"Nicht hinter Martin Luther King zurückfallen"

Gegen einen identitären und für einen universellen Antirassismus

Bei aufklärerischen Einwänden gegen linke Identitätspolitik geht es nicht darum, das allgemeine Engagement für unterschiedliche Minderheiten zu kritisieren. Bedenklich sind die damit einhergehenden Implikationen, etwa die eines identitären Antirassismus, der gegen einen universellen Antirassismus gestellt werden soll. Ein Kommentar.

"Ich habe einen Traum, dass meine vier kleinen Kinder eines Tages in einer Nation leben werden, in der man sie nicht nach ihrer Hautfarbe, sondern nach ihrem Charakter beurteilen wird … Ich habe einen Traum …" Martin Luther King sprach am 28. August 1963 diese berühmt gewordenen Sätze. Persönliche Eigenschaften müssten relevant sein, nicht kollektive Zugehörigkeiten. Und dies sollte insbesondere für die Hautfarbe gelten, welche eben von der Natur vorgegeben ist. Doch heute wird dieser Grundsatz ausgerechnet von einer Identitätslinken verworfen. Deren Anhänger halten die Hautfarbe wieder für wichtig, indessen aus anderen Gründen als die Identitätsrechte. Hier bedarf es auch der Differenzierung: Denn die angesprochene Identitätslinke, die sich für Minderheiten und deren Rechte engagieren will, behauptet keine biologisch bedingten Wertunterschiede. Für sie steht die Hautfarbe mehr für einen Sozialstatus. Denn in der Gesellschaft gelten der Identitätslinken allgemein einerseits Schwarze als diskriminiert und andererseits Weiße als diskriminierend.

Diese grundlegende Auffassung führt aber zu pauschalisierenden Verallgemeinerungen: So sei Rassismus kein Thema für Weiße. Oder Rassismus von Schwarzen gegenüber Weißen wäre nicht möglich. Derartigen Aussagen ist durchaus ein wahrer Kern eigen: Denn es sind nicht die Schwarzen, sondern die Weißen, die ihnen gegenüber Vorteile in der westlichen Welt haben. Ein kritisches Bewusstsein dazu könnte verstärkt werden. Gleichwohl bedingt dies keineswegs, dass Weiße so etwas nicht wissen wollen. Und dann besteht auch ein Dominanzverhältnis beim Rassismus, hier bei Mehrheitsangehörigen gegenüber Minderheitsangehörigen. Dies bedeutet aber nicht, dass Angehörige einer Minderheit keine rassistischen Vorstellungen haben können. Sie artikulieren diese eventuell gegen Angehörige der Mehrheitsgesellschaft oder auch anderer Minderheitsgesellschaften. Es gibt etwa einen Antisemitismus unter Schwarzen in den USA. Wäre dieser kein Ausdruck von Rassismus, nur weil die Betroffenen als Juden eben Weiße sind?

Wenn die Hautfarbe für Identitätslinke relevant ist, dann wegen ihres Merkmals für einen Sozialstatus. Und mit diesem Hinweis besteht auch gegenüber der Identitätsrechten der angesprochene Unterschied. Gleichwohl ist das entscheidende Differenzierungsmerkmal dann doch wieder die Hautfarbe, eben auch für die Identitätslinke. Sie nimmt darüber hinaus eine dualistische Einteilung vor, wobei die Opfergruppe die Schwarzen und die Tätergruppe die Weißen sein sollen. Und damit sind nicht mehr individuelle Einstellungen, sondern kollektive Zugehörigkeiten wichtig. Darüber hinaus argumentiert man für die gemeinten Gruppen mit einer inneren Wesenheit. Dies macht die Auffassung deutlich, dass das Gedicht einer schwarzen Lyrikerin nicht von einem weißen Übersetzer übertragen werden könne. Ihm fehle es an dem richtigen Einfühlungsvermögen für schwarze Empfindungen, so lauteten jedenfalls die Einwände für derartige Positionen. Doch warum sollte eine solche Empathie grundsätzlich im Selbstverständnis bei einem Weißen nicht vorhanden sein?

Nimmt man derartige Aussagen als Grundprinzipien ernst, so würde dies zu absurden Konsequenzen bei einer Verallgemeinerung führen: Dürften sich über die Diskriminierung von Schwarzen nur noch Schwarze äußern? Wären Aussagen darüber von Weißen nicht letztendlich selbst rassistisch? Hier artikuliert sich auch ein Denken, das "kulturelle Aneignung" beklagt, also wenn Frisuren oder Mode von Schwarzen von Weißen übernommen werden. Muss dann eine weiße Frau, die den Farbenreichtum afrikanischer Kleider mag, letztlich als Rassistin gelten? Dürfte auch Jazz nur noch von Schwarzen, aber nicht mehr von Weißen gespielt werden? Derartige Denkungsarten setzen objektiv voraus, dass es bei Kulturen ein feststehendes Wesen gibt. Gerade in diesem Essenzialismus bestehen erkennbare Gemeinsamkeiten mit der Identitätsrechten, lediglich die inhaltlichen Vorzeichen sind anders. Denkt man diese Argumentationsmuster in ihrer Konsequenz zu Ende, würde dies zu einer Separierung von Schwarzen und Weißen führen.

Gegenüber diesem identitären Antirassismus soll hier für einen universalistischen Antirassismus plädiert werden. Die Differenz beider Einstellungen besteht darin, dass Gruppenidentitäten unterschiedliche Werte haben. In der identitären Auffassung kommt ihnen herausragende Relevanz zu. Demgegenüber haben diese Bedeutung die individuellen Menschenrechte im universalistischen Verständnis. Allgemeine Merkmale gehen dabei mit einem konkreten Rassismusverständnis einher, wonach die Benachteiligung von Menschen aufgrund ihrer angeblichen oder tatsächlichen ethnischen Zugehörigkeit gemeint ist. Diese Auffassung schließt ein, dass Schwarze gegenüber Weißen rassistisch sein könnten. Seinerzeit stand Martin Luther King auch schwarzen Separatisten gegenüber, welche den Teufel in den Weißen vermuteten. Ein identitärer Antirassismus knüpft in seiner Denkstruktur an derartige Zerrbilder an. Sie fördern letztendlich noch den Rassismus. Mit einem universalistischen Antirassismus fällt man nicht hinter Martin Luther King zurück.

P.S.: Über eine "Black Lives Matter"-Demonstration berichtete jüngst in der taz die Journalistin und Juristin Johanna Soll, die an einer solchen in Boulder mit einem weißen Freund teilnahm: "Ich klatschte nicht und sehe meinen Freund an, der verunsichert scheint. Nie zuvor wurde ihm pauschal sein Weißsein vorgeworfen. 'Du musst nicht klatschen', sagte ich. Vor dem Loslaufen gibt der Moderator letzte Anweisungen, welche Parolen die Weißen nicht rufen dürfen, unter anderem 'I can’t breathe' – diese seien nur den BIPoC vorbehalten. Außerdem werden alle BIPoC dazu angehalten, den Demonstrationszug anzuführen: 'Wir laufen vorneweg und ihr Weißen lauft hinter uns her!' 'Willst du vorne mitlaufen?', fragt mein Freund. 'Nein, wir laufen zusammen', ist meine Antwort. Ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass ausgerechnet auf einer Black-Lives Matter-Demo BIPoC und Weiße, die diese unterstützen, voneinander getrennt werden."

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