"Der Skandal der Skandale"

Weichgespülte Kirchengeschichte

Angeregt von dem offenen Brief von Rolf D. Herzberg an Manfred Lütz anlässlich dessen beschönigendem Buch über die Geschichte des Christentums hat sich Dr. Josef Breinbauer ebenfalls dazu entschlossen, das Buch zu lesen. Der Geschichtswissenschaftler kommt dabei zu einem vernichtenden Urteil.

Um den Wert des Christentums als geistiges Fundament Europas zu stärken, will Manfred Lütz in seinem an ein breites Publikum gerichteten Buch eine möglichst entskandalisierte und von Irrtümern bereinigte Sicht auf die Geschichte dieser Religion bieten. Es tummelt sich momentan (Stand: April 2018) auf einem der vorderen Ränge der SPIEGEL-Bestsellerliste.

Bei seinem in erfrischender Unbefangenheit angetretenen schöngefärbten Ritt durch die Kirchengeschichte schlüpft er dabei in die Rolle des besserwisserischen Aufklärers und kehrt dabei vielfach ihm nicht gelegen kommende Tatsachen – so er sie überhaupt kennt – unter den Teppich.

Dazu einige Beispiele: In der Debatte mit den Donatisten plädierte Kirchenvater Augustinus "nachdrücklich für Gewaltfreiheit" (S. 40). Augustinus aber machte im Brief an Bischof Vincentinus von der Gegenseite klar, dass Zwang gegen die vom Glauben Abweichenden auch zum öffentlichen Frieden beiträgt. Im Lob von Toleranz und Gewaltlosigkeit der Christen (S. 35 ff.) kann sich Lütz kaum eingrenzen. Doch auch untereinander kamen die Christen nicht ohne Gewalt aus.

Natürlich bleibt daher bei ihm unerwähnt, dass bei der Papstwahl im Jahre 366 die Leute des dann erfolgreichen Damasus eine Kirche stürmten und darin 137 Anhänger seines Rivalen Ursinus umbrachten. Auch die sog. "Räubersynode" von Ephesos (449) kann nicht gerade als Muster des respektvollen Umgangs der Christen untereinander gewertet werden. Skandale gibt es für Lütz aber erst nach der Jahrtausendwende. "Und wenn das Ende der Welt damals gekommen wäre, müssten wir uns bei der Bilanz des Christentums nicht mit den klassischen Skandalen aufhalten, denn es gab sie nicht. Es gab in den ersten tausend Jahren des Christentums weder Kreuzzüge noch Inquisition oder Hexenverfolgungen, auch keine Pogrome und ebensowenig eine dauerhafte Kirchenspaltung mit der Ostkirche. Man erwarb sich Verdienste bei der Humanisierung der Barbarei..." (S. 63 f.). Allein schon das geradezu frevelhafte Vorgehen von Papst Stephan VI. gegen seinen Vorgänger Formosus auf der Leichensynode von 896/97 macht eine solche Behauptung unglaubwürdig. Fehlanzeige auch der kirchliche Rangstreit 1062/63, als sich in Goslar die Leute des Bischofs von Hildesheim und die des Abtes von Fulda in der Kirche gegenseitig die Köpfe einschlugen, bis feststand, wer neben dem Mainzer Erzbischof sitzen darf. Lampert von Hersfeld, Annalen a. 1063: Multi utrimque vulnerati, multi occisi sunt… Mit der Solidarität der Glaubensbrüder untereinander war es also noch nicht so gut bestellt wie es uns Lütz glaubhaft machen will.

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Bei der Ketzer- und Hexenverfolgung (Kapitel IV bzw. VI) hält Lütz den Anteil der Päpste möglichst gering, obwohl diese den Inquisitoren die gewünschte Autorität verliehen. Konrad von Marburg (S. 109 f.) wütete demnach eigenmächtig gegen Ketzer und sei auf die geschlossene Gegenwehr der Bischöfe gestoßen. Nach Konrads Ermordung 1233 sei Papst Gregor entsetzt gewesen, auch über das Vorgehen des Inquisitors. Dass ihm der Papst zuvor am 11.10.1231 die volle Gewalt, ohne Zulassung einer Appellation mit Prozessen gegen die Häretiker in Deutschland vorzugehen, übertrug, fällt bei Lütz unter den Tisch. Vgl. NDB, Bd.12, S. 545. Auch die päpstlichen litterae "Vox in Rama audita est" von 1233, in denen die "luziferianischen" Initiationsriten geschildert werden, bleiben unerwähnt. Konrad hatte die Phantasiekonstruktionen dem Papst übermittelt. Dem Handeln nach muss Gregor IX. diese für wahr gehalten haben. Ähnlich sparsam mit Informationen geht Lütz (S. 153) beim Hexenhammer (1487) um. Heinrich Kramer, "ein windiger deutscher Dominikaner" habe sich vorher geschickt bei der päpstlichen Bürokratie ein "routinemäßiges Dekret" besorgt und dann sein Machwerk gebastelt. Jetzt darf der Leser raten. War das nicht die berüchtigte Bulle "Summis desiderantes affectibus" des Papstes Innozenz VIII., der sich zum Eingreifen verpflichtet fühlte? Die in diesem Dokument von 1484 aufgeführten Untaten erklärte Innozenz als Tatsachen, deren Realität man nicht bezweifeln durfte. Für Lütz ist all das keinen Federstrich wert.

Das Kapitel um die Unfehlbarkeit des Papstes wird ohne Ernsthaftigkeit abgehandelt (S. 198-202). Lütz kommt dabei aus ohne Konstantinische Schenkung, ohne Honorius-Frage, ohne Sutri (1046) und ohne Konziliarismus, welcher 1417 mit Martin V. dem Papsttum einen Neustart ermöglichte. Dieses war dann bedacht, konziliare Fesseln alsbald abzustreifen. Nach katholischer Lehre könne ein Papst nicht eine neue Lehre, die ihm irgendwie gefällt, zum Dogma erheben (S. 200). Da wäre nun eine Erläuterung fällig zu Kapitel IV der dogmatischen Constitution "Pastor aeternus", wo es heißt: "(…) ideoque ejusmodi Romani Pontificis definitiones ex sese, non autem ex consensu Ecclesiae, irreformabiles esse."

Beim Thema "Frau" ist der Autor voll des Lobes für die emanzipatorischen Leistungen der kath. Kirche. Zunächst heißt es auf S. 29 ganz allgemein: "Noch ein anderer Keim ist im Monotheismus angelegt. In den kosmologischen Religionen der Vorzeit entspricht der Mann gewöhnlich der Sonne und die Frau dem Mond, womit Letztere immer nur ein Abglanz ist und nie Gleichberechtigung erhält. Hingegen spricht ihr der Monotheismus dieselbe Menschenwürde zu."  Gegen Frauen im Dienst am Altar schritten Papst Gelasius (ep. 14,26) und später das Konzil von Paris (829) vehement ein. Logischerweise übergeht Lütz bei seiner Zitation von Paulusstellen jene in 1Kor 11,7, wonach der Mann Abglanz Gottes ist, die Frau aber nur Abglanz des Mannes. Dementsprechend heißt es im maßgebenden Decretum Gratiani C.XIII. "(…) ideoque mulier non est facta ad Dei imaginem (…)" Diese nachgeordnete Gottebenbildlichkeit begegnet auch noch beim Brautsegen im Schott/Das vollständige Römische Messbuch, mit Imprimatur von 1958, (125).

Was der heilige Abt Odo von Cluny, gest. 942, in diffamierender Weise über das weibliche Geschlecht sagt, ist schon mehr als skandalös: "Könnte man unter die Haut sehen, würde man sich ekeln, da man nur Schmutz und Schleim vorfände" (PL 133, Sp. 556). Nach Lütz sei aber die Kirche keineswegs sexualfeindlich (S. 261) und habe immer wieder prüde Sexualitätsgegner bekämpft (S. 263). Ob für ihn Abt Odo und Petrus Damiani zu diesen gehörten, erfahren wir leider nicht. Letzteren vermisst der kundige Leser auf S. 259. Dieser Heilige und auch Kirchenlehrer war energischer Vertreter der Kirchenreform und gestrenger Verfechter einer restriktiven Sexualmoral, nicht nur im Sinne der Durchsetzung des Zölibats für Priester. Mit seinen putzigen, am Tierreich orientierten Vorstellungen von Sexualität ( PL 145, Sp.777: "(…) admiremur fecundam in vulturibus virginitatem. Perhibentur enim vultures caeterum avium more concubitui nullatenus indulgere, sed absque ulla prorsus masculini sexus admistione concipere (…)" passt er nicht in die Behauptung von Lütz.

Auf S. 266 gelangt der Autor zu der erstaunlichen Feststellung, der hl. Alphons von Liguori, der Patron der Beichtväter, habe dazu geraten, "dass die Priester bei der Beichte in sexuellen Dingen nicht weiter nachfragen sollten." Wozu aber hat dieser dann sein großes Werk, die "Theologia moralis", geschrieben? 1748 erstmals erschienen und dann über 70-mal wieder aufgelegt! Sein Ziel war es, gute Beichtväter heranzubilden, die den Grad der Sündhaftigkeit aller möglichen sexuellen Handlungen beurteilen können. Mit Details wird bei Liguori nicht gespart. Seine Einstellung zum Sextum wird schon im ersten Band deutlich: "Nur mit Widerwillen schreiten wir jetzt zur Behandlung jenes Gegenstandes, dessen Name schon die Geister der Menschen unangenehm berührt....Doch diese Sünde muss nur allzu häufig und allzu reichlich Gegenstand der Beichten werden. Gerade ihretwegen wird der größte Teil der Verdammten in die Hölle gestürzt" (zitiert nach Karl-Heinz Kleber, De parvitate materiae in sexto, S. 275).

Fazit: In gewollt lockerer Weise hat Lütz das breite Themenfeld der Geschichte des Christentums beackert. Sein von der Kirchengeschichte entworfene Bild erschließt kein wissenschaftliches Neuland. Lütz wandelt auf Pfaden, die andere für ihn ausgetreten haben, was er ja auch zugesteht. Dass er dabei um Karlheinz Deschner einen großen Bogen macht, ist leicht verständlich, weniger aber, dass er auf S. 48 Gerd Althoff als international renommierten Mittelalterforscher preist, dessen Buch "Selig sind, die Verfolgung ausüben" aber Päpste und Gewalt im Hochmittelalter nicht zur Kenntnis nimmt. Um ein möglichst geschöntes Bild hinzubekommen und die Skandale herunterzuspielen, musste er kräftig retuschieren. Viele seiner überspitzten Thesen lassen sich durch Detailkritik widerlegen. Das trifft auch für die Zeit des Nationalsozialismus zu.

Herr Lütz hat wohl noch nie einen Blick in das katholische Feldgesangbuch von 1939 geworfen. Am Erscheinungsort seines Buches hat 1940 der damalige Erzbischof ein Hirtenwort an die Soldaten im Feld gerichtet unter dem Motto: "Arbeite als ein guter Kriegsmann Christi". Dessen Paderborner Amtskollege stellt zu Beginn der Fastenzeit 1942 in einem Hirtenwort die rhetorische Frage, ob nicht das arme, unglückliche Russland Tummelplatz von Menschen sei, "die durch ihre Gottfeindlichkeit und durch ihren Christenhaß fast zu Tieren entartet sind." Das liest sich konträr zu dem, was Lütz auf S. 213 hervorhebt: "Den Christen verbot die Überzeugung von der Gottebenbildlichkeit jedes Menschen den Gedanken 'minderwertiger Rassen'."

Einigen Wert kann man dem Buch von Lütz nur dann zusprechen, wenn es den Leser zu einer ehrlicheren Beschäftigung mit den angesprochenen Problemen führt. Dabei wird der allerdings zu einer von Lütz abweichenden Sicht gelangen.

Manfred Lütz, Der Skandal der Skandale. Die geheime Geschichte des Christentums, Verlag Herder, Freiburg im Breisgau 2018, 286 S., ISBN 978-3451-37915-4, gebundene Ausgabe, 22,00 Euro