Gegen den diktatorischen "real existierenden Sozialismus"

Erinnerungen an die intellektuelle Opposition

Der Publizist Marko Martin legt in seinem Buch "Dissidentisches Denken. Reisen zu den Zeugen eines Zeitalters" persönliche Portraits von Intellektuellen vor, die zur intellektuellen Opposition gegen den diktatorischen "real existierenden Sozialismus" gehörten. Es handelt sich tatsächlich um geistige oder persönliche Reiseberichte, die empathisch an heute mitunter schon wieder vergessene Denker der Freiheit des 20. Jahrhunderts erinnern.

Julien Benda schrieb das Buch "Der Verrat der Intellektuellen" (1927). Darin ging es um deren Anlehnung an die Macht, sollten demgegenüber Intellektuelle doch Kritiker von Ungerechtigkeiten sein. Indessen legitimierten nicht wenige Denker auch autoritäre Regime und zwar nicht nur von rechts. Es gab auch viele sich als links verstehende Intellektuelle, die auch linke Diktaturen huldigten und deren Menschenrechtsverletzungen verschwiegen. Es gab aber auch linke Intellektuelle, die zu ihren freiheitlichen Idealen standen und hier eine distanzierende Position klar formulierten. Mitunter gehörten sie zunächst selbst einer Kommunistischen Partei an und brachen mit ihr, mitunter lebten sie in den Diktaturen des "real existierenden Sozialismus" und gehörten dort zur geistigen Opposition. Der Journalist Marko Martin beschäftigte sich mit ihnen schon seit langer Zeit. Er besuchte auch einige dieser Denker nach 1990 und sammelte dabei seine persönlichen Eindrücke. Darum geht es in seinem Buch mit dem Untertitel "Reisen zu den Zeugen eines Zeitalters".

Cover

Es trägt den Haupttitel "Dissidentisches Denken" und meint eben die Dissidenten, die mitunter als Renegaten galten. Der letztgenannte Begriff wurde häufig in negativer Konnotation genutzt, stand er doch für "Abweichung", "Revisionismus" und "Verrat". Doch nicht diese kritischen Denker verrieten ihre Ideale, es waren die kommunistischen Diktaturen, die das taten. Daran erinnert Martins Sammlung von Portraits. Sie ist nicht nach einem formalen Prinzip strukturiert, was sowohl für das ganze Buch wie für die Kapitel gilt. Gab es persönliche Begegnungen, so stehen diese häufig im Vordergrund. Dabei hält sich der Autor selbst als Person angenehm zurück. Er verzichtet auch auf die Dokumentation einschlägiger Fotos, die mehr als nur kitschig und unangemessen gewirkt hätten. Mitunter gab es nur geistige Begegnungen, etwa wenn die gemeinten Denker schon früh verstarben. Dann hatte der vergleichsweise junge Autor, der Jahrgang 1970 ist und in der DDR aufwuchs, keine Gelegenheit mehr zu persönlichen Kontakten.

Um wen geht es alles? Bekannte Namen sind Jürgen Fuchs, Edgar Hilsenrath, Arthur Koestler, Milan Kundera, Melvin J. Lasky oder Manés Sperber, weniger bekannte Namen sind Horst Binek, Hans Sahl, Anne Ranasinghe, Robert Schopflocher, Josef Skvorecky oder Alexander Spiegelblatt. Alle werden mit großer Empathie gezeichnet. Berechtigt könnte man den Einwand erheben, der Autor habe die Distanz zum Gegenstand seines Themas verloren. Doch geht es hier nicht um eine wissenschaftliche Analyse, die etwa nach den Gründen für die jeweiligen Positionen und Verhaltensweisen fragt. Eher handelt es sich um ein Buch, das auch ein Denkmal sein will. Manchmal geht es dabei auch um heikle Aspekte, etwa die Finanzierung von Lasyk "Der Monat" durch die CIA, wovon der Herausgeber aber wohl nichts wusste. Manchmal kommen wie bei Koestler bedenkliche private Verfehlungen nicht vor, welche nicht den Dissidenten an sich, aber doch ihn als Menschen treffen könnten. Die Ablehnung des Parteikommunismus bildet eben doch den Schwerpunkt.

Die geistige wie persönliche Begegnung mit den Gemeinten prägt Martins Sicht auch in der Vermittlung. Manchmal hätte man sich in den Kapiteln und bei den Portraits schon mehr Stringenz und Struktur gewünscht. Aber dies ist auch die Freiheit des Journalisten und Publizisten, so wie in diesem Fall hier bei den anschaulichen Schilderungen zu verfahren. Man mag die Auswahl der Denker hinterfragen, fehlen doch erkennbar wichtige Figuren. Albert Camus, George Orwell, Bertrand Russell, Victor Serge oder Ignazio Silone kommen nicht vor. Doch hier kann berechtigt darauf verwiesen werden, dass es über diese Denker schon genügend Literatur gibt. Darüber hinaus handelt es sich eben um eine persönliche Auswahl von Martin. Er kritisiert durchgängig immer wieder, dass nicht nur Intellektuelle damals zu viele Konzessionen an den diktatorischen Realsozialismus machten. Da könnte man zu viel Idealismus und zu wenig Realpolitik unterstellen. Gleichwohl sind die Einwände hinsichtlich der Ideale berechtigt, es war auch ein "Verrat der Intellektuellen".

Marko Martin, Dissidentisches Denken. Reisen zu den Zeugen eines Zeitalters, Berlin 2019, 543 S., 42,00 Euro

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