Linke Identitätspolitik verfolgt die gleichen Ziele wie ihre Kritiker unter den Soziallinken und Liberalen: Gleichberechtigung. Das Problem liegt in der Strategie. Gruppenidentitäten sind der wesentliche Faktor bei gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit – das ist gefährlich. Und damit hören die Probleme noch lange nicht auf.
1999 begann der Sänger Johnny Clegg in Frankfurt am Main ein Konzert mit dem Lied "Asimbonanga". Er hatte es Nelson Mandela gewidmet, als dieser noch auf Robben Island inhaftiert war. Während des Liedes betrat Mandela selbst die Bühne, hielt Cleggs Hand, tanzte mit ihm, dann sagte er: "Musik und Tanz söhnen mich mit der Welt aus, und mit mir selbst."
Was das mit linker Identitätspolitik zu tun hat? Clegg war ein Weißer, seine Band spielte eine Mischung aus afrikanischer und westlicher Musik, seine Lieder sang er teils in der Sprache der Zulu. Als privilegierter, strukturell rassistischer Weißer in einem Apartheidsstaat hatte er sich der Kultur der unterdrückten Schwarzen bemächtigt und der kulturellen Aneignung schuldig gemacht – zumindest in den Augen der Identitätspolitik.
Die Wut ist berechtigt
Vielleicht veranschaulicht dieses Beispiel ein Weltbild, das Menschen sehr streng nach Merkmalen wie Hautfarbe und Herkunft unterscheiden will, andererseits diese Merkmale als soziale Konstrukte betrachtet. Und Erklärungsbedarf gibt es noch eine Menge. Denn wenn die AnhängerInnen dieser umstrittenen Politik ihre Vorstellungen in der Öffentlichkeit darlegen, erfährt man meist nur die Hälfte von dem, worum es geht. Dort betonen sie, wie berechtigt ihr Anliegen und wie gerechtfertigt ihre Wut sei. Weil Schwarze noch immer diskriminiert werden, die Herkunft über die Chancen auf Arbeits- und Wohnungsmarkt mitentscheidet, die Frauen noch nicht gleichgestellt sind und Behinderte bei der Planung von Gebäuden mitreden sollten, zum Beispiel. Das Versprechen von Staat und Gesellschaft, dass alle die gleichen Chancen haben sollen, wird noch zu häufig gebrochen.
Deshalb, so sagte kürzlich Alicia Garza der FAZ, sei es für manche Betroffene gar nicht möglich, nicht über Identitäten zu sprechen. "Weil sie unsere Leben prägen. Auch wenn ich nicht darüber sprechen würde, dass ich schwarz bin, werde ich auf eine bestimmte Weise behandelt, weil ich schwarz bin", so die Mitbegründerin der Bewegung Black Lives Matter.
Allerdings: Da widersprechen die Kritikerinnen und Kritiker unter den Soziallinken und Liberalen gar nicht. Im Gegenteil. Sie wissen es und setzen sich sogar für die gleichen Ziele ein: Gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft für alle und das Ende jeder Diskriminierung. Was sie dagegen kritisieren, ist der Weg, auf dem Identitätspolitik zu diesen Zielen kommen will.
Was linke Identitätspolitik ausmacht
Die schwarze US-amerikanische Juristin Kimberlé Crenshaw hat in einem einflussreichen Artikel vielleicht am anschaulichsten erklärt, was Identitätspolitik eigentlich ist: "Wir alle können den Unterschied zwischen der Aussage 'Ich bin Schwarz' und der Aussage 'Ich bin eine Person, die zufällig Schwarz ist', erkennen. 'Ich bin Schwarz' nimmt die sozial auferlegte Identität und stärkt sie als Anker der Subjektivität."
Die Identitätspolitik setzt also gezielt darauf, dass Menschen, die Unterdrückung erleben, Kraft und Selbstbestätigung daraus gewinnen, wenn sie sich zusammenschließen, so wie andere Interessengruppen auch. Aber es gibt einen wichtigen Unterschied etwa zu Arbeiterbewegungen oder Klimaschützern: Die Identitätspolitik übernimmt gerade die Kategorien der Diskriminierung wie Hautfarbe, Herkunft, Religion, Geschlecht, sexuelle Orientierung und anderes, betont diese als Gruppenmerkmale ausdrücklich und erklärt sie zu einem essenziellen Teil des menschlichen Wesens.
Die Betroffenen sollen sich demnach über Gruppenmerkmale definieren. Um an Bedeutung in der Gesellschaft zu gewinnen, wird die Bedeutung der Personen verschoben vom Individuum zum Merkmalsträger – was die persönliche Bedeutung letztlich allerdings verkleinert. Und obwohl die Identitätspolitik häufig von der "Kultur" von Gruppen spricht, geht es eigentlich nur um einige wenige Marker. Die tatsächliche Lebensweise verschiedener Gruppen, der eigentliche Inhalt ihrer Kultur, ist für die führenden Akteure der Bewegung oft nur eine Nebensache, sagt der Ethnologe Christoph Antweiler von der Universität Bonn. "Der Begriff Identität wird als argumentative Waffe benutzt".
Identitätspolitik heizt Gruppenkonflikte an
Ein ganz grundsätzliches Problem mit der Identitätspolitik wird in der Regel überhaupt nicht angesprochen: Sie greift ausgerechnet auf jenes menschliche Verhalten zurück, das auch das Fundament des Rassismus und jeder Form von Fremdenfeindlichkeit bildet: Menschen denken in Kategorien – auch in Bezug auf andere Menschen. Sie neigen dazu, sich zu Gruppen zusammenzuschließen und dann die Merkmale besonders zu betonen, über die sich die Gruppe identifiziert. So wird der Kontrast zu anderen Gruppen systematisch verstärkt, während etwa Unterschiede innerhalb der eigenen Gruppe ausgeblendet werden, erklärt Antweiler.
Die rechte Identitätspolitik versucht auf diese Weise, eine fantasierte Hierarchie mit der eigenen Gruppe an der Spitze herzustellen. Linke Identitätspolitik zielt dagegen auf ein Miteinander solidarischer Gruppen. Das hört sich erst einmal gut an, ist aber wohl schwieriger als es klingt. Denn eine der wichtigsten Erkenntnisse der Sozialwissenschaften, der Verhaltensbiologie und der Psychologie ist: Je relevanter die eigene Gruppe für einen Menschen ist, desto höher bewertet er oder sie diese im Vergleich zu allen anderen Gruppen.
Das fängt schon bei willkürlich eingeteilten Gruppen von Kindern an. Und je stärker die Abgrenzung und Ausgrenzung, desto geringer die Solidarität und desto größer das Konfliktpotential. Antweiler bezeichnet das als "allgegenwärtigen Ethnozentrismus", dessen Grundhaltung laute: 'Wir' sind ganz besonders, ganz anders, wir sind die Besten oder Auserwählten.' Der Psychologe und Aggressionsforscher Thomas Elbert von der Universität Konstanz fasst es so zusammen: "Der Mensch ist als soziales Wesen zu Gruppenbildung verdammt. Gemeinsam kämpfen, gemeinsam schlagen ist genauso sozial wie menschlich."
Es ist also zu befürchten, dass die Hoffnung der linken Identitätspolitik auf Solidarität statt Spaltung vergeblich ist – selbst wenn es natürlich ein Unterschied ist, ob eine Mehrheit Identitätspolitik betreibt, um auszugrenzen, oder ob Minderheiten sie nutzen, um auf ihre soziale Benachteiligung hinzuweisen und Kräfte dagegen zu mobilisieren.
Widerspruch zum Weltbild des Universalismus
Ein weiterer Punkt, der selten angesprochen wird, ist, dass die Identitätspolitik als taktisches Werkzeug grundsätzlich im Widerspruch zum Anspruch der Aufklärung steht, dass alle Menschen Mitglieder einer einzigen Menschheit sind, bestehend aus gleichwertigen und gleichberechtigten Individuen. Identitätspolitik ist hier geradezu reaktionär. Denn zumindest dort, wo der humanistische Anspruch konsequent verfolgt wurde, hat er sich als friedensstiftend erwiesen.
Nationalismus, Rassismus, Sexismus sind heute im Westen absolut geächtet – meist schon per Gesetz und im Prinzip auch innerhalb der Mehrheit der Gesellschaft. Überwunden sind sie noch nicht. Minderheiten erleben auch in Deutschland immer noch Diskriminierung. Aber die Entwicklung ist historisch und global gesehen weltweit bislang eine Erfolgsgeschichte des Universalismus. Und schlimme Rückschläge wie zum Beispiel die Verbrechen der Nationalsozialisten waren gerade die Folgen einer Identitätspolitik, einer konsequenten Politik des "Wir" gegen "die Anderen". Welcher Weg verspricht also den größeren Erfolg?
Sprache oder Evolution: Nicht alles ist sozial konstruiert
Ein weiterer, mehr als fragwürdiger Aspekt der linken Identitätspolitik, der in der Regel verschwiegen wird: Ihre VertreterInnen sind Kinder der Postmoderne. Diese hat ihren Ursprung in der "kritischen Theorie" der Frankfurter Schule um Theodor Adorno, Max Horkheimer und Herbert Marcuse und wurde vor allem durch Intellektuelle wie Jacques Derrida und Michel Foucault vorangetrieben.
Am Ende ihrer konstruktivistischen und poststrukturalistischen Überlegungen steht knapp zusammengefasst: Objektive Erkenntnisse sind unmöglich. Die gesamte soziale Wirklichkeit ist ein Konstrukt, gebildet im Sinne der Macht, die kontrolliert, wie über die Dinge geredet wird. Selbst Menschen gelten als vollständig sozial konstruiert: Identität, Charakter, Sexualität, der Körper - alles Produkte der Machtverhältnisse und der Sprache. Und die Machtstrukturen sollen sich überwinden lassen, indem man "dekonstruiert", die Hintergründe der Verhältnisse offenlegt und anprangert und die Diskurse im Sinne der Unterdrückten verändert.
Diese Beschränkung auf Sprache als einziges Werkzeug, das wirklich zählen soll, ignoriert eine der bedeutendsten Erkenntnisse der Wissenschaft überhaupt: Der Mensch ist Produkt der Evolution. Über Jahrmillionen mussten seine Vorfahren sich an eine Realität anpassen, die jene, die ihre Bedingungen ignorieren oder falsch interpretieren, mit dem Aussterben bestraft. Deshalb ist nicht die Sprache der Ausgangspunkt dafür, wie die Dinge wahrgenommen werden, sondern die an die Realität angepassten Sinnesorgane.
Natürlich nimmt der Mensch über die Kommunikation Einfluss darauf, wie die aufgenommenen Informationen interpretiert werden. Diese Erkenntnis ist nicht neu. Und durch die Fortschritte der Hirnforschung und Kognitionspsychologie ist in den letzten Jahren auch die Konstruktion von "Bedeutung" in den Fokus der Naturwissenschaften gerückt, sagt Eckart Voland, emeritierter Professor für Biophilosophie an der Universität Gießen. Dinge existieren in der Realität, aber "Bedeutung entsteht nur im Gehirn, und zwar in jedem einzelnen. Sie ist zweifelsohne konstruiert."
Das heißt: Biologen ist klar, dass die Bedeutung von zum Beispiel Geschlechterrollen sozial konstruiert ist – aber die Rollen selbst sind es nicht ausschließlich. Auch die Natur spielt mit hinein. Und das gilt auch für das Phänomen der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit. Voland zufolge wäre es sogar sinnvoller zu fragen, was es eigentlich bedeuten solle, Angehöriger einer Rasse zu sein – die Antwortet lautet: nichts –, und strukturelle Ungleichheiten mit emanzipatorischer Motivation zu bekämpfen, als zu fordern, den Begriff Rasse abzuschaffen.
Jeder Gruppe ihre eigene Wahrheit?
Gegen solche Hinweise hat sich die postmoderne linke Identitätspolitik allerdings immunisiert. Denn es wird noch schlimmer: Die Postmodernen der Gegenwart haben zwar wie ihre Vorgänger den Anspruch auf objektive Erkenntnisse aufgegeben. Sie stellen sich selbst aber nicht mehr infrage. Stattdessen konstruieren sie nun Vorstellungen von der Welt auf der Grundlage der Erfahrungen verschiedener Gruppen, entsprechend deren jeweiliger "Narrative". Ihre vor allem moralisch gerechtfertigten Diskurse sollen den herrschenden Diskurs der Privilegierten ersetzen und endlich für soziale Gerechtigkeit sorgen. Nachdem die Objektivität sowieso aufgegeben wurde, kann jede und jeder die eigenen Vorstellungen als wahr betrachten. Und der Anspruch, für soziale Gerechtigkeit zu kämpfen, adelt diese eigene Wahrheit.
Aus dieser Perspektive versucht die Gruppe der weißen, heterosexuellen, älteren cis-Männer immer noch zu definieren, was als "wahr" zu gelten hat, um ihre Machtposition zu erhalten. Um diesen Diskurs herauszufordern, sollen unterdrückte Identitätsgruppen dieser "Wahrheit" die eigenen, gleichberechtigten "Wahrheiten" entgegenstellen.
Der Postmodernismus behauptet tatsächlich: Menschen können aufgrund ihrer Gruppenidentität auf besondere Weise etwas "wissen", das allen anderen verschlossen bleibt: als Frauen, als Homosexuelle, als Muslime, als Angehörige einer Gruppe, die unter Sklaverei und Kolonialismus gelitten hat, oder auch einfach als Volk oder Stamm. Dabei geht es aber nicht darum, vielfältige individuelle Erfahrungen zu sammeln, um auf dem Wege der wissenschaftlichen Beobachtung, der Empirie, einer objektiven Wahrheit näher zu kommen. Die Empirie gilt vielmehr als der Weg, den der weiße heterosexuelle Mann seit der Aufklärung beschritten hat, um die Natur zu kontrollieren und alle zu beherrschen, die anders sind als er – und deshalb wird sie abgelehnt. Die Forderung nach einem Realitäts-Check selbst gilt als Zeichen westlicher Arroganz kulturellen Minderheiten gegenüber. Schließlich hat die westliche Wissenschaft nur deshalb Erfolg gehabt, weil dahinter die militärische und wirtschaftliche Macht westlicher Nationen steht, behauptet etwa die populäre postmoderne Philosophin Sandra Harding, und nicht weil sie wahr, rational oder effektiv sei.
Alles akzeptieren, um niemanden zu diskriminieren
Stattdessen gelten im Postmodernismus etwa überlieferte Traditionen den wachsenden naturwissenschaftlichen Erkenntnissen als ebenbürtig. Jeder Schöpfungsmythos soll genauso als Wissen betrachtet werden wie die Evolutionstheorie. Was für JoAllyn Archambault, Angehörige der Sioux und Direktorin des American Indian Program am Smithonian Institute schon gegen den gesunden Menschenverstand verstößt: "Die Ursprungsgeschichten zum Beispiel [...] variieren stark von Stamm zu Stamm. Je nach Stamm kann die Schöpfung das Werk von Coyote, einem Vogel, dem ersten Menschen, einer Schildkröte und so weiter sein. Selbst innerhalb eines Stammes kann überlieferter Glaube verschiedene Erschaffungsgeschichten beinhalten."
Als eigenes Wissen dürfen solche Vorstellungen jedoch im postmodernen Weltbild nicht infrage gestellt werden. Gerechtfertigt wird dieser Multikulturalismus-Anspruch auch mit dem Argument, dass so kulturelle Diskriminierung verhindert wird. Das aber funktioniert nicht, sagt Christoph Antweiler, gerade "weil ja unterschieden – also diskriminiert – wird." Trotzdem etabliert sich diese Haltung seit einigen Jahren zunehmend an nordamerikanischen Colleges und Universitäten.
Letztlich kehren die Postmodernisten damit zu den Vorstellungen des Romantikers Johann Gottfried Herder und der anti-aufklärerischen Philosophen wie Johann Gottlieb Fichte und Georg Wilhelm Friedrich Hegel zurück, die Kultur, Wissen, Volk, Sprache und völkische Identität als untrennbare Einheit betrachteten und so eine der Grundlagen für den Rassismus des 19. und 20. Jahrhunderts schufen.
Vor diesem Hintergrund weist der Kulturanthropologe Antweiler darauf hin, dass sogar der Begriff "Vielfalt" gefährlich werden kann. "Es sollte uns zu denken geben, wenn jetzt sogar die extreme Rechte kulturelle Vielfalt gut findet", warnt er. Es werde leider notorisch vergessen, dass Menschen in vieler Hinsicht gleich sind, biologisch und auch kulturell. "Auch wenn ich Kulturwissenschaftler bin, ist mein Motto deshalb: Lasst uns Kultur runter dimmen und mehr auf Individuen einerseits und die ganze Menschheit andererseits achten."
Nur Weiße können rassistisch sein – und sind es immer?
Die linke Identitätspolitik aber kümmert sich nicht um solche Widersprüche, sondern befasst sich fast ausschließlich mit der negativen Rolle von Menschen mit weißer Hautfarbe und westlicher Abstammung. Gerade hier lässt sich zeigen, wie versucht wird, sich der Sprache zu bemächtigen, um die Machtverhältnisse zu verändern.
Die Identitätspolitik wirft den Weißen zum Beispiel vor, Rassismus erfunden zu haben, um Kolonialismus und ihre Vorherrschaft in der Welt zu rechtfertigen. Im Prinzip war dieser Rassismus die Diskriminierung von Gruppen aufgrund angeborener Merkmale. "Weiße haben diesen Rassismus systematisiert und pseudobiologisch untermauert", sagt Antweiler. "Allerdings ist auch der Kampf gegen den Rassismus ein Kind des Westens."
Statt sich aber differenziert mit dem Phänomen auseinanderzusetzen, wurde der Begriff übertragen auf die Benachteiligung von Gruppen aufgrund von sexuellen, religiösen oder kulturellen Merkmalen. Wo die Hautfarbe angesprochen wird, gilt sie ebenfalls als sozial konstruierte Eigenschaft. Damit ist man den spezifisch biologischen Aspekt des Rassismus los. So hat der Begriff allerdings auch jede Kraft für eine eigentlich antirassistische Argumentation verloren, warnt Antweiler.
Dafür kann er nun entsprechend der postmodernen Vorstellungen von Machtverhältnissen angewendet werden. Und obwohl der ursprüngliche Rassismus in der Gesellschaft geächtet ist, lässt er sich im neuen Gewand allen Weißen zum Vorwurf machen. So erklärt die zunehmend populäre identitätspolitische "Critical Race Theory" (CRT), alle Strukturen in Gesellschaften, die von Weißen gebildet wurden, seien grundsätzlich rassistisch.
Es wird darüber hinaus behauptet, überhaupt könnten nur Weiße rassistisch sein, weil auch nur sie von den Strukturen profitieren – und weil sie als Weiße davon profitieren, selbst wenn sie sich dessen nicht bewusst sind, sind sie auch und immer strukturell rassistisch. Der populäre schwarze US-Buchautor Ibram X. Kendi etwa behauptet, Weiße könnten nur dann keine Rassisten sein, wenn sie aktive Antirassisten wären – indem sie seinen Lehren folgen.
Weiße, die auf die rassistische Behandlung von Schwarzen wie jüngst in China während der Pandemie oder auf rassistische Konflikten zwischen Schwarzen und Indern in Afrika hinweisen, wollen der CRT zufolge nur ablenken und dokumentieren so ihren anhaltenden Rassismus. Sie sollten sich stattdessen ihres rassistischen Weißseins bewusst werden, sagt die amerikanische Bestseller-Autorin Robin DiAngelo. Sie bietet auch gleich ihre Hilfe in Form von Büchern, Vorträgen und Kursen an. Manche großen Unternehmen fordern dank DiAngelos Einfluss ihre MitarbeiterInnen inzwischen auf, weniger "weiß" zu sein.
Denn der Begriff "weiß" bezeichnet nicht mehr die Hautfarbe. Er steht für die privilegierte Position der Menschen weißer Hautfarbe, während die Hautfarbe selbst irgendwie keine Rolle mehr spielen soll. Ein weißer Bettler wäre demnach im Prinzip privilegiert gegenüber allen Schwarzen, unabhängig von deren Position und Einkommen.
"Das ist die Erbsünde"
Der schwarze US-Sprachforscher John McWhorter von der Columbia University hält von diesen Vorstellungen überhaupt nichts. So erklärte er unlängst in einem Vortrag: "Die Vorstellung, dass eine verantwortungsvolle weiße Person sich zu ihrem 'weißen Privileg' bekennen und einsehen soll, dass sie es nicht loswerden könne, und sich dafür ewig schuldig fühlen solle – das ist die Erbsünde."
Trotz solcher Einwände setzen sich die Vorstellungen der linken Identitätspolitik weiter durch. So schreiben Anhänger der CRT heute von "Schwarzen Menschen" mit großem "S", aber von "weißen Menschen" mit kleinem "w", um das Selbstbewusstsein der Schwarzen zu stärken. Selbst Zeitungen wie die New York Times oder die Nachrichtenagentur AP orientieren sich inzwischen daran. Natürlich denkt man damit tendenziell rassistisch im Sinne von festen Kategorien der Menschen, wendet Christoph Antweiler ein. Mit anderen Worten: AnhängerInnen der CRT verhalten sich selbst rassistisch.
Wer das allerdings kritisiert, setzt sich wiederum dem Verdacht aus, Rassist zu sein, oder – als Nichtweißer – den Rassisten in die Hände zu spielen. Der Erfolg der Identitätspolitik verhindert so ein präzises Studium der eigentlichen Ursachen und Zusammenhänge der Unterdrückung, warnt Antweiler. "Dabei sagt die kulturelle Genese eines Gedankens oder Arguments natürlich überhaupt nichts über deren Richtigkeit oder Berechtigung aus, genauso wenig wie Hautfarbe, Alter oder Geschlecht derjenigen, die sie verbreiten".
Gerechtigkeit für alle, ohne Identitätspolitik
Vor dem Hintergrund des westlichen Kolonialismus und Imperialismus lehnen Anhänger der Postmoderne den Anspruch universeller Menschenrechte als kulturimperialistisch und eurozentristisch ab. Allerdings verändern sich Kulturen über die Zeit sowieso ständig und beeinflussen sich gegenseitig. Und die Vorstellung universeller Menschenrechte hätte sich auch andernorts entwickeln können.
Gesellschaften bestehen aus menschlichen Individuen, die sich zwar mit ihren Kulturen in der Regel weitgehend identifizieren – sie werden aber zuerst einmal als Menschen geboren – frei, die Ketten kommen später. Die sozialen Regeln und Kompromisse der Gesellschaft sollen vor allem die Möglichkeit des friedlichen Miteinanders gewährleisten. Kulturelle Traditionen, Normen und Werte als Argument gegen die universellen Menschenrechte auszuspielen, nutzt nur denen, die auf Kosten anderer davon profitieren.
Nichts rechtfertigt einen prinzipiellen Anspruch einzelner oder einer Gruppe auf Vorteile anderen gegenüber. Wo bereits Gerechtigkeit herrscht, sind die universellen Menschenrechte umgesetzt. Wo sie nicht gelten sollen, überlässt man das Feld der Diskriminierung und Unterdrückung.
Soziale Gerechtigkeit für alle lässt sich nur erreichen, wenn Menschen ihrer Gruppenidentität keine besondere Bedeutung anderen Gruppen gegenüber beimessen. Mehrheiten sind hier in der Pflicht, aber es gilt auch für Minderheiten, dass sie Angehörige der Mehrheit nicht pauschal denunzieren und deren Interessen delegitimieren sollten. Identitätspolitik, egal von welcher Seite, vergiftet die Gesellschaft. Sie ist toxisch.
29 Kommentare
Kommentare
Arnulf Hopf am Permanenter Link
Das ist mal eine sehr gut und verständlich geschriebene Klärung der "Identitären"-Problematik , vielen Dank an Markus Schulte von Drach !
Gerhard Baierlein am Permanenter Link
Ein lehrreicher Artikel von Herrn Marcus C. Schulte mit guten Ansätzen für eine Veränderung der Ansichten was den Rassismus betrifft.
Rassismus und Ausgrenzung wird es solange geben, wie die Menschheit nicht verstanden hat, dass Wir alle nur eins sind, nämlich MENSCHEN egal welcher Herkunft, welches Geschlechts, welchen Glaubens, wir teilen uns alle diesen kleinen blauen Planeten.
Das Grundprinzip der Ausgrenzung anderer, ist das Grundübel der Menschheit seit Urzeiten
und es müsste doch gelingen, mit Empathie und Intellekt dieses Übel zu überwinden.
Wolfgang von Sulecki am Permanenter Link
Sie schreiben ".. Das Grundprinzip der Ausgrenzung anderer, ist das Grundübel der Menschheit seit Urzeiten und es müsste doch gelingen, mit Empathie und Intellekt dieses Übel zu überwinden .. "
Dabei übersehen Sie einen wesentlichen Aspekt, der im Artikel angesprochen wurde und erklärt, dass die 'biologische' Komponente so bedeutsam ist, weil sie sich als Struktur evolutionär entwickelte und damit für das Individuum einen Vorteil darstellt.
Was wir als Menschen mit 'Erkenntnis' dieser Grundlage erreichen müssen ist, zu erkennen, dass diese Prägung nicht 'übel', da spezifisch für unsere Spezies ist, sondern von uns Allen verlangt daraus keine Privilegierung herzuleiten.
Aus diesem Dilemma ergibt sich für mich die traurige Bilanz, dass dieses Ziel unerreichbar ist, denn es erfordert eine grundlegende Kenntnis der biologischen Strukturen - und die wurde in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend durch Veränderung der Curricula zu Ungunsten der Naturwissenschaften, insbesondere der Biologie, reduziert und mit Fächern angefüllt die mehr auf 'Erlernbarkeit' und weniger auf 'Transferleistung' abgestellt sind.
Es kommt doch nicht von ungefähr, dass - wie ebenso weiter oben angesprochen - Diskussionen um Begriffe und nicht um Inhalte stattfinden.
Gerhard Baierlein am Permanenter Link
@Wolfgang von Sulecki, vielen Dank für Ihre Richtigstellung, was meinen Kommentar betrifft,
so war dieser überwiegend Philosophischer Natur und weniger wissenschaftlich gedacht.
Wolf Dieter Otto am Permanenter Link
Die Absicht, die Widersprüche der sog. Identitätspolitik darzustellen, ist gut gelungen. Einige Theoriezusammenhänge werden jedoch fahrlässig vermischt.
Markus C. Schul... am Permanenter Link
Sehr geehrter Herr Otto, danke für das Feedback.
Hans Trutnau am Permanenter Link
"Antweiler wird bedauerlicherweise nur verkürzt wiedergegeben" - aber doch immerhin 9 x in diesem Artikel zitiert.
Und das erst recht dann, wenn auch noch Herder, Fichte und Hegel differenzierter ausgeführt worden wären!
Das könnte dann doch etwas ausufern, oder?
A.S. am Permanenter Link
Tolle Analyse. Wie wäre es mit einem Gegenkonzept das da lautet: Voneinander lernen statt identitäres Sich-Einmauern?
Noch ein politischer Aspekt: Wird nicht gerade so Politik gemacht, in dem Möchtegern-Anführer irgend einen Unmut schüren um auf der losgetretenen Empörungswelle persönlich an die Macht zu kommen? Diese Masche: "Spalte die Gesellschaft und mache Dich selbst zu Anführer des abgespaltenen Teils" ist uralt. Solche Geschichten finden sich schon in der Bibel.
Hans Trutnau am Permanenter Link
Schöner Einwand, liebe Anja.
Mich freute bei dem Artikel aber bereits, dass darin der mir persönlich etwas zu 'trendige' Begriff >identitäres Lagerdenken< nicht vorkommt.
Bernd Kammermeier am Permanenter Link
Lieber Markus C. Schulte von Drach.
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Jetzt mein winziges Verständnisproblem: Sie haben verschiedentlich "gegendert", d. h. Sie haben die Trennung zwischen Männern und Frauen betont. Nicht durch die diversen Zeichen, die je nach ideologischer Prägung gewählt werden, sondern durch das (inzwischen altmodische) Binnen-I.
Warum?
Ich verzichte inzwischen völlig auf das sexistische Suffix -in, um klarzumachen, dass ich Menschen nicht in Geschlechterschubladen stecke, sondern im Vordergrund deren selbstgewählte Funktion sehe. Also genau das, was wir mit unterschiedlichen Ethnien machen sollten. Nicht weil jemand schwarz oder weiß ist sollte für eine bestimmte Funktion ausschlaggebend sein, sondern dass er diese Funktion auch ausfüllen will und kann.
Gleiches gilt für sexuelle Geschlechter. Die Gelegenheiten, in denen dies wichtig ist, welchem Geschlecht mein Gegenüber angehört, sind deutlich in der Minderheit. Bei einem Bäcker interessiert mich nicht das Geschlechtsorgan, sondern die Qualifikation als Bäcker. Auch bei Zuhörern, Fußgängern oder Schülern sollte dies nicht primär interessieren, wie deren jeweiliges Geschlechtsorgan aussieht.
Daher verzichte ich heute wo immer es geht auf den sexistischen Suffix, weil der in diskriminierender Weise auf diesen sachlich unnötigen Unterschied verweist - und in der "gegenderten" Form sogar noch deutlich heraushebt. Es findet auch keine Inklusion statt (Männer, Frauen, Trans oder Divers seien jetzt gemeinsam gemeint), sondern eine Exklusion z. B. meiner Person. Ich möchte nicht sexistisch angesprochen werden.
Wenn es Frauen gibt, die dagegen nicht aufbegehren, dann ist das deren Sache. Ich kann auch nicht verstehen, warum es Frauen gibt, die freiwillig sexistische Symbole als Kopfbedeckung tragen. Aber ich muss da nicht mitmachen. Ich halte mich an die generischen Artikel, die überwiegend unabhängig des Sexus entstanden sind - aus einem mittelalterlichen "d", das im Englischen zum "the" mutierte. So ist "die Koryphäe" nicht automatisch eine Frau (Männer fühlen sich da auch angesprochen), "die Menschen" sind nicht automatisch alle Frauen und "der Mensch" ist nicht automatisch ein Mann (Frauen fühlen sich da auch angesprochen).
Mehr noch: Der Chirurg meint nicht Frauen, nicht mal Männer, keine Diversen, sondern ausschließlich Menschen mit eine entsprechenden medizinischen Ausbildung - egal, welches Geschlecht sie haben. Dies können wir alle problemlos verstehen, egal welches Geschlechtsorgan wir haben.
Wenn man unbedingt Männer und Frauen nach ihrem Geschlechtsorgan trennen (diskriminieren) will - was für mich sexistisch ist - dann kann man sie, damit das auch offensichtlich wird, getrennt schreiben wie "Bäcker und Bäckerinnen". Einfacher finde ich, auf den sexistischen Suffix zu verzichten und auf alle anderen Vergewaltigungen der Sprache (Partizip I für Berufsbezeichnungen) zu verzichten.
Das ist gar nicht so schwer. Die Engländer kriegen das wunderbar hin und da wollen sogar weibliche Schauspieler keine "actress" mehr sein, sondern als "actor" angesprochen werden...
Markus C. Schul... am Permanenter Link
Sehr geehrter Herr Kammermeier, Sie sprechen da ein Problem an, für das ich keine Lösung habe - und das spiegelt meine Schreibe wider.
Bernd Kammermeier am Permanenter Link
Herzlichen Dank für Ihre in die Tiefe gehende Antwort.
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Jetzt ist eines festzuhalten: Der Artikel hat sich aus lautmalerischen Gründen so einwickelt und im Sprachgebrauch Worten zugeordnet. Da gibt es interessante Studien der Linguistik. Es ging nie um sexuelle Zuordnungen. Dafür gibt es extrem viele Beispiele. Allein das Wort "Mensch" zeigt die Problematik: Welchem Geschlecht kann ein Mensch zugeordnet werden? Allen! Aber der Artikel "Derie" oder "Dier" hat sich nicht entwickelt (Sprache unterliegt halt evolutionären Prozessen, weshalb "Gendern" als Ideologie von oben nicht funktionieren kann), also hat sich "der Mensch" herausgeformt. Der Plural "die Menschen" könnte - feministisch - als Korrektiv betrachtet werden. Ja, der Plural sämtlicher Wörter im Deutschen hat den Artikel "die". Aber nicht all das ist sexuell weiblich.
Ich habe dazu eine - zunächst ungewohnt klingende - Idee: Man könnte Berufsbezeichnungen wie Namen verwenden (schließlich meint man ja eine bestimmte Person). Man kann zwar sagen: "Da hinten ist der Peter". Aber auch: "Da hinten ist Peter". Folglich könnte man auch sagen: "Da hinten ist Biologe." Aber das muss nicht sein.
Nächster Punkt: Es gibt nur ein einziges Suffix, das das sexuelle Geschlecht einer Person anzeigt: das "-in". Und dies betrifft ausschließlich weibliche Personen. Es gibt kein männliches Suffix, das deren Geschlecht anzeigt. Ein paar Beispiele: Pilot, Arzt, Biologe, Polizist, Bäcker, Notar, Autor, Ingenieur, Chef, Koch, Gehilfe etc. Alles ohne Suffix, weil neutrale Berufsbezeichnung.
Das Suffix -in kam hinzu als Kennzeichnung der Gattin. So nannte man die Frau des Müllers Müllerin. In der Bibel hat Luther uns auch die damalige Wertung dieses Suffix überliefert: Gott schuf den Menschen als Mann und Männin, als Gehilfin. D. h. als Anhängsel des Mannes, weil sie als Anhängsel des Mannes betrachtet wurde. Gerade Feministen sollten hier aufschreien und das -in von sich schleudern, so weit sie es vermögen. Wer will schon Anhängsel sein? Gerade von Männern?
Es geht also nicht um Schreibweise (die einzelnen Zeichen sind gerade in der LSBTIQ und Feministenszene hart umkämpft, weil ideologisch völlig überfrachtet), sondern um Bedeutung. Und da ist der Ursprung des Suffix -in eindeutig sexistisch. Die Frau sei - folge ich weiter der Bibel oder dem Koran - Eigentum des Mannes. Das haben Frauen in der DDR erkannt und sich antisexistisch mit den Berufsbezeichnungen ohne Suffix benannt.
Dass diesen Bezeichnungen ein "der" als Artikel vorsteht? Ist das wirklich ein Problem? Dieses generische Maskulinum sagt nichts über die Geschlechtsorgane aus. Oder wie sieht der Pimmel eines Stuhls aus, des Mondes etc.? Wenn alle Dinge ohne Geschlecht mit "das" bezeichnet würden, alle weiblichen mit "die" und alle männlichen mit "der", dann könnte man anders diskutieren. Doch auch dann wäre das -in sexistisch, außer Männer bekommen ihr aus der Mode gekommenes Suffix -rich zurück (z. B. in Wüterich). Aber dann würde "gendern" echt schwierig: Liebe BäckericheInnen... Hm? Das muss nicht sein.
Aber die Sprachgewohnheiten werden das regeln. Noch vor einigen Jahren tauchte inflationär das "frau" (als Pendent zum "man") auf: "Hat frau da Töne?" Ja, ich wurde beschimpft, wenn ich es nicht so verwendete. Und wo ist es heute? Ausgestorben, von der Sprachevolution selektiert...
Thomas Baader am Permanenter Link
"ich würde als Mann auch nicht nur mitgemeint werden wollen" Das ist allerdings ein Missverständnis des generischen Maskulinums. Da eine generische Form immer ALLE meint, meint sie niemanden MIT.
Hans Trutnau am Permanenter Link
Lieber Bernd, "actor" genügt mir schon wie den Engländern.
libertador am Permanenter Link
Die generische Verwendung wäre, wenn sie wirklich neutral wäre natürlich eine tolle Lösung für das aktuelle sprachliche Problem.
Der traditionellen Sprache fehlt es einfach an Ausdrucksmitteln. Das gilt ja nicht nur im Plural, sondern erst recht im Singular. Ich kann zum Beispiel nicht neutral auf eine Person referieren, ohne ihr Geschlecht zu erwähnen. Ich kann: "Der Arzt soll mich behandeln." oder
"Die Ärztin soll mich behandeln.", aber es gibt keinen neutralen Ausdruck, der diese häufig unwichtige Nebensächlichkeit nicht erwähnt.
Die derzeitigen Hilfskonstruktionen über Sternchen und Pausen sind ein Versuch, der Sprache neue Ausdrucksmöglichkeiten zu geben. Eine andere Möglichkeit wäre es eben bisherige Formen ab jetzt neutral zu verwenden und ggf. eine neue männliche Spezialform einzuführen oder Geschlechtsangaben über Adjektive auszudrücken.
Bernd Kammermeier am Permanenter Link
"Ich kann zum Beispiel nicht neutral auf eine Person referieren, ohne ihr Geschlecht zu erwähnen. Ich kann: "Der Arzt soll mich behandeln." oder
.
Doch, der neutrale Ausdruck ist Arzt. Dieses Wort hat kein männliches Suffix. Gerade weil dies so ist, ist es ausschließlich als Berufsbezeichnung verwendbar, die alle Menschen einschließt - und jetzt wird es wichtig -, die Medizin erfolgreich studiert haben. Gerade dadurch wird Sexismus verhindert.
Wenn es nämlich kein Suffix "-in" mehr gäbe, dann müsste man, wie im Englischen, sagen: "Ich wünsche dezidiert einen weiblichen Arzt" ("a female doctor"). Das reizt dann eher zur Nachfrage: "Ja, warum denn?" (z. B. weil eine Frau keinen männlichen Frauenarzt will). Oder - jetzt wird es noch klarer - man muss fragen: "Kann ich bitte einen männlichen Arzt haben?" Dies Gegenfrage "Ja, warum denn?" könnte zu fadenscheinigen Argumenten führen.
D. h. wir würden dann gezwungen, zu begründen, warum wir in dieser oder jener Situation lieber einen Mann oder eine Frau hätten. Der Arzt ist die neutrale Form, die zufällig ein generisches Maskulinum als Artikel hat, während der Plural (die Ärzte) ein generisches Femininum als Artikel hat (worin sich seit es unterschiedliche Artikel gibt immer auch Männer gemeint sehen. Das kriegen Männer also hin, sich als Arzt auch in der Gruppenbezeichnungen "die Ärzte" inkludiert zu sehen. Frauen sehen sich übrigens auch als Menschen, obwohl es "der Mensch" heißt. Gleiches Prinzip.).
"Eine andere Möglichkeit wäre es eben bisherige Formen ab jetzt neutral zu verwenden und ggf. eine neue männliche Spezialform einzuführen oder Geschlechtsangaben über Adjektive auszudrücken."
Die mittlere Möglichkeit (neu männliche Spezialform) wäre ein Schritt rückwärts. Denn dadurch würde natürlich ein objektiver Grund fürs Gendern entstehen. Es gibt ja ein veraltetes männliches Suffix: "-rich" (wie in "Wüterich"). Dann müsste die neutraler Form heißen "Ärzterich*innen". In der Tat - wenn man was an Sprache ändern muss (was ich nicht als zwingend ansehe, denn die meisten Frauen haben kein Problem mit der existierenden Form), dann ist es simpel die Entfernung des sexistischen Suffix "-in" und bei zu begründendem Bedarf "männlich", "weiblich" oder "divers" davorsetzen. Welcher Personalchef würde sich da noch trauen, zu schreiben: "Wir suchen einen männlichen Arzt"?
Das wird sicher keines der echten Probleme lösen, aber öffentlich sichtbar wären dann alle - auch die Chauvinisten, die Männerbünde schmieden wollen...
Angelika Wedekind am Permanenter Link
Ich kann das Wort Rassismus nicht mehr hören!!!
SG aus E am Permanenter Link
Angelika Wedekind: „Ich kann das Wort Rassismus nicht mehr hören!!!“ – Dann nennen Sie es Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit (GMF).
Der Bezug auf 'die Menschenrechte' als für alle verbindliche Norm klingt immer gut. Aber so eindeutig, wie der Autor nahelegt, sind sie nicht.
Der Autor spricht sich gegen Gruppenidentitäten aus. Ich formuliere darum: In Deutschland leben 83 Millionen Menschen, folglich werden 'die Menschenrechte' 83-millionenfach unterschiedlich gegeneinander abgewogen und in praktische Konkordanz gebracht.
Markus C. Schul... am Permanenter Link
Hm, doch. Die Menschenrechte sind absolut eindeutig, außer jemand wollte bestimmte Angehörige der Art Homo sapiens nicht als Menschen bezeichnen.
SG aus E am Permanenter Link
"Menschen mit internationaler Familiengeschichte nicht auf gleicher Augenhöhe an ihrer 'Auslegung' teilnehmen zu lassen, gehört nicht nur 'möglicherweise' zur GMF, sondern ganz sicher." —
Sagen Sie. Große Teile der Bevölkerung nicht unbedingt. Besieht man sich die besonders heftig geführten Debatten der vergangenen Jahre (Kopftuch, Beschneidung, Schulkantinen ohne Schweinefleisch), ist ein häufiges Argument: 'Die' sollen sich an 'unsere' Regeln halten! Stillschweigend wird vorausgesetzt, dass 'unsere Regeln' mit den Menschenrechten deckungsgleich seien. Aber stimmt das?
Bei der Beschneidungsdebatte von 2012 waren drei Grundrechte zu berücksichtigen: Art. 2 (2) GG schützt die körperliche Unversehrtheit, Art. 4 (2) gewährt die Religionsausübung und Art. 6 (2) beschreibt Kindererziehung als natürliches Recht der Eltern. Keines dieser Grundrechte ist absolut, keines steht über den anderen. Und jedes dieser Grundrechte kann eingeschränkt werden. Ich will jetzt nicht die Beschneidungsdebatte wieder aufwärmen, sondern nur feststellen: Die eine, eindeutige Lösung dieser Gleichung mit drei Unbekannten, gibt es nicht. Und ich behaupte: Jede Lösung der Frage ist weltanschaulich/kulturell geprägt.
Ist das jetzt Menschenrechtsrelativismus? Eher nicht. Es ist lediglich die Aufforderung, die eigene Werteabwägung gut zu begründen.
An dieser Stelle breche ich ab, denn die neueste Mitte-Studie ist erschienen. Auf Seite 158 ff findet sich dort der Punkt: 4.4 Bigotterie in der Mitte? – Möglicherweise finden sich hier Hinweise auf jene Methode, die mich irritiert: nämlich mit Berufung auf 'die Menschenrechte' die Freiheit anderer Menschen beschränken zu wollen.
→ https://www.fes.de/forum-berlin/gegen-rechtsextremismus/mitte-studie-2021
Bernd Kammermeier am Permanenter Link
"Bei der Beschneidungsdebatte von 2012 waren drei Grundrechte zu berücksichtigen: Art. 2 (2) GG schützt die körperliche Unversehrtheit, Art. 4 (2) gewährt die Religionsausübung und Art.
.
Ich will hier auch keine Beschneidungsdebatte, obwohl noch immer bei uns Kinder genitalverstümmelt werden. Aber ich versuche Ihnen vor Augen zu führen, dass diese Gleichung sehr leicht zu lösen ist:
Bei den Grundgesetzartikeln haben Sie einen entscheidenden vergessen: Art. 140 GG, der den Zwang zur Teilnahme an religiösen Handlungen verbietet. Selbstverständlich werden Kinder zur "Teilnahme" an der Genitalverstümmelung (= religiöse Handlung) gezwungen. Ja was denn sonst? Ruft etwa ein acht Tage altes Baby: "Hey, Leute, mich juckt die Vorhaut so, könnt ihr mir die bitte mal abschneiden?"
Sie gehen bei Ihrer Überlegung nämlich (fast) ausschließlich von den Eltern aus (Art. 4 und 6 spiegeln ausschließlich die Interessen der Eltern, nicht die des Kindes. Und gerade das einzige Interesse des Kindes, nämlich körperlich unversehrt zu bleiben, wird zwar durch Art. 2 GG geschützt, aber der § 1631d BGB ignoriert dies, weshalb er verfassungswidrig ist.
Würden Sie die Perspektive des Opfers dieser Zeremonie einnehmen, würden Sie Ihren Irrtum erkennen. Die Eltern haben de facto kein Recht, gegen das fundamentale Menschenrecht der körperlichen Unversehrtheit zu verstoßen, nur de jure, weil unser Staat dies aus bekannten Gründen den verstümmelnden Religionsgemeinschaften erlaubt.
Ihr Schlusssatz wirkt vor diesem Hintergrund gerade zu zynisch:
"...nämlich mit Berufung auf 'die Menschenrechte' die Freiheit anderer Menschen beschränken zu wollen."
Sie betrachten es als Einschränkung der Freiheit anderer Menschen, wenn ihnen verboten wird, jemanden eine lebenslange Verstümmelung erleiden zu lassen? Dass dieser jemand das eigene Kind ist, macht die Sache nicht besser. Wenn ein Pärchen auf offener Straße einen fremden Jungen festhalten, ihm die Hose runterziehen, seine Vorhaut abschneiden und dabei Halleluja rufen würde, würde sicher jeder rufen: "Warum schützt niemand dieses Kind?" Ist es aber das eigene Kind, soll das okay sein?
Ich wünsche mir so sehr einen eigenen Artikel im GG, der Kinder genau vor solchen willkürlichen Gewaltakten der Eltern gegen das eigene Kind schützt. Z. B. indem festgeschrieben wird, dass Eltern kein Recht haben, Maßnahmen, die nicht nicht notwendig sind, an dem Kind durchzuführen oder durchführen zu lassen, die lebenslange, schmerzhafte oder traumatisierende Folgen nach sich ziehen. Alles drei trifft auf die Genitalverstümmelung zu. Spätestens damit wäre der 1631d BGB vom Tisch.
Man kann also Menschen entsprechend den Menschenrechten behandeln und ob da ein paar ihren Geisterglauben nicht ordnungsgemäß (!) ausleben können, darf kein Kriterium sein. Ich finde es eine bedauerliche intellektuelle Fehlleistung, dass Sie da nicht von selbst draufkommen...
SG aus E am Permanenter Link
Eben das wollte ich zeigen: Die Menschenrechte (hier: die Grundrechte des GG) können unterschiedlich ausgelegt und angewendet werden.
Wenn ich also dafür werbe, Menschen mit internationaler Familiengeschichte auf gleicher Augenhöhe an der Auslegung der Menschenrechte teilnehmen zu lassen, dann tue ich das mit Art. 1 AEMR: „Alle Menschen […] sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.“
David Z am Permanenter Link
Eine ganz herausragende Analyse. Vielen Dank für diese Veröffentlichung!
Leider kommt die konstruktive Kritik an den identity policies nur sehr langsam voran. Zu gross scheint die Angst, als "Rassist" oder "unsozial" gebrandmarkt zu werden. Ein in sich geschlossenes, selbst-immunisierendes Denksystem.
Daher ist dem Autor voll zuzustimmen: tatsächlich toxisch für unsere moderne, aufgeklärte, liberale Gesellschaft.
Markus Schiele am Permanenter Link
Vielen Dank für diesen lehrreichen und sauber argumentierten Artikel!
Rudi Knoth am Permanenter Link
Danke für diesen interessanten Artikel. Vieles davon ist mir vor allem letztes Jahr aufgefallen.
Thomas Baader am Permanenter Link
"Objektive Erkenntnisse sind unmöglich." Würde dieser Satz stimmen, dann würde auch diesem Satz selbst keine objektive Erkenntnis zugrunde liegen (die es ja nicht geben könnte).
G. Hantke am Permanenter Link
Warum sollte es mir etwas ausmachen, als Rassist betitelt zu werden oder angeblich Rassisten in die Hände zu spielen?
Wichtiger scheint mir doch, im Kopf gesund zu bleiben.
Und da ist der Artikel des Herrn Schulte von Drach ganz sicher sehr hilfreich.
Constantin Huber am Permanenter Link
Dass es auch verwerfliche Formen von Identitätspolitik gibt, hat Markus C. Schulte von Drach hier hervorragend herausgearbeitet.
Allerdings lässt der Umstand, dass es auch verwerfliche Formen der Identitätspolitik gibt, nicht den Schluss zu, dass sämtliche Formen davon verwerflich seien.
Einige Punkte des Textes würde ich indes stark in Frage stellen wollen:
(1) Dass Identitätspolitik per se "im Widerspruch zum Anspruch der Aufklärung steht, dass alle Menschen Mitglieder einer einzigen Menschheit sind, bestehend aus gleichwertigen und gleichberechtigten Individuen" kann ich nicht erkennen. Tatsächlich würden sogar alle Befürworter:innen der linken Identitätspolitik, die ich bisher kennengelernt habe, diesen Anspruch unterschreiben. Insofern erscheint diese pauschale Aussage als zu weit gegriffen.
(Ich vermute jedoch, dass der Autor beim Verfassen dieser Zeilen ganz bestimmte Formen der Identitätspolitik im Kopf hatte, worauf bezogen die Aussage dann womöglich stimmen kann - nur lässt sich damit eben nicht pauschal die Identitätspolitik an sich als verwerflich ankreiden.)
(2) Dass die insgesamt positive Entwicklung im Hinblick auf Rassismus, Nationalismus, Sexismus, etc. monokausal auf den Universalismus zurückzuführen sei und nicht etwa auch bestimmte Politiken dabei eine wesentliche Rolle spielten, die nun (teilweise im Nachhinein) als Identitätspolitik gelabelt werden, ist eine sehr gewagte These. Begründet oder gar mit Zahlen untermauert wird diese im Text nicht.
(3) In folgendem Abschnitt wird - entgegen der Intention des Autors - deutlich, warum Identitätspolitik selbstverständlich mit der Evolutionstheorie vereinbar ist und manchmal eben notwendig:
"Auch die Natur spielt mit hinein. Und das gilt auch für das Phänomen der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit. Voland zufolge wäre es sogar sinnvoller zu fragen, was es eigentlich bedeuten solle, Angehöriger einer Rasse zu sein – die Antwortet lautet: nichts –, und strukturelle Ungleichheiten mit emanzipatorischer Motivation zu bekämpfen, als zu fordern, den Begriff Rasse abzuschaffen."
Eine Politik, die darauf abzielt, strukturelle Ungleichheiten mit emanzipatorischer Motivation einzudämmen, wird ja aktuell mehr und mehr als identitätspolitisch gedeutet.
Da es keine Menschenrassen gibt, können auch wissenschaftlich überholte Begriffe sukzessive etwa aus den Verfassungen getilgt werden. Das eine schließt das andere nicht aus und diese stehen miteinander auch nicht im Widerspruch.
(4) Hierbei wird suggeriert, dass das nicht lediglich in bestimmten Fällen, sondern stets daneben sei:
"Menschen können aufgrund ihrer Gruppenidentität auf besondere Weise etwas "wissen", das allen anderen verschlossen bleibt".
Dabei ist durchaus anzunehmen, dass etwa weiße Cis-Männer nicht wissen wie es ist, als queere BIPoC in einer von Weißen dominierten Mehrheitsgesellschaft durch die Straßen zu laufen - geschweige denn eine Wohnung zu suchen, einen Job zu finden, etc.
Wichtig ist doch, was aus dieser Erkenntnis folgt: dass Weiße in der Mehrheitsgesellschaft eben nicht genauso gut wissen wie es BIPoC, Queeren und Co. geht und deshalb die Arbeit von diesen Menschen in Politik, Behörden, Unternehmen, etc. im Schnitt dann eben doch zu strukturellen Diskriminierungen führen kann. Und genau das zeigen nicht nur Narrative, sondern vermehrt auch Studien (gegen die sich ein - welch Zufall - weißer, Cis-Innenminister sträubt. Selbst die unabhängige wissenschaftliche Untersuchung dieser Umstände wollte Herr Seehofer also lange verhindern).
(5) Folgender Satz ist betrifft einige wenige Verfechter:innen der eindeutig verwerflichen Formen von Identitätspolitik. Pauschal auf die gesamte Identitätspolitik lässt sich dieser jedoch nicht übertragen.
"Die Empirie gilt vielmehr als der Weg, den der weiße heterosexuelle Mann seit der Aufklärung beschritten hat, um die Natur zu kontrollieren und alle zu beherrschen, die anders sind als er – und deshalb wird sie abgelehnt."
(6) Das Folgende ist in dieser pauschalen Form wieder eine recht gewagte These. (Und lässt sich als weißer Mann im Schnitt wohl einfacher sagen als als queere BIPoC:
"Soziale Gerechtigkeit für alle lässt sich nur erreichen, wenn Menschen ihrer Gruppenidentität keine besondere Bedeutung anderen Gruppen gegenüber beimessen."
(7) "Identitätspolitik, egal von welcher Seite, vergiftet die Gesellschaft. Sie ist toxisch."
Weite Teile des Textes drehen sich um die (teils sehr berechtigten!) Kritikpunkte am Postmodernismus und der CRT. Diese ist aber nicht 1:1 und gewiss nicht pauschal auf jegliche Form von Identitätspolitik übertragbar.
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Und generell: klar ist es von der Idee her nobel, die Menschheit entweder als Ganzes oder als einzelne Individuen zu betrachten. Aber das funktioniert häufig nur in der Theorie. In der praktischen Anwendung die Gesellschaft zunächst vom Individuum her zu denken, ist sicherlich begrüßenswert. Doch solange bestimmte Gruppen ungerechtfertigter Weise diskriminiert werden, muss dies eben auch benannt werden und nach Mitteln und Wegen gesucht werden, um diese Missstände zu beheben. Genau das ist ja ein zentraler Teil von Politik. Und nur, weil dieser von einigen Menschen als Identitätspolitik bezeichnet wird, wird dieser Teil ja nicht minder wichtig.
https://www.volksverpetzer.de/kommentar/identitaetspolitik/
libertador am Permanenter Link
Ich habe drei Anmerkungen zum Begriff der Aufklärung und der Menschenrechte, die hier der Identitätspolitik entgegengestellt werden.
1. Die Autoren der Epoche der Aufklärung waren nicht so klar für Universalismus, wie man es heute vielleicht rekonstruieren möchte. Als Beispiel sei nur Locke genannt, der auf der einen Seite die Freiheit des Menschen betont hat und auf der anderen Seite sein Geld in Sklaverei investiert hat.
2. Zur Frage nach der Universalität der Idee der Aufklärung selber, habe ich über Amartya Sen ein paar interessante Einblicke in die Geschichte von Ideen der Aufklärung in Indien erhalten, die dort eine wichtige Rolle gespielt haben, da Indien schon sehr lange von vielfältigen Religionen geprägt ist und entsprechende Ideen des Zusammenlebens entwickelt wurden (siehe Sen: The Reach of Reason).
3. Die Idee der Menschenrechte als Produkt der Aufklärung sind meiner Einschätzung nach zum Beispiel in muslimisch geprägten Staaten vor allem deswegen umstritten, weil bei westlichen Staaten eine Doppelmoral diagnostiziert wird. Dies führt neben religiösen Vorstellungen, die der Gleichheit der Individuen, insb. von Männern und Frauen widersprechen, oder zur Rolle von Religion im Staat dazu, dass Menschenrechte teilweise abgelehnt werden. Diese Doppelmoral kann sich in der Praxis der Menschenrechte zeigen, wenn zum Beispiel bestimmte Rechte stärker betont werden als andere. Zum Beispiel das Recht auf freie Meinungsäußerung stärker als Subsistenzrechte.