Gesammelte Schriften von Alexander von Humboldt erschienen

Der Andere Kosmos

"Es kann sein, dass wir irgendwann zu fernen Planeten reisen werden und dorthin werden wir dann unsere Mixtur aus Arroganz, Gier und Gewalt mitnehmen. Wir werden diese Planeten so veröden, wie wir es schon mit unserer Erde tun." Das ist nicht etwa ein Text der "Fridays-for-Future"-Bewegung, das ist ein Text, den Alexander von Humboldt Anfang des 19. Jahrhunderts geschrieben hat.

Ein Visionär war er zwar auch, der Zeichen setzte für künftige Generationen – das ergab sich einfach angesichts der Tatsache, dass er Zusammenhänge konstatierte, die noch nie vorher miteinander verknüpft worden waren. Das war auch das Verblüffenste, das die beiden Herausgeber Oliver Lubrich und Thomas Nehrlich herausgefunden hatten, als sie anfingen, sich mit Alexander von Humboldt zu beschäftigen. Sie entdeckten Schnittlinien, Gegensätze, die aufeinanderprallten, sich ergänzten, veränderten und so ein sichtbares Ganzes zeitigten. Wie ein Fluss, der sich ständig veränderte. Das war auch zum Beispiel eine Erkenntnis, die sich Humboldt aufdrängte, als er die Veränderung des Wasserspiegels beim Orinoco festhielt. So "erfuhr" er das Ökösystem.

Bei einer Veranstaltung vorige Woche (17. Juli 2019) in der Staatsbibliothek wurden Teile der gesammelten Schriften Humboldts vorgestellt – "der Kosmos" zuerst, eine Sammlung im Überblick, die zehnbändige Ausgabe, die bei dtv erscheint, folgt im August 2019. Dem dtv-Verlag ist ein solches Vorhaben nicht neu – das "Grimm’sche Wörterbuch" war ein solches Großprojekt wie die Gesamtausgabe von Goethes Werken. A propos Goethe, auch er ein Fan Humboldtscher Kenntnisse, die er einmal kommentierte, dass Humboldt in einer Stunde dermaßen viel Wissen offenbarte, wie man sie sich nicht in acht Tagen anlesen könne. Darüber hinaus schrieb Goethe seltsamerweise immer dann an seinem "Faust" weiter, wenn er Humboldt getroffen hatte. Und hatte ihn in "Faust II" 'eingebaut'.

Cover

Entstanden ist eine 7.000 Seiten umfassende Ausgabe sämtlicher Schriften Humboldts – neben den beiden 'Bestsellern' "Ansichten der Natur" (1808) und "Kosmos" (1845–1862), diese sogenannte 'Berner Ausgabe' also jetzt, weil die beiden Herausgeber in Bern an der Universität lehren.

Unter der kenntnisreichen Moderation des Literaturwissenschaftlers und Moderators Denis Scheck gaben die beiden Auskunft über Details aus dem Leben Humboldts (1769–1859) und seiner Rezeption damals und heute. Er konnte sich die vielen Reisen leisten und er steckte wohl fast alles in die Forschung, weil er von seiner Mutter, mit der er eigentlich zu ihren Lebzeiten sehr im Clinch lag, was auch die berufliche Laufbahn anging, ein sehr großes Vermögen nach ihrem Tod geerbt hatte. Humboldt war schon zu Lebzeiten einer der bekanntesten Zeitgenossen, was ihn manchmal auch ein bisschen störte, besonders als er merkte, dass es mit seinem Leben zu Ende ging.

Frank Arnold, Schauspieler und Sprecher, zitierte an diesem Abend unter anderem den Hilferuf, den der fast 90-jährige in die Zeitungen setzen ließ:

"Leidend unter dem Drucke einer immer zunehmenden Correspondenz fast im Jahresmittel zwischen 1600 und 2000 Nummern (Briefe, Druckschriften über mir ganz fremde Gegenstände, Manuscripte, deren Beurtheilung gefordert wird, Auswanderungs- und Colonialprojecte, Einsendung von Modellen und Naturalien, Anfragen über Luftschifffarth, Vermehrung autographischer Sammlungen, Anerbietungen, mich häuslich zu pflegen, zu zerstreuen u. zu erheitern u.s.w.), versuche ich einmal wieder, die Personen, welche mir ihr Wohlwollen schenken, öffentlich aufzufordern, dahin zu wirken, dass man sich weniger mit meiner Person in beiden Continenten beschäftige und mein Haus nicht als Adress-Comptoir benutze, damit bei ohnedies abnehmenden physischen und geistigen Kräften mir einige Ruhe und Musse zu eigener Arbeit verbleibe. Möge dieser Ruf um Hülfe, zu dem ich mich ungern und spät entschlossen habe, nicht lieblos gemissdeutet werden." (Alexander v. Humboldt, Berlin, 5. März 1859)

Das Vorhaben, all das, was Humboldt jemals publiziert hatte, neu herauszugeben, existierte schon länger – einer, der auch da Hinweise gab, war der Schriftsteller Raoul Schrott, auch er ein Weltreisender, der immer wieder heute noch bei seinen Reisen auf Hinweise Humboldts gestoßen war, ein mühseliges Unterfangen – wie die beiden Herausgeber bei der Veranstaltung bestätigten. Sie gingen allen Hinweisen aus der ganzen Welt nach und komplettierten die Einzelnachweise aus vielen erdenklichen Publikationen in mehr als einem Dutzend Sprachen, in 1.240 Medien an 440 Orten auf fünf Kontinenten. Schon zu Lebzeiten veröffentlichte Humboldt allein 800 Aufsätze, Reisebeschreibungen und Essays zu Kolonialismus, Sklaverei, Religion ("selbst unter dem Äquator sind die Priester falsch") und besonders zu Menschenrechten, ein also nicht nur neues Kapitel heute. Was davon korrekt in andere Sprachen übersetzt wird, ist zuweilen etwas undurchsichtig, weil das nicht sofort nachprüfbar ist – der Verlag hatte bei einer früheren Veranstaltung zu diesem Vorhaben im "Tieranatomischen Theater" an der Berliner Charité darauf hingewiesen, dass Originale dazu in russischer Sprache verändert wurden, wie man aufgrund von Hinweisen herausfand. Man bedenke, dass bis zu der Herausgabe des gesammelten Werkes jetzt bei dtv erst fünf Prozent der Schriften publiziert worden waren.

Zehn Jahre ungefähr hat die Erforschung aller Medien gedauert, Humboldt war einer der ersten Forscher, die sich mit der Natur als Ganzem beschäftigten, die das Ökosystem erkannten. Zwei große Reisen waren es, die ihn zu den vielen Artikeln drängten. Nach Südamerika und nach Asien – eigentlich wollte er an Weltreisen teilnehmen, die andere Forscher unternahmen, aber das klappte aus zeitlichen Gründen nicht, nicht weil er diese Zeit nicht hatte, sondern weil die anderen schon unterwegs waren. Ja, Zeit, wenn man sich die Vielfalt der Artikel vor Augen hält, dann fragt man sich immer wieder, woher er diese Zeit nahm. Zeitzeugen berichteten, beziehungsweise er erwähnte das auch einmal, dass er nur vier Stunden schlief, um sich dann den Erkundigungen und den Forschungen widmen zu können – und das wollte er natürlich auch zu Papier bringen.

Sicher war er nicht zimperlich, wenn man von den Hinterlassenschaften in Gräbern oder Heiligtümern liest, die er akribisch skizzierte, alles im Dienste der Erforschung – heute würde man ihn dafür einem Grabräuber nennen. Diese Skrupel hatte er nicht, was etwas verwunderlich ist ob seiner Einstellung zu den Indigenen.

Diese Fülle von Material, diese Sammlung von Artikeln zu sichten, ist fast unmöglich, noch unmöglicher scheint es, darüber nur ein von paar Zeilen zu verfassen.. Den Grundstein haben die Herausgeber gelegt ... Und bedrückend ist es, wenn man die jeweiligen Erscheinungsdaten der Artikel von damals weglässt ...

Siehe oben ...

Alexander von Humboldt, Oliver Lubrich (Hrsg.), Thomas Nehrlich (Hrsg.), Der Andere Kosmos – 70 Texte, 70 Orte, 70 Jahre. 1789 - 1859, dtv, 2019, 30,00 Euro