Intelligent Design 2.0 - Teil 9

Religiositätsgene?

RONNENBERG. (hpd) Alle Menschen können sich übernatürliche Wesen vorstellen, doch nicht alle halten diese als Akteure auch für real oder betteln sie sogar an. Worin liegt der Unterschied begründet, wenn die genetischen und neurologischen Voraussetzungen bei allen Menschen nahezu identisch sind?

Gene und Komplexität

Nachdem Dean H. Hamer sich bereits sicher war, ein sogenantes Gottes-Gen gefunden zu haben [Hamer 2004], sind seine Kollegen heute vorsichtiger geworden. Sie sprechen lieber von einer gewissen Komplexität, die zwar irgendwie genetisch veranlagt ist, damit Religiosität als angeboren gelten kann, dann aber doch so hoch komplex ist, dass ein einzelnes Gen nicht dingfest gemacht werden kann. So zieht man sich mit Wortspielereien aus der Affäre, ohne je einen Beweis vorlegen zu müssen. Hohe Komplexität ist in der Religionswissenschaft nichts weiter als ein anderer Begriff für "keine Ahnung". Ganz Mutige behaupten sogar, dass es mindestens 1.000 Gene sein müssten [Quarks & Co 2014] und es ein einzelnes Religiositäts- oder Gottes-Gen gar nicht geben könnte, was diesen Namen verdienen würde.

Kann dies stimmen? Nehmen wir rein hypothetisch an, dass Religiosität auf 1 bis 10.000 Genen basieren würde, die im Laufe der Ontogenese gezielt angesteuert werden müssten, um in einem genetischen, biochemischen und neuronalen Selbstorganisationsprozess im Zusammenspiel mit umweltbedingten Lerninhalten das Verhalten Religiosität hervorzubringen. Wie wird dieser angeborene Prozess innerhalb der Ontogenese dann gestartet? Natürlich aufgrund einer Startsequenz, die genetisch codiert ist und entwicklungsbedingt aktiviert wird. Unabhängig davon, wozu die anderen 9.999 Gene evolviert wären, dürfte diese Startsequenz wohl als "das" Religiositätsgen zu identifizieren sein. Wer also behauptet, dass die Komplexität zu hoch ist, um entschlüsselt zu werden, aber weiterhin von einer angeborenen Religiosität redet, der hat immer noch die Bringeschuld für dieses eine Start-Gen. So viel wissenschaftliche Redlichkeit muss sein.

Ausbreitung der Gene

Könnte ein solches Gen aber überhaupt gefunden werden? Die ältesten gemeinsamen Vorfahren aller Menschen sind die mitochondriale Eva sowie der Y-chromosomale Adam, die vor ca. 200.000 bzw. ca. 60.000 Jahren lebten, während die ältesten Grabbeigaben etwa 100.000 Jahre alt sind. Würde es ein Religiositätsgen geben, so hätte es also genug Zeit gehabt sich - mit oder ohne Adam - weltweit auszubreiten, zumal religiöse Menschen ja mehr Nachwuchs haben sollen. Folglich sollten alle rezenten Menschen über dieses Religiositätsgen verfügen.

Ist dies wahrscheinlich? Es wäre zu erwarten, dass religiöse Menschen aus religiösen und nicht-religiöse Artgenossen vermehrt aus nicht-religiösen Familien hervorgehen würden, die die entsprechenden Gene bzw. Mutationen tragen würden. Doch es gibt in vielen religiösen Familien ebenso atheistische, wie in atheistischen Familien religiöse Nachfahren. Hierbei ist nicht nur kein Erbgang zu erkennen, sondern sogar ein Wechsel innerhalb der Lebensspanne möglich. Dies lässt sich durch Lernprozesse eleganter erklären als durch Gene.

Platzhalter-Programme

Der Mensch kommt nicht als leeres Blatt auf die Welt. Wir bringen neurologische Architekturen mit, die uns in definierten Altersstufen nach bestimmten Erfahrungen suchen lassen. Die Prägung auf die Mutter, das Erlernen der Muttersprache sowie der Übergang zum aufrechten Gang, die ersten Sozialkontakte zu Gleichaltrigen bis hin zur Pubertät sind Beispiele für eine neuronale Steuerung, die uns Zeitfenster für Lernphasen in unserer Ontogenese zur Verfügung stellt.

Unser Gehirn arbeitet hierbei mit Platzhaltern. Wie bereits Konrad Lorenz zeigte, lassen sich Gänseküken innerhalb eines Zeitfensters auf fast alles prägen, was am Nest erscheint. Die Genetik kann nicht wissen, wie sich die jeweilige Mutter anhört oder wie sie aussieht. Doch es gibt eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass das, was zu dieser Zeit am Nest erscheint, wohl auch die Mutter sein wird, die sich um einen kümmern wird.

Wenn wir in großer Entfernung nicht zwischen einem Baumstumpf und einem Raubtier unterscheiden können, sagt uns ein Angstgefühl, dass es besser ist, einen großen Bogen herum zu machen. Sehen tun wir hierbei ja nichts genaues, stattdessen präsentiert uns unsere hyperaktive Akteurserkennung Platzhalter, von denen wir hinterher nicht sagen können, was wir exakt gesehen haben.

Ein weiteres neurologisches Programm sind die "Gespenster unter dem Bett". Die meisten Menschen kennen diese Ängste vor dem Unbekannten unter dem Bett oder hinter dem Schrank. Was haben wir dort damals gesehen? Garnichts, denn unser Gehirn arbeitet auch hier mit Platzhaltern. Wir müssen nicht wissen, wie ein Raubtier genau aussieht, wenn ein erster Kontakt letal wäre. Wir müssen weg sein oder uns verstecken. Daher lässt uns ein Simulationsprogramm in diesem Alter durch Angstgefühle lernen, worauf wir zu achten haben. Wir erlernen die Angststarre (unter der Bettdecke), nicht die Beine vom Ast hängen zu lassen, nicht hinter dunklen Gebüschen oder in Höhlen nachzusehen sowie das Warten auf Hilfe. Doch wir lernen nicht nur das "Böse" in der Simulation kennen. Das Tier, welches bei Erscheinen eines Raubtieres vom Baum herunter geschossen kommt, uns unter den Arm krallt und mit uns im "Fluge" auf den nächsten Ast flüchtet, ist unser Retter auf Erden. Erscheint dieses Tier jedoch nicht, so warten wir den Rest unseres Lebens auf diesen Helfer von oben (und kriegen beigebracht, ihn "Schutzengel" zu nennen).

Für Beutetiere, die ihre Raubtiere und Artgenossen als Akteure mit Absichten interpretieren, ist es selbstverständlich, dass sie sich auch ihre imaginierten Platzhalter als Akteure vorstellen können. Aber diese Platzhalter sind nicht für "Religiosität" evolviert.

Grundausstattung und Religiositätsspezifika

Zu den Platzhaltern kommen Fähigkeiten, wie das minimal kontraintuitive Denken, damit wir Auffälliges leichter behalten, sowie ein promiskuitives teleologisches Denken, um Absichten Anderer zu erkennen. Als soziale Nesthocker haben wir zudem eine Vorliebe für Autoritäten und Vaterpersonen, denen wir als Kinder noch "großes Wissen" und "große Macht" zutrauen, für Moral- und Ethiksysteme, für Altruismus, rituelle Verhalten, romantische Liebe, Gesang und Tanz sowie die Fähigkeit zu Projektionen und zu der entkoppelten Kognition, um die Absichten Nicht-Anwesender zu berücksichtigen. Da der Mensch der größte Freund und Feind des Menschen ist, erkennen wir überall Gesichter und Absichten, können uns Natur- oder Systemgesetze, Bäume, Steine und Wolken als Wesen vorzustellen und schreien sogar Computerbildschirme an. Als denkende Wesen mit einem Ego akzeptieren wir zudem einen Körper-Geist-Dualismus, wollen uns in Raum und Zeit orientieren sowie unseren "Zweck" im Leben finden. Und wir haben auch die Erfahrung, dass wir Artgenossen um etwas bitten können oder zumindest Tauschgeschäfte vorschlagen dürfen.

Der U.S.-amerikanische Psychiater J. Anderson Thomson nennt über zwanzig Fähigkeiten des Menschen, über die sowohl religiöse als auch nicht-religiöse Menschen verfügen [Thomson 2014]. Wir sind folglich alle fast vollkommen gleich, was die neuronale Grundausstattung angeht. Die Existenz dieser Fähigkeiten alleine führt aber noch lange nicht zu einer Religiosität. Hierfür ist noch etwas anderes notwendig. Was ist dieses Spezifische an der Religiosität?

Macht über die Materie und Artgenossen ausüben zu wollen, ist ein infantiler, aber menschlicher Wunsch. Zudem gehen wir als soziale Wesen Tauschgeschäfte ein. Wir schenken oder versprechen etwas, um unsere eigenen Wünsche erfüllt zu bekommen. Auch nicht-religiöse Menschen tun dies. Doch in der Religiosität werden diese Wünsche in Form von aktiven Verhalten an imaginierte Wesen adressiert. Wir sprechen von Magie, wenn befohlen, und von beten, wenn gebettelt oder durch opfern getauscht wird. Religiosität existiert erst dort, wo ich den Produkten meiner Fantasie aktiv Aufmerksamkeit und Interaktion schenke, als ob diese real wären, um meine Wünsche erfüllt zu bekommen.

Religiositäts-Gene?

Kann die Verbindung von imaginierten Wesen, Bettelverhalten sowie dem Für-Real-Halten angeboren sein? Die Nicht-Existenz von Genen kann nicht bewiesen werden, doch es gibt Indizien. Betrachten wir zunächst die Stufen der Entwicklung. Neurologische Platzhalter-Programme sind genetisch basiert (Stufe 1) und individuell unterschiedlich stark ausgeprägt (Stufe 2). Wird den Kindern nicht beigebracht, dass es sich bei den Platzhaltern unter dem Bett um Geister handeln soll, dann wird der Wunsch nach einer Vorstellung auch nicht verstärkt (Stufe 3) und sie entwickeln keinen Wunsch, sich diese Platzhalter auszumalen. In der Natur würde es von dem jeweiligen Habitat abhängen, welche Raubtiere vorkämen und was die Kinder letztendlich als Angstauslöser lernen würden. Ob die Kinder sich also ihre "Geister" individuell imaginieren (Stufe 4), hängt davon ab, ob dies von den Eltern eingeredet wird. Im schlimmsten Fall werden kulturelle Vorstellungen, wie der schwarze Mann als Bösewicht oder die Zahnfee als Helferin, übertragen (Stufe 5).

Der Wunsch Macht auszuüben sowie ein Bettelverhalten gegenüber Artgenossen sind höchstwahrscheinlich ebenfalls angeboren (Stufe A). Wie stark sie bei einem Individuum ausgeprägt sind, hängt von der individuellen Ausprägung (Stufe B) sowie den Erfahrungen mit Sozialkontakten in der Kindheit ab (Stufe C). Die Übertragung solcher Wünsche auf imaginierte Wesen kann zufällig durch Fehlassoziationen erfolgen (Stufe D). Da dies aber meist nicht von Erfolg gekrönt ist, wird es in der Regel wieder vergessen. Erst wenn die Fehlassoziationen gesellschaftlich verstärkt werden, wird aus dem einmaligen Denkfehler ein Aberglaube (Stufe E).

Religionswissenschaftler, die postulieren, dass Religiosität angeboren sei, behaupten somit nicht nur, dass die Stufen 4 (ein Lerninhalt) und D (eine Fehlassoziation) genetisch miteinander verbunden sind, sondern zudem auch noch ein Programm existiert, dass wir diese Imaginationen für real halten müssen. Wie dies funktionieren soll, wird in der black box der hohen Komplexität für immer ihr Geheimnis bleiben.

Wären Bettelverhalten, Imaginalität und Für-Real-Halten auf der genetischen Ebene mit einander verknüpft, so würden wir alles, was wir uns im Laufe des Lebens imaginieren könnten, auch anbetteln. Die Tatsache, dass religiöse Menschen im Laufe ihres Lebens nicht nur ihre Glaubensinhalte austauschen, ganz ablegen oder atheistisch werden können, sondern sogar manche religiösen Vorstellungen gar nicht verstehen können, spricht jedoch dafür, dass es keine angeborenen Verdrahtungen gibt, sondern lediglich Fehlassoziationen vorliegen, die durch Nachdenken beseitigt werden können. Die Blitze schleudernden Götter auf einer Wolke werden einem denkenden Menschen irgendwann zu lächerlich.

Weiterhin müssten genetisch veranlagte Verhalten in allen Kulturen der Welt anzutreffen sein. Zeigen alle Menschen die gleichen Verhalten, Gesten und Mimiken während einer Anbetung? Können wir die Bedeutung von "religiösen" archäologischen Funde nachempfinden, weil uns deren Interpretation "angeboren" ist? Was uns in einer definierten Kindheitsphase nicht beigebracht wurde, können wir weder als religiös wahrnehmen, noch anbeten. Es gibt kein universales Verhalten, welches als "die" angeborene Religiosität bezeichnet werden kann.

Nebenprodukt

Religiosität ist als emotional unterlegte Fehlassoziation - ebenso wie Aberglauben - lediglich ein Nebenprodukt der Evolution. Tradierte Phantasien lassen sich als Placebos zur Selbtsbefriedigung oder als kulturell verselbstständigte Balz- und Imponierverhalten erklären, bei denen mit erfundenen Argumentationshanseln bei Artgenossen zusätzlich Eindruck geschunden wird. Religion ist die Kultivierung von Placebos.

Der Mensch evolvierte folglich nicht genetisch zum Homo religiosus [Blume 2009], sondern bleibt – gemäß der biologischen Nomenklatur – ein Homo sapiens, der sich durch Nachdenken aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit befreien kann.

Literatur

Blume, Michael: Homo religiosus. 06.03.2009. Spektrum der Wissenschaft. http://www.spektrum.de/magazin/homo-religiosus/982259

Hamer, Dean H.: The god gene. How faith is hardwired into our genes. Doub­leday, New York 2004.

Thomson, J. Anderson: Warum wir (an Gott) glauben. Eine kompakte Einführung in die Wissenschaft der Religion. Springer Spektrum, Berlin, Heidelberg, 2014.

Quarks & Co. Was wir über den Glauben wissen. WDR, Sendung vom 22.04.2014. http://www.youtube.com/watch?v=Z86zG0_lvVc