O du lieber Augustin, (fast) alles ist hin!

WEIMAR. (hpd) Die Überschrift zu dieser Rezension nimmt mit Bedacht Bezug auf ein seit etwa 1800 in Wien nachgewiesenes volkstümliches, galgenhumoriges Spottlied. Denn hiermit kann durchaus das Fazit des jüngsten kirchenkritischen Buches des promovierten Theologen Hermann Detering (“O du lieber Augustin”) in der Kürze, in der die Würze liegt, auf den Punkt gebracht werden.

Augustinus (354 – 430) gilt auch heute noch als der bedeutendste Kirchenlehrer und wichtigster katholischer Philosoph in der römischen Spätantike. Ihm werden unzählige Schriften unterschiedlichster Genres zugeschrieben; diese gelten Theologen und klerusfreundlichen Wissenschaftlern als absolut sakrosankt. Eine der wichtigsten Schriften des Augustinus sind die “Confessiones” (Bekenntnisse), die als Autobiographie gelten und allgemein hochgeschätzt zur Weltliteratur gerechnet werden.

Und nun kommt Hermann Detering und stellt ausgerechnet die Echtheit der augustinischen Bekenntnisse, dessen Autobiographie in Frage. Unerhört, schreien da sicherlich Kleriker, Theologie- und Kirchengeschichtsprofessoren laut auf. Doch Deterings Zweifel sind keinesfalls jetzt wie aus heiterem Himmel über die Christenwelt gekommen, sie sind auch keine bloßen Behauptungen.

Nein, alles begann für ihn bereits Ende der 1970er Jahre, als der Theologiestudent Hermann Detering es in einem kirchengeschichtlichen Seminar an der Freien Universität (West-)Berlin unternahm, ein Referat zu Augustins “Confessiones” zu halten. Schon beim Quellenstudium und etlicher Sekundärliteratur kamen dem jungen Studenten angesichts von inhaltlichen und stilistischen Brüchen und logischen Ungereimtheiten einige Zweifel. Zweifel, die er auch seinem als Koryphäe geltenden Professor vortrug und die dieser (theologentypisch) vom Tische wischte. Das wirkte für einige Jahre, doch mit dem sich etablierenden Computerzeitalter konnte sich Detering alle dem Augustinus zugeschriebenen Werke auf die Festplatte und auf den Schirm holen. Und nun begannen erneut Vergleiche, die seine Zweifel erneuerten, ja sogar bestärkten. Und er begann wie ein Kriminalist mit der Spurensuche.

Und so wurde diese Schrift ein sehr persönliches Buch, in dem Detering konsequent in der Ich-Form schreibt, was den wissenschaftlichen Charakter (und Wert) keinesfalls mindert, sondern diese aus einer abstrakt-akademischen Ebene auf den Boden konkreter Realität stellt. Dazu lese man nur die Einleitung, überschrieben mit “Ein Denkmal…”; die mit dem 2. Kapitel “…wird inspiziert” eine adäquate Fortsetzung findet. Hier geht es um belegte biographische Angaben des kirchenväterlichen Bischofs aus dem nordafrikanischen Hippo, um vorliegende Quellen, aber auch erneut um Deterings eigenes frühes Unbehagen, wie er auf einen ungenannten Freund und Förderer Augustins stößt und einen “doppelten Augustin” erkennt.

Er schreibt hierzu: “In gewisser Weise ähnelten die Anfänge der historischen Augustin-Forschung denen der Leben-Jesu-Forschung, die damals, ungefähr zur selben Zeit, den Gegenstand unserer neutestamentlichen Vorlesungen bildeten. Wie die Leben-Jesu-Forschung einst im 18. Jahrhundert mit der Entdeckung der Diastase zwischen kirchlichem Christus und historischem Jesus begonnen hatte, so stand auch am Beginn der Augustin-Forschung die Entdeckung, dass das Augustin-Bild der ‘Confessiones’ nicht ohne weiteres mit dem der Frühschriften vereinbar sei.” (S. 37)

Detering fing erneut an, sich Fragen zu stellen – siehe S. 42, und er begann mit einem “Nüsseknacken – Nuculae Augustinianae”, wie er sein 3. Kapitel titelte. Hier schreibt er u.a. : “Der Blick richtete sich vom vierten auf die ersten beiden Jahrhunderte. Auf Paulus und seine ‘Briefe’ zumal, an deren Kritik sich Generationen von Neutestamentlern die Zähne ausgebissen hatten. Hier ließen sich die ausgebufftesten Methoden literarischer ‘Echtheitskritik’ lernen.” (S. 43)

Detering läßt seine Leser detailliert an der eigenen Spurensuche, an den begründet stärker werdenden Zweifeln, an seinen eigenen Fragestellungen teilhaben. Eine der gewonnenen Erkenntnisse aus dem Studium diverser Augustin-Schriften fasst er so zusammen und diese Erkenntnis deutet auch bereits das schließlich gewonnene Ergebnis an: “Wer, von der antiken Literatur kommend, zum ersten Mal die ‘Confessiones’ in die Hand nimmt, muss sich auf einen Kulturschock vorbereiten. Schon bei der Lektüre der einleitenden Abschnitte erhält er den Eindruck, als würde die Tür der Antike hinter ihm zufallen und als würde er hart und unvorbereitet in eine andere Welt gestoßen – in die des Mittelalters.” (S. 57)

In den Kapiteln 4 bis 6 “Von Alkuin zu Augustin”; “Ein Beter vor dem Herrn – Johannes von Fécamp” und “Der Wiedergänger – Anselm von Aosta” geht Detering eingehend den Fragen nach, welcher mittelalterliche Autor denn nun als tatsächlicher Schreiber der “Confessiones” in Frage kommen könnte und warum wohl dieser ein eigenes Werk unter fremdem Namen herausgegeben habe. Die Details dieser Spurensuche möge aber jeder Leser selbst mitverfolgen. Es lohnt sich!

Hier stellt Detering u.a. Passagen aus den “Confessiones” denen aus Schriften mittelalterlicher Autoren (dankenswerterweise in deutscher Übersetzung) gegenüber. Also Autoren, die als tatsächliche Verfasser dieses “augustinischen” Werkes in Frage kommen könnten. Die Textvergleiche münden in Schlussfolgerungen und weiteren Fragestellungen. In diesem Zusammenhang stellt Detering seinen Lesern auch diese mittelalterlichen Kirchenschriftsteller vor und vermittelt damit zugleich ein sehr aussagekräftiges geistesgeschichtliches Bild dieser Zeit.

Dabei unterstellt er den klerikalen mittelalterlichen Literaten aber keinen vorsätzlichen Betrug, “denn auch das gehört zum Paradox mittelalterlicher Schrifstellerpraxis: Die Autoren waren zu bescheiden, um ihren eigenen Namen über die Werke zu setzen, aber selbstbewusst genug, um zu wissen, dass sie es (als vom heiligen Geist inspirierte Werke) verdienen, unter dem Namen berühmter Kirchenväter in Umlauf gebracht zu werden.” (S. 142)

Diese Fälschungen hätten aber nichts mit den damals üblichen vorsätzlichen Fälschungen in päpstlichen, bischöflichen und klösterlichen Schreibstuben gemein, die nur den einen Zweck hatten: sich weltliche (territorialstaatliche) und wirtschaftliche (grundeigentümerliche) Macht anzueignen.

In Kapitel 7 “Making of Confessiones” schreibt Detering: “Es wird Zeit für eine Synthese. Wir sind an einem Punkt angelangt, wo wir die Perspektive wechseln können. In den zurückliegenden Kapiteln entdeckten wir, dass die ‘Confessiones’ nicht sind, was sie zu sein vorgeben und was der gelehrte Mainstream seit jeher unwidersprochen behauptet…” (S. 185)

Die Deteringsche Synthese kann durchaus überzeugen, aber auch dies sollte ein jeder selbst mitnachvollziehen. Ergänzend zu Kapitel 7 widmet sich das achte (“Die Wolke der Zeugen”) den vorgeblichen äußeren Zeugnissen für die Existenz der ‘Confessiones’.

Im abschließenden 9. Kapitel “Mittelalter – Zeit der Fälschungen?” wirft Hermann Detering dann einen umfassenderen Blick auf das Schrifttum und die Schreibstuben des Mittelalters, also auf ureigene katholische klerikale Praktiken, wie oben schon angedeutet. Er gibt einen Überblick über eine “Galerie mittelalterliche Fälschungskunst mit der ‘Konstantinischen Schenkung’ – eine im 8. Jahrhundert entstandene ebenso plumpe wie effektive Fälschung der päpstlichen Kanzlei, mit deren Hilfe die Weltherrschaft des Papstes begründet werden sollte.” (S. 237)

Weiter heißt es auf S. 238: “Die vermeintlichen Briefe frühkirchlicher Päpste verdanken sich in Wahrheit der Redaktionskunst westfränkischer Kleriker, die sie aus circa zehntausend durchweg gefälschten Zitaten zusammenstellten. Auch dabei ging es um kirchenrechtliche Absicherung päpstlicher Macht.”

Das trifft den Kern auch der Fälschung des Augustinus: Neben der politischen und ökonomischen Macht ging es der katholischen Priesterkaste nicht zuletzt um die ideologische Macht, um die Herrschaft über die Köpfe der Menschen. “Kirchenväterliche” Schriften sollten Waffe im Kampf gegen Häretiker, gegen Ketzer und im Mittelalter erstarkende ketzerische Bewegungen (Katharer, Waldenser, Bogomilen etc.) sein!

Das führt aber auch zu zwei grundsätzlichen Fragen – eine moralische und eine intellektuelle, die Detering kurz und prägnant zu beantworten versucht: “Wie konnte das Mittelalter so viele Fälschungen hervorbringen?” sowie “Wie konnte es so viele Fälschungen hinnehmen?” (S. 238)

Hermann Detering schreibt zusammenfassend über das Fazit seiner Spurensuche, für den Leser möglicherweise doch etwas verblüffend: “Als Autor der ‘Confessiones’ ist an die Stelle des bedeutenden Kirchenlehrers Augustin – wer immer dies gewesen sein mag – ein anderer bedeutender Kirchenlehrer, Anselm von Aosta – wer immer dies gewesen sein mag – , getreten. Na und? In literarischer und theologischer Hinsicht haben wir nichts verloren.” (S. 250)

Dem ist nichts hinzuzufügen, außer: Detering beweist mit dieser Schrift, dass er kein Theologe (im negativen Wortsinne) ist, sondern ein exakt arbeitender Wissenschaftler (Historiker und Literaturkritiker).

Es folgen drei Anhänge, in denen Detering seine Textvergleiche im lateinischen Original präsentiert, so dass Altphilologen nicht auf deutsche Übersetzungen angewiesen sind. Neben einem Register schließen sich noch ein umfangreiches Literaturverzeichnis sowie ausführliche Anmerkungen an.

Zusammenfassend und teilweise wiederholend kann der Rezensent sagen, dass dies wirklich ein sehr persönliches Buch ist, das in der dezidierten Ich-Form sogar noch gewinnt. Es ist eine sehr lesbare und auch “Laien” ansprechende wissenschaftlich-argumentative Schrift, also keinesfalls eine trockene, abstrakte theoretische Elfenbeintum-Abhandlung.

Der Leser kann mitverfolgen und nachvollziehen – und das sogar auf sehr spannende Weise, wie sich der Autor seinem Gegenstand gewidmet hat, wie seine Zweifel wuchsen und wie er sich dann – wie ein Kriminalist – auf Spurensuche begab: In alle Richtungen offen ermittelnd, das Für und Wider abwägend, die Beweiskraft der Quellen und “Zeugen” nachprüfend und hinterfragend. Beispielhaft kommt der wissenschaftlich-kriminalistische Spürsinn in der Gegenüberstellung Alkuin – Augustinus zum Vorschein: Verdachtsmoment – Indizien – Recherche und Belege – Analyse – Synthese zum Ausdruck.

So geschrieben, ist das Buch keinesfalls nur für “Insider” gedacht, sondern tatsächlich eine für jedermann geeignete Lektüre: Humanistische Kirchenkritik auf hohem, höchstem Niveau, wie sie eben nur ein studierter Theologe üben kann. Damit ein echter Gewinn für jeden religionsfreien Menschen, nicht zuletzt für Laizisten.

Auch wenn fast alles hin ist, was die Priesterkaste um den Augustinus aufgebaut hat, auch wenn nicht jedes ihm zugeschriebene Buch von ihm auch verfasst worden ist, so schmälert das dennoch nicht das Erbe dieses Menschen; er bleibt ein intellektuell hochstehender Mann seiner Zeit. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Das Wiener Spottlied kann hier also nur eingeschränkt zitiert werden, also nur mit einem eingeklammerten “fast”. Auch dafür ist Detering Dank zu sagen.

 


Hermann Detering: O du lieber Augustin. Falsche “Bekenntnisse”?. 312 S. brosch. Alibri-Verlag. Aschaffenburg 2015. 22 Euro. ISBN 978–3–86569–181

 

Das Buch ist auch bei unserem Partner Denkladen erhältlich.

Siehe auch das Interview mit dem Autoren im hpd.