki. Über hundert Wohncontainer sind hier auf dem Grundstück einer ehemaligen Toilettenpapierfabrik in langen Reihen aufgestellt. Sie sind das Zuhause von 450 Menschen, die aus verschiedenen Teilen der Welt geflüchtet sind. Das griechische Militär hat die Aufsicht über das Camp. Im Minutentakt donnern LKWs vorbei, die Sonne knallt vom Himmel. Was es hier zu tun gibt? "Wir essen und schlafen. Warten," Ahmad streicht über seine langen schwarzen Haare, die er im Nacken zu einem Zopf zusammengebunden hat. Er kommt aus Damaskus, hat dort Journalismus studiert. Durch kritische Berichte geriet er ins Visier des Assad-Regimes und rettete sich in die Türkei. Von dort ging es weiter nach Griechenland, doch als er am 17. März 2016 ankam, war die mazedonische Grenze geschlossen. Vier Monate lebte er in Idomeni, dem größten inoffiziellen Flüchtlingslager direkt an der Grenze. Als es geräumt wurde, landete er im Militärcamp Softex. Er ist hier seit neun Monaten.

Seine Geschichte teilen tausende andere Menschen, die dieselben Stationen durchlaufen haben. Ihr Schicksal und die katastrophalen Bedingungen der Camps wurden festgehalten in unzähligen Fernsehbildern und Artikeln. Doch praktisch verändert hat es wenig. Ahmad sitzt in einem der stickigen Wohncontainer, in dem vier junge Männer zusammen wohnen. "Als ich Damaskus verlassen habe, dachte ich, es dauert vielleicht einen Monat, bis ich in Deutschland bin. Jetzt bin ich seit einem Jahr und einem Monat in Griechenland." Ahmad erzählt mit ruhiger Stimme in perfektem Englisch, das er in den Camps von Freiwilligen gelernt hat. Er klingt resigniert, fast ein wenig gelangweilt, wenn er über seine Situation spricht. Als hätte er all das schon zu oft erzählt.

Ahmad ist in Softex bekannt. Weil er Englisch und Arabisch spricht, ist er für die Arbeit der NGOs unabdingbar. Er hilft bei Übersetzungen, hat eine Schule errichtet, organisiert Workshops. "Ich versuche, immer beschäftigt zu bleiben. Alles, um nicht so viel über die Situation nachzudenken." Ob es sich trotz all seiner Aufgaben nach Warten anfühlt? "Ja natürlich, die dreizehn Monate kommen mir wie eine Ewigkeit vor."

Fragt man Menschen hier im Camp danach, wie lange sie hier sind, wissen sie es immer auf den Tag genau. Es zeigt, wie sehr das Leben bestimmt ist vom Warten und Hoffen auf den Tag, an dem das alles endlich ein Ende hat. "Der psychische Stress ist enorm," erzählt Foteini Kelektsoglou, eine Sozialarbeiterin bei "Praksis", einer NGO, die Flüchtende psychisch betreut. "Die Menschen können die Erfahrungen, die sie aus ihren Ländern mitbringen oder auf der Flucht erlebt haben, unter den Lebensverhältnissen der Camps und der alltäglichen Untätigkeit nicht verarbeiten." Was bedeutet es für einen Menschen, über Monate in Unwissenheit zu warten? Foteini drückt mit dem Zeigefinger auf eine imaginäre Taste in der Luft. "Es ist, wie für das Leben auf Pause zu drücken." 

Auf dem Festland zu sein bedeutet, dass sich das lange Warten in der Regel lohnt. Denn hier gibt es für Menschen aus Syrien und dem Irak das Relocation-Verfahren und die Familienzusammenführung. Beide ermöglichen den Menschen, in ein anderes EU-Land aufgenommen zu werden und dort Asyl stellen zu können. Das gilt nicht für die griechischen Inseln. Denn seit der EU-Türkei-Deal am 20. März 2016 in Kraft getreten ist, sind sie auf dem Weg nach Europa zur Falle geworden. Während sich Ahmad recht sicher sein kann, dass er in einem anderen EU-Land aufgenommen wird, besteht für die Menschen auf den Inseln, egal woher sie sind, kaum Hoffnung. Wer hier ankommt, ist mit der Lebensrealität eines überfüllten Internierungslagers konfrontiert. Tausende warten hier auf Asyl und nur wenige haben Chancen darauf. Trotzdem kommen immer noch Menschen in Schlauchbooten auf Inseln wie Lesbos an.

Doch von hier aus geht es nicht mehr wie früher weiter ans Festland, sondern nach Moria. Moria ist eines der größten Flüchtlingslager in der griechischen Ägäis. Über 4000 Menschen sind hier auf engstem Raum in Containern und Zelten untergebracht. Es liegt im Hinterland der Insel Lesbos. Von außen wirkt es wie ein Hochsicherheitstrakt. Hohe Zäune, Wachttürme, Flutlichtscheinwerfer und überall Wachpersonal. Ein Teil von Moria ist Gefängnis, einen anderen Teil können die Menschen mit einer ID-Karte verlassen.

Am Eingang ist deshalb reges Treiben. Der Platz davor scheint inoffizieller Treffpunkt zu sein. Kleine Gruppen stehen beisammen und reden, einige sitzen auf dem Bordstein und tippen in ihr Handy. Drei Buden verkaufen Fastfood und Getränke. Sie sehen so provisorisch aus, als wären sie erst vor einer Woche errichtet worden. "Aber die stehen schon seit meiner Ankunft hier", berichtet Murad. Auch er ist ein junger Syrer, wie Ahmad. Doch er ist seit 6 Monaten auf Lesbos. Weil er nach dem 20. März 2016 auf die Insel kam, gelten für ihn andere Regeln als für die Flüchtenden auf dem Festland. "Ich wusste zwar, dass die Grenzen zu sind. Aber niemand hat von diesen Camps erzählt. Ich war so geschockt und bin es immer noch."

In den letzten Monaten floss vor allem in den Ausbau dieser Lager viel Geld. Dieses sorgt jedoch nicht dafür, dass Lebensbedingungen besser werden oder Asylanträge schneller bearbeitet werden. "Seit ich hier ankam, habe ich keine Neuigkeiten über mein Asylverfahren erhalten. Manchmal übersetze ich für eine NGO hier im Camp, ansonsten besteht mein Tag aus Aufwachen, essen und wieder schlafen gehen. Das hier ist kein Leben, das ist Überleben." Das endlose Warten auf Neuigkeiten bedeutet enormen psychischen Stress. Was die ständige Unsicherheit mit den Menschen macht, lässt sich nur erahnen. Ralf Eggenberger, Koordinator der Hilfsorganisation "Schwizerchrüz" auf Lesbos, sagt: "Diese Camps sind gemacht, um Menschen zu brechen."

Im März diesen Jahres erschien ein Bericht von der NGO "Save the Children". Er dokumentiert die steigende Anzahl von Depressionen und selbst zugefügten Verletzungen und sogar Suizidversuchen bei Kindern. "Save the Children" fürchtet, dass eine ganze Generation mit schweren psychischen Schäden in den Lagern auf den Inseln großgezogen wird. Ein zwölfjähriger Junge filmte sich beim Versuch, sich das Leben zu nehmen. Die Kinder kopieren das, was sie alltäglich sehen und spüren: Hoffnungslosigkeit, Gewalt, apathische Eltern. Alkohol- und Drogenmissbrauch nehmen zu. Anfang April zündete sich ein Mann auf der Insel Chios selbst an, nachdem sein Asylantrag abgelehnt worden war.

Auf Lesbos baut "Schwizerchrüz" zusammen mit Bewohnern des Moria-Camps ein Gemeinschaftszentrum. Es liegt auf einer Anhöhe mit schönem Blick aufs Meer. Hier entstehen selbstverwaltete Läden, eine Schule und sogar ein Kino. Alle können mitgestalten. Durch den Bau haben sie wenigstens etwas zu tun. "Wir können euch nicht helfen von hier wegzukommen, aber wir können euch das Warten erleichtern", sagt Achilles Peklaris, der lokale Koordinator des Zentrums. Viele können hier ihre früheren Berufe ausüben. Schreiner bauen Tische, Bänke und Klettergerüste, ein Künstler aus dem Kongo gestaltet die Innenwände mit Wandmalereien. Der Respekt, die Anerkennung und Unterstützung gibt den Flüchtenden ein Stück Würde zurück.

Doch solche Projekte können nicht für 5000 Menschen sorgen. Die meisten verbringen ihren Alltag in den Camps, beim Warten in der Essensausgabe, in der Schlange zur kalten Dusche, warten auf eine Nachricht der Behörde, die nicht kommt, warten darauf, dass der Tag zu Ende geht. Es heißt, die Bürokratie brauche eben Zeit. Aktivistinnen und Aktivisten auf Lesbos sagen: Die Lager seien zur Abschreckung entwickelt worden. Allein der Anblick des Lagers Moria spricht dafür - Gefängnislager sind keine Symbole einer Willkommenskultur.

Jeder Mensch geht anders um mit den Monaten des Wartens. Murad und Ahmad sind jung und dynamisch, sie sprechen Englisch und versuchen zu helfen, wo es geht. Sie haben dafür die Kapazitäten, vor allem auch die psychischen. Damit sind sie eine Ausnahme. Doch länger, als über die nächsten Wochen hinauszudenken, können auch sie sich nicht leisten. Sie haben zu oft Versprechen gehört, es würde sich bald etwas tun; zu oft schon haben sie ihren Hoffnungen getraut.