Offener Brief von Rolf D. Herzberg an Manfred Lütz

"Der Skandal der Skandale"?

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Rolf Dietrich Herzberg
Rolf Dietrich Herzberg

Manfred Lütz hat mit "Der Skandal der Skandale – Die geheime Geschichte des Christentums" einen weiteren Bestseller vorgelegt, der die Kirchengeschichte in apologetischer Weise umdeutet. Der bekannte Strafrechtsprofessor Rolf Dietrich Herzberg, der im Beirat der religionskritischen Giordano-Bruno-Stiftung gerne mal den "advocatus dei" spielt und dabei kirchliche Sichtweisen verteidigt, hat nach der Lektüre des Buchs einen "Offenen Brief an Manfred Lütz" verfasst, den der hpd nachfolgend veröffentlicht.

Sehr geehrter Herr Dr. Lütz!

Sie haben vielen und auch mir über das Fernsehen einen ersten Eindruck verschafft von Ihrem neuen Buch "Der Skandal der Skandale – Die geheime Geschichte des Christentums". Ich hatte auch vorher schon viel Belehrendes und Einleuchtendes aus Ihrem Munde vernommen – aber noch keine Zeile aus der Feder des Bestsellerautors Manfred Lütz gelesen. Dass mich nun Ihr Buch interessierte, hat einen besonderen Grund. Ich gehöre dem Beirat der Giordano-Bruno-Stiftung (gbs) an. Vielleicht wissen Sie, dass aus dieser Stiftung heraus Kritik geübt wird an vielen religiösen Glaubenssätzen und manchem realen Verhalten religiöser Gemeinschaften, z.B. christlicher Kirchen; Kritik, wie man sie etwa in dem zehnbändigen Forschungsbericht "Kriminalgeschichte des Christentums" von Karlheinz Deschner findet.

Ich selbst bin immer noch ein kirchensteuerzahlender Katholik und verspüre in mir Reste emotionaler Anhänglichkeit. In Wuppertal-Ronsdorf, wo ich wohne, pflege ich freundlichen Umgang mit katholischen, lutherischen und reformierten Geistlichen, die meines Wissens zur Kriminalgeschichte des Christentums noch nichts beigetragen haben und durchaus dem Wohle des Volkes dienen. So fällt mir in stiftungsinternen Gesprächen, wenn es um die Kirchen geht, oft die Rolle dessen zu, der relativiert und zum Guten redet.

Cover

Nun war mir nach Ihrer Vorstellung des Buches klar, dass Sie darin die "Skandalgeschichte des Christentums" (Lütz, S. 14 !) eher mildernd und gewiss nicht kirchenfeindlich darstellen. Aber die gbs lässt, das kann ich versichern, jeden objektiven Bericht und jedes rationale Argument gelten, einerlei, welche Weltanschauung, Sympathie oder Neigung ihm zugrunde liegt. Darum dachte ich, Ihr Buch könne vielleicht einen interessanten Kontrapunkt zu Deschners polemischem Werk bilden; vorausgesetzt natürlich, dass es vom Geist der Vernunft und wissenschaftlichen Redlichkeit geprägt ist, dass Ihnen, um noch etwas höher zu greifen, ein "kritischer Rationalismus" die Feder geführt hat, wie dies unser Beiratssenior, der Philosoph Hans Albert, verlangt. Den besten Aufschluss, wes Geistes Kind der neue Bestseller ist, erhoffte ich mir davon, zu erfahren, wie Sie die katholische "Dogmatik" beurteilen, in Sonderheit die beiden Dogmen, dass der Papst unter bestimmten Umständen "unfehlbar" die Wahrheit erkenne und verkünde und dass Maria "nach Ablauf ihres irdischen Lebens mit Leib und Seele in die himmlische Herrlichkeit aufgenommen" worden sei. Hier geht es ja um klare Behauptungen, man kann schwerlich etwas umdeuten, abschwächen und "historisch richtigstellen", wie man es bei manchen Skandalen der Ketzerverfolgung, der Inhumanität und Grausamkeit kann. Z.B. im Fall Giordano Bruno. Da kann man betonen, dass das "Heilige Offizium" dem kritischen Gelehrten zwar wegen Ketzerei und Magie das Urteil gesprochen, ihn aber dem weltlichen Gericht des Gouverneurs in Rom überstellt habe, und das verbunden mit der christlichen Bitte um Schonung seines Lebens. Die kirchlichen Inquisitoren, ließe sich vorbringen, hätten den Scheiterhaufen zwar vorausgesehen, aber nicht gefordert. Der Gouverneur sei schuld, nicht die Kirche, und die habe, schon nach wenigen Jahrhunderten, zunächst den Index librorum prohibitorum, mithin das Verbot der Lektüre Bruno’scher Schriften aufgehoben und dann sogar die Hinrichtung zum "Unrecht" erklärt.

Mein Vorsatz war also, nach der Einleitung sogleich in unsere Zeit, ins 19. und 20. Jahrhundert zu springen und den Abschnitt "Die Unfehlbarkeit des Papstes – ein liberales Dogma?" zu studieren. In der "Skandalgeschichte des Christentums" sehe ich hier so etwas wie einen "intellektuellen Skandal": Die Kirche, so sagt es die katholische Glaubenslehre auch heute noch, kann in der Person des Papstes, wenn er "ex cathedra" spricht, unter Ausschluss der Möglichkeit des Irrtums etwas als wahr, als tatsächliches Geschehnis erkennen und verkünden, und zwar auch dann, wenn die Wissenschaft es als höchstwahrscheinlich unwahr, als tatsächlich nicht geschehen, als naturgesetzlich ausgeschlossen beurteilt. Z.B. dass vor gut 2.000 Jahren im Morgenland einmal ein menschlicher Embryo aus einer unbefruchteten Eizelle entstanden und zum Menschen ohne einen biologischen Vater geworden sei. Oder dass Jesus gestorben sei und sein Leichnam sich im Grabe zurückverwandelt habe in einen lebenden Menschen. Oder dass der Leib seiner Mutter Maria vom Erdboden weg in eine jenseitige Welt entschwunden sei. Und noch mitten im 20. Jahrhundert verpflichtete Pius XII. in seiner Enzyklika "Humani generis" die Christen, daran zu glauben, dass die gesamte Menschheit von einem einzigen, von Gott erschaffenen Mann namens Adam abstamme. Obwohl nicht ex cathedra verkündet, ist auch das laut Enzyklika eine "durch die Kirche geoffenbarte Wahrheit, die wie ein heller Stern den Verstand des Menschen erleuchtet" und die zu bestreiten "die Kirche dem Christenmenschen nicht die Freiheit" lasse. An dieser Lehre hält Pius fest, weil der "Polygenismus" – die Evolutionstheorie erwähnt er gar nicht erst – nicht "in Übereinstimmung gebracht werden kann mit dem, was die Quellen der Offenbarung und die Akten des kirchlichen Lehramtes über die Erbsünde sagen"; sie sei die "wirklich begangene Sünde Adams, die durch die Geburt auf alle überging und jedem einzelnen zu eigen ist".

Wenn ein Papst solche absurden Behauptungen ex cathedra aufstellt, dann "besitzt er", sagt das Dogma von 1870, "Unfehlbarkeit", dann sind die Behauptungen mit Gewissheit wahr. Und "wenn sich jemand – was Gott verhüte – herausnehmen sollte", der jeweiligen Behauptung "zu widersprechen, so sei er ausgeschlossen". Man hüte sich also, die päpstliche Unfehlbarkeit für Ex-cathedra-Sprüche oder die "leibliche Aufnahme Mariens in den Himmel" zu bestreiten! Es droht der "Ausschluss" – was immer das heißen mag. Was die katholische Glaubenslehre mit solchen Glaubensbefehlen der menschlichen Vernunft zumutet, ist ungeheuerlich und lächerlich zugleich.

Und wie stellen Sie sich dazu? Keine Empörung, kein Spott, nicht einmal ein Zweifel, nur Sympathie und freundliche Billigung. Sie legitimieren das Mariendogma mit den Erkenntnissen päpstlich-sorgfältiger Glaubenserforschung – als ob es darauf für die Glaubwürdigkeit ankäme! "Mehrere Tausend Bischöfe in aller Welt hatte Papst Pius XII. zuvor befragt, ob man das bei ihnen in der Diözese seit unvordenklichen Zeiten glaube, und erst als fast alle das bestätigten, schritt der Papst zur Dogmatisierung" (S. 200). Notabene: Ich kenne niemanden, der glaubt, dass jemals ein Mensch "mit Leib und Seele in den Himmel aufgenommen worden sei" (S. 200), und nicht einmal Ihnen oder dem Papst traue ich diesen Glauben zu.

Aus dem Dogma von 1870 machen Sie sogar ein Ruhmesblatt der Kirche! Sie argumentieren: Weil Pius IX. der Unfehlbarkeit des Papstes Grenzen zieht, erlaubt er indirekt auch Kritik an päpstlichen Äußerungen und an der Kirche. Das Dogma, sagen Sie, betont geradezu die Fehlbarkeit der Kirche und verbietet "allen Katholiken … und dem Papst fast immer auch", für sich Unfehlbarkeit zu beanspruchen. "Das Unfehlbarkeitsdogma wirkt daher eher als Unfehlbarkeitsverbot"; "im Grunde könnte man es liberal nennen" (S. 201). Nicht die leiseste Kritik üben Sie am positiven Kern des Dogmas. Stattdessen greifen Sie die Kritiker an und lenken schnell ab auf den Kulturkampf, worin die katholische Kirche manche Schikanen erlitten und dabei eine respektable Figur gemacht hat. "Man verfälschte die Aussage des Dogmas grotesk zum Skandal", und Bismarck setzte "eine regelrechte Katholikenverfolgung ins Werk, obwohl doch eigentlich das, was Katholiken glaubten, den Staat überhaupt nichts anging" (S. 201). Aber skandalös ist das Dogma ohnehin, man muss es nicht erst verfälschen. Und dass Katholiken das Recht haben zu glauben, was ihre Kirche lehrt oder was immer sie glauben wollen, war auch für Bismarck selbstverständlich. Die Kritik an Dogmen und Glaubenslehren ist ohne Weiteres vereinbar mit der entschiedensten Anerkennung der Glaubensfreiheit und der Freiheit, sich zu seinem Glauben laut zu bekennen. "Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst" (Voltaire).

Sie mögen vieles richtig dargestellt und manches auch richtiggestellt haben. Aber Ihr Versprechen, "der Skandalgeschichte des Christentums vorurteilsfrei mit dem Skalpell der Wissenschaft zu Leibe zu rücken" (S. 14), das lösen Sie nicht ein. Statt die Arroganz, die geistige Enge und wissenschaftliche Rückständigkeit, die Intoleranz und die Absurdität mancher Glaubenssätze der katholischen Kirche anzuprangern, bieten Sie im einschlägigen Abschnitt nichts als Apologie, Beifall und Irreführung. Wieso stehen "hohe Hürden" vor einem Ex-cathedra-Spruch? Wieso begrenzt ausgerechnet das Unfehlbarkeitsdogma die "Rechthaberei"? Kirchenrechtlich hindert nichts den Papst, die abenteuerlichsten Glaubenssätze zu Dogmen zu erhöhen. Z.B. die jungfräuliche Schwangerschaft Mariens. Oder den Kreationismus. Ihm hängen ja viele religiöse Menschen an. Pius XII. hat ihn schon in Form eines skurrilen "Adamismus" per Enzyklika zur geoffenbarten Wahrheit erklärt, die wie ein heller Stern den Verstand des Menschen erleuchte. Jederzeit konnte und kann ein Nachfolger diese Offenbarung ex cathedra besiegeln. Sie können nicht sicher sein, sondern nur hoffen, dass der Geist der Aufklärung und Wissenschaft dies verhindert. Auf den Heiligen Geist würde ich mich da nicht verlassen.

Mit freundlichen Grüßen und guten Wünschen
Rolf Dietrich Herzberg