Das Recht auf Selbstbestimmung gilt auch für das eigene Sterben

BERLIN. (hpd/bpb) Die Aussicht auf Sterbehilfe hat eine suizidpräventive Wirkung, meint Ingrid Matthäus-Maier, ehemalige Verwaltungsrichterin und im Beirat der Giordano-Bruno-Stiftung. Sie fordert mehr Vertrauen in die Urteilskraft erwachsener Menschen und glaubt nicht, dass die Sterbehilfe einen "Dammbruch" verursacht.

Weit mehr als zwei Drittel der Menschen in Deutschland wollen die Möglichkeit haben, bei einer tödlichen Krankheit, bei unerträglichen Schmerzen oder auch bei totaler Abhängigkeit von lebensverlängernden Maschinen "ihr Leben selbst zu beenden". Sie wünschen sich, dass ihnen bei dem geplanten Freitod (Suizid) in sachkundiger und menschlicher Weise, möglichst von einem Arzt, geholfen wird. Dieser Wunsch nach "Sterbehilfe" oder "Freitodbegleitung" sollte ihnen aus verfassungsrechtlichen und humanitären Gründen gestattet sein.

Verfassungsrechtliche und humanitäre Gründe

Der Freitod oder auch Suizid ist in Deutschland nicht strafbar. Dementsprechend ist auch die Beihilfe dazu mangels einer Haupttat nicht strafbar. Diese Rechtslage hat nicht nur eine jahrzehntelange Tradition in Deutschland. Sie ergibt sich auch aus dem Grundgesetz in Art. 1 Absatz 1: "Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt." Dabei umfasst das in Art. 2 Absatz 1 definierte Recht auf Selbstbestimmung auch das eigene Sterben. Menschen, die sterben wollen, benötigen Fürsorge und Begleitung. Wäre die Beihilfe zum Suizid strafbar, würde das gerade auch die Hilfe von Ärzten erschweren. Mit der von einigen Politikern jetzt geplanten Kriminalisierung der Suizidbegleitung wird derjenige, der sich meist unter persönlich schwierigsten Bedingungen für einen Freitod entscheidet, bewusst alleingelassen. Er wäre gezwungen, diesen Weg dann einsam, ohne letzte Hilfe und deswegen oft mit grausamen Begleiterscheinungen zu gehen – wie beim Sprung vom Hochhaus oder vor einen Zug. Das halte ich für zutiefst inhuman.

Es ist mehr gegenseitiger Respekt notwendig

Von den Kirchen wird eingewandt, der Freitod widerspreche dem christlichen Glauben. Selbstverständlich respektiere ich, dass andere aufgrund ihres Glaubens den Freitod und daher auch eine Freitodbegleitung ablehnen. Dieser Respekt muss aber auch umgekehrt gelten: In einem religiös-weltanschaulich neutralen Staat darf die eigene religiöse Überzeugung nicht anderen aufgezwungen werden – vor allem nicht über den Weg des Strafrechts.

Kritiker der Sterbehilfe argumentieren häufig, dass es doch mittlerweile Palliativstationen und Hospize für diese Menschen gibt. Ich halte sehr viel von der Palliativmedizin. Sie sollte weiter ausgebaut werden. Doch wissen wir, dass es Krankheitsverläufe und damit verbundene Beeinträchtigungen – zum Beispiel bei Knochen-, Gelenk- oder Nervenschmerzen – gibt, die auch durch beste palliative Pflege nicht gut behandelbar sind. Hinzu kommt: Es gibt Patienten, die wollen solche Angebote nicht wahrnehmen, weil sie ihren letzten Lebensabschnitt als unerträglich oder aus ihrer ganz persönlichen Sicht als nicht lebenswert empfinden. Andere mögen das anders sehen. Doch ob das eigene Leben noch lebenswert ist, sollten nur die betroffenen Menschen selbst entscheiden.

Es geht dabei um nicht weniger als Grundrechte

Dabei setzt die Beihilfe zur Selbsttötung immer voraus, dass der Entschluss zur Selbsttötung von einem urteilsfähigen Erwachsenen frei verantwortlich getroffen wird. Wer hingegen Suizidbeihilfe leistet, wenn der Entschluss des Suizidenten aus einer krankhaften Störung entspringt, macht sich schon nach geltendem Recht strafbar. Und das soll auch so bleiben. Nicht urteilsfähige Suizidenten bedürfen keiner Hilfe zur Selbsttötung, sondern fachärztlicher Behandlung.

Dabei geht es nicht nur um Grundrechte der Suizidenten, sondern auch um Grundrechte der Ärzte, die aus Gewissensgründen Suizidhilfe leisten wollen. Nach "Meinungsumfragen" ist etwa ein Drittel der Ärzte (unter bestimmten Umständen) zu einer solchen Hilfe bereit. Allerdings besteht bei den Ärzten eine große Unsicherheit. Spätestens seit Inkrafttreten des Gesetzes über die Patientenverfügung (2009) ist klar: Dem Willen des Suizidenten kommt, ob schriftlich oder mündlich geäußert, eine entscheidende Bedeutung zu. Auch die neuere Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs vom 25.Juni 2010 (2StR 454/09) misst dem klar geäußerten Willen des Menschen die entscheidende Bedeutung zu: Wenn der Wille eindeutig mündlich oder schriftlich geäußert wurde, kann sich der Arzt auf diese Rechtsprechung verlassen.

Unsicherheit in Bund und Ländern

Allerdings führt die Haltung der Bundesärztekammer zu Unsicherheit. Diese beschloss im Jahr 2011 ein generelles berufsrechtliches Verbot der Sterbehilfe. Der Beschluss hat keine bindende Wirkung. Dazu bedarf es erst der Umsetzung durch die Landesärztekammern. Fast die Hälfte der Landesärztekammern hat die Formulierung nicht übernommen. Ein Zeichen dafür, dass auch viele Ärzte dem rigiden Beschluss der Bundesärztekammer nicht folgen wollen. Sie wollen weiterhin, dass die Sterbehilfe der Gewissensentscheidung des Arztes unterliegt. Das ist auch richtig so, weil ein Totalverbot der ärztlichen Sterbehilfe nicht mit den Grundrechten der Gewissensfreiheit (Art. 4) und Berufsfreiheit (Art. 12) vereinbar ist. Selbstverständlich sind die Ärzte auch in Zukunft nicht dazu verpflichtet, diese Hilfe zu leisten.

Die Gegner der Suizidhilfe argumentieren, es komme ohne eine neue strafrechtliche Regelung zu einem "Dammbruch". Diese Befürchtung findet allerdings in den Erfahrungen anderer Länder keine Grundlage. Diese zeigen im Gegenteil, dass die Gewissheit, bis ans Ende des Lebens Hilfe zu bekommen, beruhigt: Ein Großteil der offiziell erlaubten Suizidhilfen wird überhaupt nicht wahrgenommen, wie die zahlreichen Berichte z.B. aus Oregon zeigen, dem Staat der USA, der eine liberale Sterbehilferegelung eingeführt hat. Die Aussicht auf Sterbehilfe hat sogar eine suizidpräventive Wirkung. Darüber berichtet auch Uwe-Christian Arnold, der bekannteste Sterbehelfer in Deutschland in seinem Buch "Letzte Hilfe". Das Wissen, dass ihnen "notfalls" geholfen wird, führe immer wieder zur Verschiebung oder zum völligen Unterlassen des Suizids.

Alternative Ausland

An Freitod denkende Menschen müssen schließlich die Gewissheit haben, dass sie sich mit ihren Fragen an beratende Organisationen wenden können, und zwar ohne negative Folgen. Wird solchen Organisationen wie der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS) oder dem Humanistischen Verband (HVD) die Hilfsmöglichkeit verwehrt, besteht die Gefahr, dass nur noch Sterbewillige, die über die notwendigen finanziellen Mittel verfügen, entweder heimlich in Deutschland oder offiziell im Ausland, ärztliche Hilfe beim Freitod erhalten.


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Erstveröffentlichung: Bundeszentrale für politische Bildung. Ein gegensätzlicher Artikel erschien dort ebenfalls.