Eine beliebte Disziplin der Esoterik ist das positive Denken. Alle erleben diese Methode bei alltäglichen Gesprächen – "Du musst nur positiv denken, dann wird alles gut!" –, doch die wenigsten kennen den esoterischen Ursprung dieser vermeintlich unverfänglichen Redewendung.
Die Kurzdefinition des positiven Denkens: Schubse alles aus deinem Leben, was sich negativ anfühlt. Denn was du nicht wahrnimmst, das existiert nicht. Basta. Joseph Murphy, der Urvater des positiven Denkens, brachte das Denkkonzept so auf den Punkt: Etwas existiert nur dann, wenn wir eine Idee davon haben und sie im Bewusstsein verankern.
Das verleitet manche Esoteriker zur Behauptung, den Tod gebe es nur, weil wir an ihn denken. Was bedeutet: Verbanne das Ende allen Seins aus deinem Bewusstsein und du lebst ewig. Murphys Idee, die letztlich ein ganzes Heilskonzept umfasst, beruht auf dem Visualisieren. Alles, was wir mantramäßig imaginieren, verwirklicht sich in der materiellen Welt, behauptet Murphy.
Konkret: Alles entsteht im Geist. Computer, Häuser, Maschinen waren einst lediglich Ideen, die sich materialisiert haben. Der Esoteriker erklärte im Brustton der Überzeugung, "Wohlstand ist eine Geisteshaltung". Wer sich laut Murphy anstrengt, um reich zu werden, macht einen Fehler. "Reichtum ist eine gute Gewohnheit, Armut dagegen eine schlechte – das ist der ganze Unterschied zwischen Reichtum und Armut", schrieb der Amerikaner, der mit seinen Büchern über das positive Denken die Hitparaden stürmte und Millionär wurde.
In beispiellosem Zynismus erklärt er die Armut für eine geistige Krankheit. Abgesehen davon, dass Murphys Ideen und Konzepte geistiger Schrott sind, der unser Bewusstsein bis in die heutigen Tage vergiftet, ist das positive Denken auch aus psychologischer Sicht bedenklich.
Warum? Das Leben ist kein Glücksrad, das sich immerzu für uns dreht. Dafür sorgen allein schon die Schwerkraft, die menschlichen Unzulänglichkeiten und unser anfälliger Körper. Wer das Negative systematisch ausklammert, entwickelt keine Strategien, Probleme und Krisen zu bewältigen. Er verdrängt die Schwierigkeiten, weil sie dann angeblich nicht wirklich existieren. Dabei ist die Abwehr von Unglück und die Bewältigung von Problemen ein wichtiger Lernprozess.
Die Jagd nach dem Glück wird zur lähmenden Manie
Das positive Denken im esoterischen Sinn ist ein Zwang, der zur Selbstkonditionierung führt und das Glück vertreibt. Man zwingt die Gedanken in ein enges Korsett. Dadurch wird die geistige Freiheit eingeschränkt und die Fantasie in enge Bahnen gelenkt.
Studien zeigen, dass zu hohe Erwartungen das Glücksgefühl beeinträchtigen. Denn wenn sich Hoffnungen und Wünsche nicht erfüllen, können lähmende Selbstzweifel und Ängste entstehen. Die dauernde Jagd nach dem Glück wird dann oft zur lähmenden Manie, die Betroffene unglücklich oder gar depressiv machen kann.
Die Suche nach den großen und starken Gefühlen widerspricht auch dem spirtuellen und esoterischen Konzept der Achtsamkeit und Wahrnehmung der kleinen Schönheiten im Alltag. Das positive Denken kann außerdem zu einer emotionalen Regression führen. Es fördert zumindest ein kindlich-naives Weltbild.
Ewiges Glück ist eine Qual
Vor allem aber führt die suggestive Methode des positiven Denkens zu einer egozentrischen Lebenshaltung und Weltsicht. Der Anspruch auf das ewige Glück fördert Rücksichtslosigkeit und asoziales Verhalten. Dabei übersehen Esoteriker gern, dass ewiges Glück eine Illusion ist. Und eine Tortur oder Qual. Denn auch Glücksgefühle nutzen sich ab und verlangen nach immer höheren Dosen. Es sei denn, wir finden auch auf den tieferen Ebenen der Emotionsskala Zufriedenheit.
Der deutsche Philosoph Wilhelm Schmid spricht sogar von einer drohenden Diktatur des Glücks in westlichen Gesellschaften. Auf den Punkt bringt es der australische Psychologe Joseph Forgas: "Emotionale Schwankungen gehören nun mal zu dem Affen, der wir sind."
Übernahme mit freundlicher Genehmigung von watson.ch.
5 Kommentare
Kommentare
Roland Fakler am Permanenter Link
Renne voll gegen eine Mauer und denke, dass es sie gar nicht gibt. Das Ergebnis wird dich verblüffen!
W.Klosterhalfen am Permanenter Link
Ich rate Anhängern des positiven Denkens, mal positiver über das negative Denken nachzudenken. Das erspart einem nämlich - sofern es realitätsnah ist - Enttäuschungen.
Thomas R. am Permanenter Link
Deshalb: arbeiten wir doch lieber konsequent(er) an der Vorbeugung, Linderung und Beseitigung von Leid. Je besser wir darin werden, umso mehr Glück wird es auch geben können.
Matthias Wehrstedt am Permanenter Link
Herr Stamm will also allen Ernstes behaupten, dass unsere geistige Haltung zum Leben, zu anderen und zu uns selbst NICHT unsere Lebenszufriedenheit beeinflusst?!
Ich würde das positive Denken auch wegen seiner Einseitigkeit und dem esoterischen Brimborium, das meistens mit ihm einhergeht, kritisieren, aber in ihren Grundpostulaten haben die Vordenker dieser Schule -- von extremen Positionen abgesehen -- schon Recht.
HFRudolph am Permanenter Link
Joseph Murphy könnte man sicher auch konkreter kritisieren. Nur verwundert es doch etwas, was in dem Artikel mit postivem Denken assoziiert wird, nämlich einiges, was damit gar nichts zu tun hat.
Man benötigt schon eine doppelte Rolle rückwärts um dazu zu kommen, dass gerade positives Denken depressiv mache (über die Erwartungshaltung) - weil man beim Misserfolg das positive Denken plötzlich aufgibt und flugs zur Gegenseite des Negativen Denkens wechselt?
Es ist sicher nicht immer einfach, das realistische Maß zu finden bei der Beurteilung von Erfolgsaussichten eines Vorhabens oder beim Blick auf die Realität. Es gibt immer eine nüchtern reale Denkweise, eine negative Denkweise und eine positive. Dabei führt die Tendenz zur Negativbewertung dazu, Chancen ungenutzt zu lassen, unnötig trübsinnig und pessimistisch durchs Leben zu gehen. Das Leben braucht aber nicht nur neutrale, nüchterne Realität, sondern immer einenen kleinen Schubs zum Optimismus.
Schon seinen Artikel hätte er gar nicht schreiben können, wenn er geglaubt hätte, dass ihn keiner liest, ihn niemand gut findet, oder dass er ihn gar nicht fertig bekommt, nachdem er ihn angefangen hat. Das Thema sollte man vielleicht generell einmal auswalzen unter der Kategorie Pessimisten gegen Optimisten - oder gleich radikaler, Depressive gegen psychisch Gesunde?