„Es muss ein Miteinander sein“

Beispielbild
 
Die deutsche Kirche schweigt beharrlich

hpd: In Österreich hat ja nicht nur der Staat, dort hat auch Kardinal Schönbohm zugestanden, dass eigene Kirchenmittel flüssig gemacht werden, um diese an ehemalige Heimkinder, die in kirchlichen Heimen waren, auszuzahlen.

Nieporte: In Österreich geht man diesen Weg. Interessanterweise geht man in Deutschland irgendwie keinen Weg.
 

hpd: Da ist etwas dran. Was der Missbrauchsbeauftragte der katholischen Kirche Deutschlands, Bischof Stephan Ackermann, den Betroffenen anbietet, sind eigentlich nur psychotherapeutische Hilfsangebote, Beratung im Internet und Kontakte zu den jeweiligen Heimen. Das war’s! An keiner Stelle habe ich gefunden, dass Entschädigungen wie in Österreich geleistet werden sollen. Man kann bei der Täterorganisation anrufen und sich von dieser beraten lassen. Auch in den neu erlassenen Kirchengesetzen des Vatikan steht nur drin, dass die Missbrauchsfälle kirchenintern, mittels einer eigenen kirchlichen und unabhängig von jedweder weltlichen Gerichtsbarkeit abgehandelt werden sollen.

Nieporte: Nun ist es kirchenrechtlich so, dass die Kirche zunächst selber die Möglichkeit hat, mit kircheninternen Problemen umzugehen. Wenn man diese Möglichkeiten aber hat und entsprechend autark ist, muss man doch dennoch auf die Menschen zugehen und ihnen auch klar verständlich machen, wie das Prozedere läuft, man darf sie nicht hinhalten. Das ist ein Problem, welches wir ebenfalls haben: Auf der einen Seite beruft man sich auf Verjährung, auf der anderen Seite hält man hin! Hinzu kommt, dass es Fälle gibt, in denen die Kirche den Opfern, die auch in der Öffentlichkeit auf sich aufmerksam gemacht haben, „unter der Hand“ eine Entschädigung gezahlt hat. Dies ist eine Ohrfeige für all jene Opfer, die nicht den Mut haben und hatten, sich dieser Auseinandersetzung mit der eigenen Biographie zu stellen, die unter Umständen sogar die Kirche nicht zu belasten bereit waren. Die widerspricht doch deutlich der eigentlichen Intention der Institution Kirche, deren Wertvorstellung, deren nach Außen getragene Absicht, den Schwachen zu helfen und diese zu unterstützen.

Der gezahlte Betrag ist interessanter Weise ziemlich identisch mit dem, der in Österreich und in Norwegen als Anerkennung gezahlt worden ist: Es wurden einem Betroffenen, der später an die Presse herangetreten ist, 25.000 EUR gezahlt. Die Klasnik-Kommission, welche von der katholischen Kirche in Österreich als unabhängige Kommission in Österreich für Missbrauchsopfer eingerichtet worden ist, hat Entschädigungen in Höhe von 5.000 EUR bis zu 35.000 EUR vorgesehen. Diese Entschädigungen sollen außerdem nicht durch Steuergelder, sondern aus dem Vermögen der Kirche bezahlt werden. Das nenne ich Anerkennung! Das unterstützt auch die Glaubwürdigkeit der Kirche und des Staates. Ich würde mir für Deutschland ebenso wünschen, dass die Kirchen und der Staat nichts verklären, sondern zu der Vergangenheit stehen und die Konsequenzen dafür tragen. Im Übrigen bedeutet die Aufarbeitung ja auch Vermeidung für die Zukunft.
 

hpd: Und Staat und Kirche hoffen wohl auch auf die „natürliche Lösung“? Zumindest ist das der Verdacht einiger Heimkinder. Sie sagen: „Die hoffen, dass wir alle wegsterben.“

Nieporte: Es liegt nahe, dass das passieren wird. Ob man darauf hofft, ist eine andere Frage, soweit möchte ich gar nicht gehen. Aber man nimmt es in Kauf. Und, ich sage es mal so: Wenn am Runden Tisch, an dem ja auch die Kirche vertreten ist, kein entsprechendes Ergebnis gefunden wird, das letzten Endes als akzeptabler Vorschlag dient, dann bleibt nur ein Weg: Man wird dann über den Runden Tisch wieder in die juristische Mühle hineingezwungen. Und das Fatale ist, dass dieser Runde Tisch, der bereits ungefähr ein Jahr andauert, Vielen zunächst einmal Hoffnung gegeben hat – die Betroffenen haben also wiederum ein Jahr gewartet, bevor sie auf juristische Mittel zurückgreifen.

Argument institutionalisiertes Unrecht

Die nächste Frage, und das weiß der Runde Tisch sehr wohl, ist die, ob es sich um institutionelles Unrecht handelt. Wenn es sich um Unrecht an einzelnen Betroffenen gehandelt hätte, dann könnte die Verjährung eingetreten sein. Wenn es aber ein institutionalisiertes Unrecht war, das System also auf diesem Unrecht gebaut war und sich darauf gründete – und das gilt es zu beweisen –, dann kann sich der Staat nicht auf Verjährung berufen. Die Folge aus der gravierenden Missachtung geltenden Rechts - auch des Verfassungsrechts - nicht nur im Einzelfall bedeutet, dass institutionelles Unrecht geschehen ist und der Staat sich dem nicht entziehen kann. Ich erinnere an die Mauerschützenfälle. Und deswegen argumentiert der Staat am Runden Tisch: „Institutionalisiert war das Unrecht nicht“, und versucht das wissenschaftlich auch so darzustellen.

Natürlich muss es nicht zwangsläufig sein, dass eine bestimmte Verhaltensweise in jedem Kinderheim gegeben war, aber – und das ist mein Vorwurf an den Staat – immer wenn es so ein Unrecht gegeben hat, hat der Staat nichts dagegen unternommen. Er hat seine verfassungsrechtlichen Verpflichtungen damit verletzt, indem er die Träger der Heimeinrichtungen nicht kontrolliert hat, und er hat sich seines verfassungsrechtlichen Auftrags, den der Staat auch damals hatte, durch Übertragung auf die Kirchen bewusst entzogen. Schließlich hat er davon profitiert und - trotz der Notwendigkeit der Kontrolle – keine Aufsicht geübt und dem Unrecht auch keinen Einhalt geboten. Das ist institutionalisiert! Nach strafrechtlichen Maßstäben ist das Unterlassen dem Tun gleichzustellen. Und dann ist es nicht nur moralisch verwerflich, wenn sich der Staat auf die Verjährung beruft, sondern er hat das Recht hierzu überhaupt nicht.

Was ich mir wirklich wünschen würde... Man darf nicht vergessen, es waren Kinder, zum Teil Säuglinge, und mittlerweile gibt es Untersuchungen, die belegen, wie wichtig die ersten Monate, die ersten Jahre für die Entwicklung eines Menschen sind. Diese Untersuchungen gab es zum damaligen Zeitpunkt noch nicht. Aber dass ein Kind eine gewisse Zuwendung benötigt, diese Erkenntnis gab es bereits. Auch der Staat wusste das. Wie man diese Erkenntnis umsetzt und dass man auch die Gewalt verhindert muss, die sich ansonsten potenziert, auch das war damals schon klar. Es waren doch Kinder!

Selbst wenn Kinder innerhalb einer Familie arbeiten mussten, arbeiteten sie für die Familie und deren Vermögen. Diese Kinder werden zukünftig insoweit auch entschädigt, selbst wenn keine Rentenzahlungen geleistet wurden. Das war bei den Heimkindern aber nicht der Fall, im Gegenteil. Und es hat sich gesteigert. Weil einzelne Erzieherinnen und Erzieher von dieser Masse an Kindern überfordert waren, war Gewalt ein Druckmittel, um Kinder willfährig zu machen. Das war durchaus systematisch und deswegen auch institutionalisiert. Denn wenn etwas Teil des Systems ist und der Staat darauf nicht reagiert, ist es institutionalisiert. Ich kenne viele Akten von Heimkindern, da zieht sich das wie ein roter Faden durch. Dass der Runde Tisch die Betroffenen letzten Endes zwingt, den rechtlichen Weg zu gehen, wünsche ich beiden nicht. Aber das muss jetzt dem Runden Tisch auch eindeutig gesagt und angekündigt werden.

Insofern bin ich mit dem Vorstand des VeH, mit der Vorsitzenden Frau Tschapek-Güntner sowie mit vielen Betroffenen zur Übereinkunft gelangt, dass es sinnvoll wäre, wenn jeder Einzelne durch eine entsprechende Bevollmächtigung einen Vertreter beauftragt und diesem die Befugnis erteilt, mit diesem Runden Tisch persönlich in Kontakt zu treten. Es geht natürlich schlecht, dass dort plötzlich 500 Leute sitzen, also wird eine Person entsandt. Und ich würde mich bereit erklären, dies zu tun. Mich haben schon sehr viele Betroffene angeschrieben und mir ihre Vollmacht zugeschickt. Ich hoffe, dass die Personenzahl so groß werden wird, dass man die Legitimation auch am Runden Tisch sieht, anerkennt und sich dann wirklich mehr auf die Opfergruppe und deren Probleme und Bedürfnisse einlässt.

Es geht hierbei nicht alleine um die materielle Anerkennung, es geht auch um Aufarbeitung. Es geht um Therapien, die sehr kostspielig sind. Eine Lösung zu finden, die den Betroffenen gerecht wird, die wünsche ich mir. Nichts ist für eine betroffene Person schlimmer, als dass sie noch um Kosten für Behandlungen „betteln“ muss und dabei aussichtslos ist, weil der Gang durch die deutsche Bürokratie lang und zäh ist. Hier ist - für viele Betroffene - schnelle und unbürokratische Hilfe gefordert. Das könnte der Runde Tisch leisten.

Vertretung über das Bündeln von Einzelmandaten

hpd: Das heißt, der Weg soll auf jeden Fall über den Runden Tisch gehen? Den Vertretern soll über Verhandlungen erst einmal klar gemacht werden: Leute, wir kommen jetzt auf euch zu. Wenn ihr so blockt, geht das nicht. Dann werden wir gezwungen sein, juristisch vorzugehen.

Nieporte: Ja, das sollte die Vorgehensweise sein. Die Einrichtung des Runden Tisches ist, unter notwendiger Berücksichtigung der Interessen der Betroffenen, ein guter Weg. Ansonsten gibt es die Notwendigkeit für jeden Einzelnen, den juristischen Weg zu gehen. Ich weiß nicht, ob es wirklich notwendig ist, die Gerichte, die Behörden, die Justiz derart damit zu beschäftigen. Und ein Rechtsweg kann verdammt lang sein, wenn dann tausend oder mehr Menschen klagen... die Zahl wird im Übrigen auch nicht kleiner, sondern größer, auch wenn viele in der Zwischenzeit auf der Strecke bleiben. Die Wut ist bei den Opfern inzwischen sehr groß, sie vernetzen sich immer besser, und obwohl versucht worden ist, einen Keil in die Opfergruppe zu treiben und deren Geschlossenheit aufzulösen, obwohl es Situationen gab, in denen die Betroffenen uneinig waren, merke ich immer mehr, wie sie wieder aufeinander zugehen, wieder eine Solidargemeinschaft bilden und gemeinsam den Weg gehen wollen.
 

hpd: Würden Sie mir sagen, wie viele Sie vertreten?

Nieporte: Wir sind in den Anfängen, Zahlen kann ich noch nicht nennen. Jeden Tag kommen neue Mandate hinzu. Die Zahl ist bereits jetzt dreistellig.
 

hpd: Sie wollen über den Runden Tisch gehen – mit welchen Zielen? Nur zum Verhandeln über noch unklare Sachverhalte oder gibt es Punkte, bei denen Sie sagen: Drunter geht’s nicht?

Nieporte: Also es gibt Punkte, die mit Sicherheit sehr wichtig sind. Klare Ergebnisse möchte ich nicht vorweg nehmen. Worüber man reden sollte ist, dass tatsächlich eine materielle Entschädigung vorgenommen werden wird, also eine Anerkennung auch finanzieller Art. Mit „auch finanziell“ meine ich, dass es einen bestimmten Betrag geben sollte, mit dem die Personen einen Anerkennung bekommen – ich will eigentlich nicht von Entschädigung sprechen, es ist nur symbolisch, mehr ist es ja nicht. Wenn man sieht, wie viele Menschen letztlich ihr Leben nicht aufbauen konnten, wie viele Menschen keine Renten ansparen konnten, weil sie keine entsprechende Ausbildung hatten, weil sie psychisch immer wieder gehemmt waren. Das ist das Fatale, was am Runden Tisch offensichtlich niemand begriffen hat.
 

hpd: Ist denn klar, wie viele Menschen betroffen sind? Die Rede ist von mehreren Hunderttausend.

Nieporte: Nein, die Zahlen sind nicht klar. Die Dunkelziffer ist mit Sicherheit höher als die offiziellen Zahlen. Aber die zunächst zugrunde gelegten Zahlen basieren offensichtlich auf Hochrechnungen. In einem Jahr wird es ungefähr eine bestimmte Anzahl an Heimkindern gegeben haben und das hat man auf den gesamten Zeitraum hochgerechnet. Die Frage ist aber doch, wie viele von ihnen noch leben und wie viele sich mitteilen. Dies kann mit ein Kriterium dafür sein, wie man eine entsprechende Entschädigung vornimmt, ob man einen Fond einrichtet und wenn, unter welchen Bedingungen. Es müssen ja auch Überprüfungsmechanismen eingerichtet werden, damit nicht jemand einfach behaupten kann, im Heim gewesen zu sein. Wie aber weise ich nach, dass ich in einem bestimmten Heim war, wenn ich nicht einmal Akten habe?

Das nächste Problem ist also die Akteneinsicht. Viele Akten wurden zwischenzeitlich vernichtet. Deswegen wurde in skandinavischen Ländern gesagt: Die Akteneinsicht kann nicht gewährt werden, das kann aber nicht zu Lasten des Opfers gehen, sondern die Beweispflicht liegt beim Staat. Die betroffene Person muss plausibel darlegen, dass sie im Heim war. Gleichzeitig muss feststehen, dass es kein Verhör geben kann, um herauszufinden: Wer war wo und wem ist es dort wie ergangen? Denn das führte zu einer Retraumatisierung. Es ist die Frage, wie man die Tatsachenfeststellung letzten Endes umsetzt, aber soweit sind wir noch gar nicht. Ich hoffe, wir kommen irgendwann mal dahin!

Im Moment ist eher zu klären, welche Anerkennung den Opfern gerecht werden würde. Ich spreche nicht davon, was jeder für sich für einen Anspruch hat, wenn wir die Verjährung mal außen vor lassen. Hier müssen sich beide Seiten aufeinander zu bewegen: Wenn man feststellt, dass die Anerkennung nicht viel mehr als einen symbolischen Charakter haben kann - damit meine ich ausdrücklich eine Einmalzahlung – so muss gleichzeitig festgestellt werden, dass diese Menschen einen so vehementen Nachteil erlitten haben, der für den Alltag auszugleichen ist. Dies könnte in Form einer Rente stattfinden. Eine solche Rente käme auch den Regelungen des Sozialrechts entgegen, wonach ebenfalls Zahlungen geleistet werden, und zwar monatlich. Wenn man hier in einer ähnlichen Form, sozusagen in analoger Anwendung der Vorschriften des Sozialgesetzbuches, vorgehen würde und an jede betroffene Person eine Rente zahlte, über deren Höhe sicherlich verhandelt werden müsste, wäre das schon etwas, das Viele zumindest sorgenfreier leben ließe. Viele sind tatsächlich Hartz IV-Empfänger, die am Rande des Existenzminimums leben. Gleichzeitig ist den Betroffenen aber sehr wichtig, mit ihrer Vergangenheit nicht allein gelassen zu werden, nicht wieder stigmatisiert zu werden.

Ein weiteres Bedürfnis der ehemaligen Heimkinder ist es, Ansprechpartner zu haben, Therapien zu erhalten, um in der schwierigen Lebensphase, in der sich viele dieser Menschen aufgrund des Erlebten erneut befinden, Unterstützung zu bekommen. Das ist mindestens ebenso wichtig. Schließlich ist die Aufarbeitung wichtig. Keines dieser ehemaligen Heimkinder wünscht den Menschen, die sich heute in entsprechenden Einrichtungen befinden, dieses Leid, diese Qual. Viele der Betroffenen möchten auch nachfolgende Generationen auf das Thema Misshandlungen und Missbrauch aufmerksam machen und ihnen ein Selbstbewusstsein ermöglichen, was sie selbst nie hatten.