Identitätspolitik vergiftet die Gesellschaft

Linke Identitätspolitik verfolgt die gleichen Ziele wie ihre Kritiker unter den Soziallinken und Liberalen: Gleichberechtigung. Das Problem liegt in der Strategie. Gruppenidentitäten sind der wesentliche Faktor bei gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit – das ist gefährlich. Und damit hören die Probleme noch lange nicht auf.

1999 begann der Sänger Johnny Clegg in Frankfurt am Main ein Konzert mit dem Lied "Asimbonanga". Er hatte es Nelson Mandela gewidmet, als dieser noch auf Robben Island inhaftiert war. Während des Liedes betrat Mandela selbst die Bühne, hielt Cleggs Hand, tanzte mit ihm, dann sagte er: "Musik und Tanz söhnen mich mit der Welt aus, und mit mir selbst."

Was das mit linker Identitätspolitik zu tun hat? Clegg war ein Weißer, seine Band spielte eine Mischung aus afrikanischer und westlicher Musik, seine Lieder sang er teils in der Sprache der Zulu. Als privilegierter, strukturell rassistischer Weißer in einem Apartheidsstaat hatte er sich der Kultur der unterdrückten Schwarzen bemächtigt und der kulturellen Aneignung schuldig gemacht – zumindest in den Augen der Identitätspolitik.

Die Wut ist berechtigt

Vielleicht veranschaulicht dieses Beispiel ein Weltbild, das Menschen sehr streng nach Merkmalen wie Hautfarbe und Herkunft unterscheiden will, andererseits diese Merkmale als soziale Konstrukte betrachtet. Und Erklärungsbedarf gibt es noch eine Menge. Denn wenn die AnhängerInnen dieser umstrittenen Politik ihre Vorstellungen in der Öffentlichkeit darlegen, erfährt man meist nur die Hälfte von dem, worum es geht. Dort betonen sie, wie berechtigt ihr Anliegen und wie gerechtfertigt ihre Wut sei. Weil Schwarze noch immer diskriminiert werden, die Herkunft über die Chancen auf Arbeits- und Wohnungsmarkt mitentscheidet, die Frauen noch nicht gleichgestellt sind und Behinderte bei der Planung von Gebäuden mitreden sollten, zum Beispiel. Das Versprechen von Staat und Gesellschaft, dass alle die gleichen Chancen haben sollen, wird noch zu häufig gebrochen.

Deshalb, so sagte kürzlich Alicia Garza der FAZ, sei es für manche Betroffene gar nicht möglich, nicht über Identitäten zu sprechen. "Weil sie unsere Leben prägen. Auch wenn ich nicht darüber sprechen würde, dass ich schwarz bin, werde ich auf eine bestimmte Weise behandelt, weil ich schwarz bin", so die Mitbegründerin der Bewegung Black Lives Matter.

Allerdings: Da widersprechen die Kritikerinnen und Kritiker unter den Soziallinken und Liberalen gar nicht. Im Gegenteil. Sie wissen es und setzen sich sogar für die gleichen Ziele ein: Gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft für alle und das Ende jeder Diskriminierung. Was sie dagegen kritisieren, ist der Weg, auf dem Identitätspolitik zu diesen Zielen kommen will.

Was linke Identitätspolitik ausmacht

Die schwarze US-amerikanische Juristin Kimberlé Crenshaw hat in einem einflussreichen Artikel vielleicht am anschaulichsten erklärt, was Identitätspolitik eigentlich ist: "Wir alle können den Unterschied zwischen der Aussage 'Ich bin Schwarz' und der Aussage 'Ich bin eine Person, die zufällig Schwarz ist', erkennen. 'Ich bin Schwarz' nimmt die sozial auferlegte Identität und stärkt sie als Anker der Subjektivität."

Die Identitätspolitik setzt also gezielt darauf, dass Menschen, die Unterdrückung erleben, Kraft und Selbstbestätigung daraus gewinnen, wenn sie sich zusammenschließen, so wie andere Interessengruppen auch. Aber es gibt einen wichtigen Unterschied etwa zu Arbeiterbewegungen oder Klimaschützern: Die Identitätspolitik übernimmt gerade die Kategorien der Diskriminierung wie Hautfarbe, Herkunft, Religion, Geschlecht, sexuelle Orientierung und anderes, betont diese als Gruppenmerkmale ausdrücklich und erklärt sie zu einem essenziellen Teil des menschlichen Wesens.

Die Betroffenen sollen sich demnach über Gruppenmerkmale definieren. Um an Bedeutung in der Gesellschaft zu gewinnen, wird die Bedeutung der Personen verschoben vom Individuum zum Merkmalsträger – was die persönliche Bedeutung letztlich allerdings verkleinert. Und obwohl die Identitätspolitik häufig von der "Kultur" von Gruppen spricht, geht es eigentlich nur um einige wenige Marker. Die tatsächliche Lebensweise verschiedener Gruppen, der eigentliche Inhalt ihrer Kultur, ist für die führenden Akteure der Bewegung oft nur eine Nebensache, sagt der Ethnologe Christoph Antweiler von der Universität Bonn. "Der Begriff Identität wird als argumentative Waffe benutzt".

Identitätspolitik heizt Gruppenkonflikte an

Ein ganz grundsätzliches Problem mit der Identitätspolitik wird in der Regel überhaupt nicht angesprochen: Sie greift ausgerechnet auf jenes menschliche Verhalten zurück, das auch das Fundament des Rassismus und jeder Form von Fremdenfeindlichkeit bildet: Menschen denken in Kategorien – auch in Bezug auf andere Menschen. Sie neigen dazu, sich zu Gruppen zusammenzuschließen und dann die Merkmale besonders zu betonen, über die sich die Gruppe identifiziert. So wird der Kontrast zu anderen Gruppen systematisch verstärkt, während etwa Unterschiede innerhalb der eigenen Gruppe ausgeblendet werden, erklärt Antweiler.

Die rechte Identitätspolitik versucht auf diese Weise, eine fantasierte Hierarchie mit der eigenen Gruppe an der Spitze herzustellen. Linke Identitätspolitik zielt dagegen auf ein Miteinander solidarischer Gruppen. Das hört sich erst einmal gut an, ist aber wohl schwieriger als es klingt. Denn eine der wichtigsten Erkenntnisse der Sozialwissenschaften, der Verhaltensbiologie und der Psychologie ist: Je relevanter die eigene Gruppe für einen Menschen ist, desto höher bewertet er oder sie diese im Vergleich zu allen anderen Gruppen.

Das fängt schon bei willkürlich eingeteilten Gruppen von Kindern an. Und je stärker die Abgrenzung und Ausgrenzung, desto geringer die Solidarität und desto größer das Konfliktpotential. Antweiler bezeichnet das als "allgegenwärtigen Ethnozentrismus", dessen Grundhaltung laute: 'Wir' sind ganz besonders, ganz anders, wir sind die Besten oder Auserwählten.' Der Psychologe und Aggressionsforscher Thomas Elbert von der Universität Konstanz fasst es so zusammen: "Der Mensch ist als soziales Wesen zu Gruppenbildung verdammt. Gemeinsam kämpfen, gemeinsam schlagen ist genauso sozial wie menschlich."

Es ist also zu befürchten, dass die Hoffnung der linken Identitätspolitik auf Solidarität statt Spaltung vergeblich ist – selbst wenn es natürlich ein Unterschied ist, ob eine Mehrheit Identitätspolitik betreibt, um auszugrenzen, oder ob Minderheiten sie nutzen, um auf ihre soziale Benachteiligung hinzuweisen und Kräfte dagegen zu mobilisieren.

Widerspruch zum Weltbild des Universalismus

Ein weiterer Punkt, der selten angesprochen wird, ist, dass die Identitätspolitik als taktisches Werkzeug grundsätzlich im Widerspruch zum Anspruch der Aufklärung steht, dass alle Menschen Mitglieder einer einzigen Menschheit sind, bestehend aus gleichwertigen und gleichberechtigten Individuen. Identitätspolitik ist hier geradezu reaktionär. Denn zumindest dort, wo der humanistische Anspruch konsequent verfolgt wurde, hat er sich als friedensstiftend erwiesen.

Nationalismus, Rassismus, Sexismus sind heute im Westen absolut geächtet – meist schon per Gesetz und im Prinzip auch innerhalb der Mehrheit der Gesellschaft. Überwunden sind sie noch nicht. Minderheiten erleben auch in Deutschland immer noch Diskriminierung. Aber die Entwicklung ist historisch und global gesehen weltweit bislang eine Erfolgsgeschichte des Universalismus. Und schlimme Rückschläge wie zum Beispiel die Verbrechen der Nationalsozialisten waren gerade die Folgen einer Identitätspolitik, einer konsequenten Politik des "Wir" gegen "die Anderen". Welcher Weg verspricht also den größeren Erfolg?

Sprache oder Evolution: Nicht alles ist sozial konstruiert

Ein weiterer, mehr als fragwürdiger Aspekt der linken Identitätspolitik, der in der Regel verschwiegen wird: Ihre VertreterInnen sind Kinder der Postmoderne. Diese hat ihren Ursprung in der "kritischen Theorie" der Frankfurter Schule um Theodor Adorno, Max Horkheimer und Herbert Marcuse und wurde vor allem durch Intellektuelle wie Jacques Derrida und Michel Foucault vorangetrieben.

Am Ende ihrer konstruktivistischen und poststrukturalistischen Überlegungen steht knapp zusammengefasst: Objektive Erkenntnisse sind unmöglich. Die gesamte soziale Wirklichkeit ist ein Konstrukt, gebildet im Sinne der Macht, die kontrolliert, wie über die Dinge geredet wird. Selbst Menschen gelten als vollständig sozial konstruiert: Identität, Charakter, Sexualität, der Körper - alles Produkte der Machtverhältnisse und der Sprache. Und die Machtstrukturen sollen sich überwinden lassen, indem man "dekonstruiert", die Hintergründe der Verhältnisse offenlegt und anprangert und die Diskurse im Sinne der Unterdrückten verändert.

Diese Beschränkung auf Sprache als einziges Werkzeug, das wirklich zählen soll, ignoriert eine der bedeutendsten Erkenntnisse der Wissenschaft überhaupt: Der Mensch ist Produkt der Evolution. Über Jahrmillionen mussten seine Vorfahren sich an eine Realität anpassen, die jene, die ihre Bedingungen ignorieren oder falsch interpretieren, mit dem Aussterben bestraft. Deshalb ist nicht die Sprache der Ausgangspunkt dafür, wie die Dinge wahrgenommen werden, sondern die an die Realität angepassten Sinnesorgane.

Natürlich nimmt der Mensch über die Kommunikation Einfluss darauf, wie die aufgenommenen Informationen interpretiert werden. Diese Erkenntnis ist nicht neu. Und durch die Fortschritte der Hirnforschung und Kognitionspsychologie ist in den letzten Jahren auch die Konstruktion von "Bedeutung" in den Fokus der Naturwissenschaften gerückt, sagt Eckart Voland, emeritierter Professor für Biophilosophie an der Universität Gießen. Dinge existieren in der Realität, aber "Bedeutung entsteht nur im Gehirn, und zwar in jedem einzelnen. Sie ist zweifelsohne konstruiert."

Das heißt: Biologen ist klar, dass die Bedeutung von zum Beispiel Geschlechterrollen sozial konstruiert ist – aber die Rollen selbst sind es nicht ausschließlich. Auch die Natur spielt mit hinein. Und das gilt auch für das Phänomen der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit. Voland zufolge wäre es sogar sinnvoller zu fragen, was es eigentlich bedeuten solle, Angehöriger einer Rasse zu sein – die Antwortet lautet: nichts –, und strukturelle Ungleichheiten mit emanzipatorischer Motivation zu bekämpfen, als zu fordern, den Begriff Rasse abzuschaffen.

Jeder Gruppe ihre eigene Wahrheit?

Gegen solche Hinweise hat sich die postmoderne linke Identitätspolitik allerdings immunisiert. Denn es wird noch schlimmer: Die Postmodernen der Gegenwart haben zwar wie ihre Vorgänger den Anspruch auf objektive Erkenntnisse aufgegeben. Sie stellen sich selbst aber nicht mehr infrage. Stattdessen konstruieren sie nun Vorstellungen von der Welt auf der Grundlage der Erfahrungen verschiedener Gruppen, entsprechend deren jeweiliger "Narrative". Ihre vor allem moralisch gerechtfertigten Diskurse sollen den herrschenden Diskurs der Privilegierten ersetzen und endlich für soziale Gerechtigkeit sorgen. Nachdem die Objektivität sowieso aufgegeben wurde, kann jede und jeder die eigenen Vorstellungen als wahr betrachten. Und der Anspruch, für soziale Gerechtigkeit zu kämpfen, adelt diese eigene Wahrheit.

Aus dieser Perspektive versucht die Gruppe der weißen, heterosexuellen, älteren cis-Männer immer noch zu definieren, was als "wahr" zu gelten hat, um ihre Machtposition zu erhalten. Um diesen Diskurs herauszufordern, sollen unterdrückte Identitätsgruppen dieser "Wahrheit" die eigenen, gleichberechtigten "Wahrheiten" entgegenstellen.

Der Postmodernismus behauptet tatsächlich: Menschen können aufgrund ihrer Gruppenidentität auf besondere Weise etwas "wissen", das allen anderen verschlossen bleibt: als Frauen, als Homosexuelle, als Muslime, als Angehörige einer Gruppe, die unter Sklaverei und Kolonialismus gelitten hat, oder auch einfach als Volk oder Stamm. Dabei geht es aber nicht darum, vielfältige individuelle Erfahrungen zu sammeln, um auf dem Wege der wissenschaftlichen Beobachtung, der Empirie, einer objektiven Wahrheit näher zu kommen. Die Empirie gilt vielmehr als der Weg, den der weiße heterosexuelle Mann seit der Aufklärung beschritten hat, um die Natur zu kontrollieren und alle zu beherrschen, die anders sind als er – und deshalb wird sie abgelehnt. Die Forderung nach einem Realitäts-Check selbst gilt als Zeichen westlicher Arroganz kulturellen Minderheiten gegenüber. Schließlich hat die westliche Wissenschaft nur deshalb Erfolg gehabt, weil dahinter die militärische und wirtschaftliche Macht westlicher Nationen steht, behauptet etwa die populäre postmoderne Philosophin Sandra Harding, und nicht weil sie wahr, rational oder effektiv sei.

Alles akzeptieren, um niemanden zu diskriminieren

Stattdessen gelten im Postmodernismus etwa überlieferte Traditionen den wachsenden naturwissenschaftlichen Erkenntnissen als ebenbürtig. Jeder Schöpfungsmythos soll genauso als Wissen betrachtet werden wie die Evolutionstheorie. Was für JoAllyn Archambault, Angehörige der Sioux und Direktorin des American Indian Program am Smithonian Institute schon gegen den gesunden Menschenverstand verstößt: "Die Ursprungsgeschichten zum Beispiel [...] variieren stark von Stamm zu Stamm. Je nach Stamm kann die Schöpfung das Werk von Coyote, einem Vogel, dem ersten Menschen, einer Schildkröte und so weiter sein. Selbst innerhalb eines Stammes kann überlieferter Glaube verschiedene Erschaffungsgeschichten beinhalten."

Als eigenes Wissen dürfen solche Vorstellungen jedoch im postmodernen Weltbild nicht infrage gestellt werden. Gerechtfertigt wird dieser Multikulturalismus-Anspruch auch mit dem Argument, dass so kulturelle Diskriminierung verhindert wird. Das aber funktioniert nicht, sagt Christoph Antweiler, gerade "weil ja unterschieden – also diskriminiert – wird." Trotzdem etabliert sich diese Haltung seit einigen Jahren zunehmend an nordamerikanischen Colleges und Universitäten.

Letztlich kehren die Postmodernisten damit zu den Vorstellungen des Romantikers Johann Gottfried Herder und der anti-aufklärerischen Philosophen wie Johann Gottlieb Fichte und Georg Wilhelm Friedrich Hegel zurück, die Kultur, Wissen, Volk, Sprache und völkische Identität als untrennbare Einheit betrachteten und so eine der Grundlagen für den Rassismus des 19. und 20. Jahrhunderts schufen.

Vor diesem Hintergrund weist der Kulturanthropologe Antweiler darauf hin, dass sogar der Begriff "Vielfalt" gefährlich werden kann. "Es sollte uns zu denken geben, wenn jetzt sogar die extreme Rechte kulturelle Vielfalt gut findet", warnt er. Es werde leider notorisch vergessen, dass Menschen in vieler Hinsicht gleich sind, biologisch und auch kulturell. "Auch wenn ich Kulturwissenschaftler bin, ist mein Motto deshalb: Lasst uns Kultur runter dimmen und mehr auf Individuen einerseits und die ganze Menschheit andererseits achten."

Nur Weiße können rassistisch sein – und sind es immer?

Die linke Identitätspolitik aber kümmert sich nicht um solche Widersprüche, sondern befasst sich fast ausschließlich mit der negativen Rolle von Menschen mit weißer Hautfarbe und westlicher Abstammung. Gerade hier lässt sich zeigen, wie versucht wird, sich der Sprache zu bemächtigen, um die Machtverhältnisse zu verändern.

Die Identitätspolitik wirft den Weißen zum Beispiel vor, Rassismus erfunden zu haben, um Kolonialismus und ihre Vorherrschaft in der Welt zu rechtfertigen. Im Prinzip war dieser Rassismus die Diskriminierung von Gruppen aufgrund angeborener Merkmale. "Weiße haben diesen Rassismus systematisiert und pseudobiologisch untermauert", sagt Antweiler. "Allerdings ist auch der Kampf gegen den Rassismus ein Kind des Westens."

Statt sich aber differenziert mit dem Phänomen auseinanderzusetzen, wurde der Begriff übertragen auf die Benachteiligung von Gruppen aufgrund von sexuellen, religiösen oder kulturellen Merkmalen. Wo die Hautfarbe angesprochen wird, gilt sie ebenfalls als sozial konstruierte Eigenschaft. Damit ist man den spezifisch biologischen Aspekt des Rassismus los. So hat der Begriff allerdings auch jede Kraft für eine eigentlich antirassistische Argumentation verloren, warnt Antweiler.

Dafür kann er nun entsprechend der postmodernen Vorstellungen von Machtverhältnissen angewendet werden. Und obwohl der ursprüngliche Rassismus in der Gesellschaft geächtet ist, lässt er sich im neuen Gewand allen Weißen zum Vorwurf machen. So erklärt die zunehmend populäre identitätspolitische "Critical Race Theory" (CRT), alle Strukturen in Gesellschaften, die von Weißen gebildet wurden, seien grundsätzlich rassistisch.

Es wird darüber hinaus behauptet, überhaupt könnten nur Weiße rassistisch sein, weil auch nur sie von den Strukturen profitieren – und weil sie als Weiße davon profitieren, selbst wenn sie sich dessen nicht bewusst sind, sind sie auch und immer strukturell rassistisch. Der populäre schwarze US-Buchautor Ibram X. Kendi etwa behauptet, Weiße könnten nur dann keine Rassisten sein, wenn sie aktive Antirassisten wären – indem sie seinen Lehren folgen.

Weiße, die auf die rassistische Behandlung von Schwarzen wie jüngst in China während der Pandemie oder auf rassistische Konflikten zwischen Schwarzen und Indern in Afrika hinweisen, wollen der CRT zufolge nur ablenken und dokumentieren so ihren anhaltenden Rassismus. Sie sollten sich stattdessen ihres rassistischen Weißseins bewusst werden, sagt die amerikanische Bestseller-Autorin Robin DiAngelo. Sie bietet auch gleich ihre Hilfe in Form von Büchern, Vorträgen und Kursen an. Manche großen Unternehmen fordern dank DiAngelos Einfluss ihre MitarbeiterInnen inzwischen auf, weniger "weiß" zu sein.

Denn der Begriff "weiß" bezeichnet nicht mehr die Hautfarbe. Er steht für die privilegierte Position der Menschen weißer Hautfarbe, während die Hautfarbe selbst irgendwie keine Rolle mehr spielen soll. Ein weißer Bettler wäre demnach im Prinzip privilegiert gegenüber allen Schwarzen, unabhängig von deren Position und Einkommen.

"Das ist die Erbsünde"

Der schwarze US-Sprachforscher John McWhorter von der Columbia University hält von diesen Vorstellungen überhaupt nichts. So erklärte er unlängst in einem Vortrag: "Die Vorstellung, dass eine verantwortungsvolle weiße Person sich zu ihrem 'weißen Privileg' bekennen und einsehen soll, dass sie es nicht loswerden könne, und sich dafür ewig schuldig fühlen solle – das ist die Erbsünde."

Trotz solcher Einwände setzen sich die Vorstellungen der linken Identitätspolitik weiter durch. So schreiben Anhänger der CRT heute von "Schwarzen Menschen" mit großem "S", aber von "weißen Menschen" mit kleinem "w", um das Selbstbewusstsein der Schwarzen zu stärken. Selbst Zeitungen wie die New York Times oder die Nachrichtenagentur AP orientieren sich inzwischen daran. Natürlich denkt man damit tendenziell rassistisch im Sinne von festen Kategorien der Menschen, wendet Christoph Antweiler ein. Mit anderen Worten: AnhängerInnen der CRT verhalten sich selbst rassistisch.

Wer das allerdings kritisiert, setzt sich wiederum dem Verdacht aus, Rassist zu sein, oder – als Nichtweißer – den Rassisten in die Hände zu spielen. Der Erfolg der Identitätspolitik verhindert so ein präzises Studium der eigentlichen Ursachen und Zusammenhänge der Unterdrückung, warnt Antweiler. "Dabei sagt die kulturelle Genese eines Gedankens oder Arguments natürlich überhaupt nichts über deren Richtigkeit oder Berechtigung aus, genauso wenig wie Hautfarbe, Alter oder Geschlecht derjenigen, die sie verbreiten".

Gerechtigkeit für alle, ohne Identitätspolitik

Vor dem Hintergrund des westlichen Kolonialismus und Imperialismus lehnen Anhänger der Postmoderne den Anspruch universeller Menschenrechte als kulturimperialistisch und eurozentristisch ab. Allerdings verändern sich Kulturen über die Zeit sowieso ständig und beeinflussen sich gegenseitig. Und die Vorstellung universeller Menschenrechte hätte sich auch andernorts entwickeln können.

Gesellschaften bestehen aus menschlichen Individuen, die sich zwar mit ihren Kulturen in der Regel weitgehend identifizieren – sie werden aber zuerst einmal als Menschen geboren – frei, die Ketten kommen später. Die sozialen Regeln und Kompromisse der Gesellschaft sollen vor allem die Möglichkeit des friedlichen Miteinanders gewährleisten. Kulturelle Traditionen, Normen und Werte als Argument gegen die universellen Menschenrechte auszuspielen, nutzt nur denen, die auf Kosten anderer davon profitieren.

Nichts rechtfertigt einen prinzipiellen Anspruch einzelner oder einer Gruppe auf Vorteile anderen gegenüber. Wo bereits Gerechtigkeit herrscht, sind die universellen Menschenrechte umgesetzt. Wo sie nicht gelten sollen, überlässt man das Feld der Diskriminierung und Unterdrückung.

Soziale Gerechtigkeit für alle lässt sich nur erreichen, wenn Menschen ihrer Gruppenidentität keine besondere Bedeutung anderen Gruppen gegenüber beimessen. Mehrheiten sind hier in der Pflicht, aber es gilt auch für Minderheiten, dass sie Angehörige der Mehrheit nicht pauschal denunzieren und deren Interessen delegitimieren sollten. Identitätspolitik, egal von welcher Seite, vergiftet die Gesellschaft. Sie ist toxisch.

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