Am Donnerstag vergangener Woche hat die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina ein Diskussionspapier zur Neuregelung des assistierten Suizids veröffentlicht. Prominente Autoren waren an der Erstellung des Dokuments beteiligt, etwa der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Prof. Dr. Andreas Voßkuhle, der bekannte Staatsrechtler Prof. Dr. Horst Dreier oder Prof. Dr. Reinhard Merkel, der bis letztes Jahr Mitglied im Deutschen Ethikrat war und dem Beirat des Instituts für Weltanschauungsrecht (ifw) angehört. Prof. Dr. Dr. Dieter Birnbacher, Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS) und selbst Mitglied der Leopoldina, hat sich den Debattenbeitrag für den hpd angesehen.
Die Corona-Pandemie hat die bis dahin eher unauffällige Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina in den Fokus öffentlicher Aufmerksamkeit gerückt. Mit einer dichten Folge von Ad-hoc-Stellungnahmen zur Pandemie und wie man ihr begegnet hat die Wissenschaftsorganisation seit März 2020 die deutsche Pandemie-Politik kontinuierlich begleitet. In Regierungskreisen gilt sie als eines der vertrauenswürdigsten Gremien der Politikberatung, wobei auch die Sympathien eine Rolle spielen mögen, die Angela Merkel als Naturwissenschaftlerin für diese traditionelle, primär medizinisch-naturwissenschaftlich orientierte Akademie erkennen ließ.
Intern und extern standen die Empfehlungen der Akademie allerdings massiv in der Kritik, weniger aus inhaltlichen als aus formalen Gründen. Es wurde bezweifelt, dass eine primär wissenschaftliche Akademie einerseits in der Lage, andererseits befugt ist, mit der für sie charakteristischen Autorität Empfehlungen zu heiklen politisch-normativen Fragen abzugeben, etwa dazu, wie zwischen Lebens- und Gesundheitsschutz und der Einschränkung von Grundrechten angemessen abzuwägen ist. Für derartige Wertabwägungen ist wissenschaftliche Expertise unzweifelhaft eine notwendige, aber sicher keine hinreichende Bedingung.
Ein Beitrag zur Debatte um die Neuregelung der Sterbehilfe
Die Autoren des am vergangenen Donnerstag veröffentlichten Diskussionspapiers (siehe Anhang unter diesem Artikel) zur Neuregelung des assistierten Suizids haben sich gegen solcherart Kritik gewappnet. Sie wollen ihre knappe, insgesamt nicht mehr als sieben Seiten umfassende Stellungnahme lediglich als "Beitrag zur Debatte" verstanden wissen und erheben nicht den Anspruch, für "die Wissenschaft" als Ganze zu sprechen. Außerdem stellen sie von Anfang an klar, dass ihre Thesen und Empfehlungen zwar auf wissenschaftlichen Erkenntnissen basieren, darüber hinaus aber auch auf ethischen und rechtlichen Überzeugungen.
Dennoch kommt diesem Papier, auch wenn es nicht auf die Autorität der Wissenschaft setzt, ein hohes Maß an Autorität zu – einerseits aufgrund der Prominenz seiner Autoren, zu denen unter anderem Andreas Voßkuhle, der Federführende des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom Februar 2020, gehört, andererseits aufgrund des Glücksfalls, dass es gelungen ist, ungeachtet aller ideologischen Divergenzen zwischen den Autoren so etwas wie Leitplanken für eine mögliche künftige gesetzliche Regelung der Suizidassistenz einzuziehen. Wissenschaftlichkeit zeigt sich von ihrer besten Seite: in Sachorientierung, Offenheit für Argumente und Ausgewogenheit des Urteils. Das Ergebnis sind Überlegungen, wie eine gesetzliche Regelung aussehen könnte, die auf liberaler wie auf konservativer Seite Zugeständnisse verlangen, aber keine Seite offen brüskieren.
Eine unübersehbar "liberale" Tendenz
Es ist nicht weiter überraschend, dass dieses Papier eine unübersehbar "liberale" Tendenz erkennen lässt. Eine solche Perspektive ergibt sich naturgemäß aus dem Primat des Rechts auf Selbstbestimmung über Art und Zeitpunkt des Sterbens, den das Bundesverfassungsgericht in seinem bahnbrechenden Urteil vom Februar 2020 formuliert hat. In der Frage der staatlichen Kontrolle der Praxis der Suizidassistenz hält sich das Papier sogar deutlich stärker zurück als der in der Debatte als "liberal" gehandelte interfraktionelle Gesetzentwurf von Helling-Plahr, Lauterbach und Sitte. So wird zwar gefordert, dass für Suizidwillige eine kompetente und ergebnisoffene Beratung gewährleistet sein soll. Diese wird aber nicht zwangsläufig bei staatlichen oder halbstaatlichen Einrichtungen gesehen. Gefordert wird lediglich die Dokumentation und Analyse der Fälle von Suizidassistenz durch eine unabhängige Kommission und die regelmäßige Veröffentlichung ihrer Ergebnisse, wie es etwa seit 1997 in Oregon praktiziert wird, nicht zuletzt um die Regeln flexibel anpassen zu können.
Ausgesprochen "liberal" mutet das Papier auch durch die Vermeidung kategorischer Grenzziehungen an. So sollen zwar in der Regel nur Volljährige das Recht haben, professionelle Hilfe für einen Suizid in Anspruch zu nehmen. Aber in Ausnahmefällen soll die Entscheidung gegen ein Weiterleben auch bei Jüngeren anerkannt werden, sofern sie durch ihre Erkrankung einem besonders schweren Leidensdruck ausgesetzt und zu einer hinreichend selbstbestimmten Willensbildung fähig sind. Damit werden faktisch die für den Abbruch medizinischer Behandlungen geltenden Regeln auf den assistierten Suizid übertragen.
Auch soll die zwischen der Beratung beziehungsweise der Bewertung der Freiverantwortlichkeit und der Durchführung der Suizidassistenz liegende Bedenkzeit in Ausnahmefällen verkürzt werden können. Was hier als Ausnahmefälle angesprochen wird, ist allerdings nach den vorliegenden internationalen Statistiken eher die Regel: Suizidassistenz und Tötung auf Verlangen wird ganz überwiegend bei relativ kurzer Lebenserwartung in Anspruch genommen, etwa bei schnell voranschreitenden Krebserkrankungen mit hohem Leidensdruck. Bemerkenswert ist auch die Zurückhaltung bei der auch im liberalen Lager kontroversen Frage der Pflichtberatung: Angesichts der häufigen Unkenntnis über die zur Leidensminderung verfügbaren Optionen ist eine professionelle Beratung von Suizidwilligen zweifellos wünschenswert. Aber soll sie auch eine zwingende Vorbedingung sein für die weiteren Schritte, die Prüfung der Freiverantwortlichkeit des Suizidwunsches und die Durchführung der Suizidassistenz? Das Papier spricht an keiner Stelle von einer Pflichtberatung analog zum Paragraphen 218, sondern stattdessen von der "Gewährleistung" des Angebots einer "qualitativ hochwertigen, ergebnisoffenen und im Respekt vor der Autonomie der Suizidwilligen erfolgenden" Beratung.
Das ist nur konsequent. Der Staat wird verpflichtet, ein geeignetes Beratungsangebot vorzuhalten, aber der Respekt vor der Selbstbestimmung des Einzelnen verbietet auch, ihm eine ungewollte Beratung aufzunötigen. Auch eine medizinische Aufklärung über eine über Leben und Tod entscheidende Operation muss zwar angeboten, kann aber vom Patienten auch abgelehnt werden. Offen bleibt allerdings, wie weit eine Suizidassistenz trotz einer Ablehnung der Beratung möglich sein soll.
Beträchtliche Spielräume für Interpretationen
Der Kompromisscharakter des Papiers hat auch hier dazu geführt, dass viele seiner Formulierungen wenig konkret ausfallen und beträchtliche Spielräume für Interpretationen lassen. Das gilt etwa für das in den Empfehlungen geforderte Verbot der Werbung für Suizidassistenz und von deren Kommerzialisierung. Mit diesen Verboten kommt das Papier weitverbreiteten Bedenken entgegen, entzieht sich aber zugleich der bei Reizwörtern wie "Werbung" und "Kommerzialisierung" erforderlichen Differenzierung.
Ein Verbot der "Werbung" kann ja allenfalls dann mit der Forderung des Bundesverfassungsgerichts nach einer flächendeckenden Information über die Möglichkeit einer Inanspruchnahme von Suizidhilfe vereinbar sein, wenn sie in besonderer Weise marktschreierisch oder manipulativ ist. Wenn tatsächlich jeder Deutsche, wie es das Bundesverfassungsgericht fordert, eine realistische Möglichkeit haben soll, eine angebotene Suizidassistenz bei Erfüllung der geeigneten Kriterien in Anspruch zu nehmen, scheint es zwingend erforderlich, entsprechende Informationen zur Verfügung zu stellen, sei es über den Hausarzt, das Team der Palliativversorgung oder die Einrichtung, in der sich der Suizidwillige aufhält. Ein Werbeverbot kann nur so weit rechtens sein, als es eine sachgemäße Information über das bestehende Angebot von Suizidassistenz nicht verhindert.
Analoges gilt für den Reizbegriff "Kommerzialisierung". Wie sehr man auch ein Verbot der rein auf Erwerb ausgerichteten Suizidassistenz begrüßen mag, so wenig realistisch ist es andererseits, die Beteiligung von Ärzten – und nach den Empfehlungen sollen an jeder Suizidassistenz mindestens zwei Ärzte beteiligt sein – ohne jede Honorierung zu erwarten. Ohne eine wie immer geartete Honorierung wird sich die Forderung des Bundesverfassungsgerichts an den Gesetzgeber, sicherzustellen, dass "dem Recht des Einzelnen, sein Leben selbstbestimmt zu beenden, hinreichend Raum zur Entfaltung und Umsetzung verbleibt", kaum verwirklichen lassen; auch dann nicht, wenn irgendwann – anders als gegenwärtig – mehr als ein verschwindend geringer Anteil der deutschen Ärzte zur Mitwirkung an einem Suizid bereit sein sollte.
Widersprüchliche Empfehlung
Als nicht nur wenig konkret, sondern sogar als widersprüchlich muss schließlich die Empfehlung des Papiers gelten, die Bewertung der Freiverantwortlichkeit und die Durchführung der Suizidassistenz nicht nur personell, sondern auch organisatorisch zu trennen. Dass eine Personalunion zwischen der Prüfung, ob die zentrale Sorgfaltsbedingung der Freiverantwortlichkeit erfüllt ist, und der Durchführung der Suizidassistenz ausgeschlossen sein sollte, versteht sich mehr oder weniger von selbst. Aber wie soll eine organisatorische Trennung aussehen, wenn gleichzeitig "ein auf interdisziplinärer Expertise aufbauendes Informations-, Beratungs- und Begleitungsnetzwerk für Suizidwillige" etabliert werden soll, das die einzelnen Verfahrensschritte (Beratung, Bewertung, Begleitung, Durchführung) koordiniert?
Eine enge Koordination der einzelnen Schritte wird vor allem bei schwer leidenden Patienten erforderlich sein, die nicht mehr lange zu leben haben. Es ist schwer vorstellbar, wie diese gelingen kann, wenn sie nicht – analog zur Organspende – in die Hände einer wie immer verfassten Organisation gelegt wird. Dem einzelnen Betroffenen sind, wie auch das Papier konstatiert, derartige Koordinationsaufgaben nicht zuzumuten. Ebenso wenig ist es den Angehörigen und weiteren Nahestehenden (sofern es solche gibt) zuzumuten, angesichts der Stresssituation, in der sie sich in der Regel befinden, Beratung, gutachterliches Plazet und Bereitschaft zur Durchführung bei jeweils separaten Organisationen beziehungsweise deren Vertretern einzuholen.
Die geeignetsten Koordinatoren wären zweifellos die jeweiligen Haus- und Heimärzte, die mit der Lebensgeschichte, der Persönlichkeit und der akuten medizinischen und psychischen Situation des um Suizidassistenz Nachsuchenden am ehesten vertraut sind. Aber diese fühlen sich bereits heute mehrheitlich überfordert und sind in Deutschland bisher – anders als in den Benelux-Ländern oder Kanada – nur vereinzelt zu einer aktiven Mitwirkung bereit. Lösen lässt sich das Koordinationsproblem vorerst in der Tat am ehesten durch ein multiprofessionelles "Netzwerk" – analog zu den in immer mehr Regionen etablierten Netzwerken der Palliativversorgung – unter Einbeziehung von zur Mitwirkung an der Suizidassistenz bereiten Ärzten. Vor diesem Hintergrund lässt sich die Organisation oder Vermittlung von Suizidassistenz, wie sie gegenwärtig von einigen der in Deutschland tätigen Vereine für ihre Mitglieder praktiziert wird, als eine Art Probelauf für eine mögliche künftige flächendeckende Lösung betrachten.