„Es muss ein Miteinander sein“

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Robert Nieporte. Fotos: Fiona Lorenz

TRIER. (hpd) Robert Nieporte ist der Anwalt, der nun die Interessen der ehemaligen Heimkinder vertritt. Der hpd sprach mit dem Juristen über seine Strategie, über das pragmatische Vorgehen von Regierung und Kirche in anderen Ländern, das beharrliche Schweigen der deutschen Kirche, institutionalisiertes Unrecht und welche Anerkennung den Opfern gerecht werden würde.

hpd: Wie kam es dazu, dass Sie mit dem Verein ehemaliger Heimkinder (VeH) zusammenarbeiten, dass Sie das Mandat angenommen haben?

Robert Nieporte: Das hängt zunächst einmal damit zusammen, dass ich einen Mandanten habe, den Sie auch kennen, Herrn Jenö Alpar Molnár. Er hat das Buch geschrieben: „Wir waren doch nur Kinder“. Daher habe ich mich näher mit der Problematik ehemaliger Heimkinder befasst, wir sind somit auch mehrfach zusammen in Österreich gewesen. Wir haben dort Diskussionen geführt, Herr Molnár hat dort Buchlesungen gehalten. Die Podiumsdiskussionen waren gut vorbereitet, wir sind zum Teil auch politisch unterstützt worden. Darüber haben wir versucht, das Thema in die Öffentlichkeit hineinzutragen – denn in Österreich war man noch viel mehr, als ich es eigentlich erwartet hätte, dem Thema zunächst einmal abgeneigt. Das Thema zu forcieren, haben wir als unsere Aufgabe angesehen. Und gleichzeitig kamen wir mit verschiedenen Personen ins Gespräch, unter anderem mit Peter Henselder aus Berlin, der die Veranstaltung in Wien aufgezeichnet hat. Darüber hinaus kamen wir mit verschiedenen Heimkindern aus Österreich zusammen. Das war also gewissermaßen der Aufhänger. Darüber habe ich auch Frau Tschapek-Güntner vom VeH kennen gelernt.

Nachdem der vorherige Rechtsanwalt des VeH in Deutschland sein Mandat niedergelegt hatte und der Rechtsanwalt Witti aus München schon vorher sein Mandat hatte niederlegen müssen, wurde ich von Frau Tschapek-Güntner angesprochen. Wir hatten zuvor mehrfach telefoniert und dabei auch die Situationen in Österreich und Deutschland verglichen. Wir haben Erfahrungen ausgetauscht, die nicht nur ich, sondern auch Herr Molnár und andere Betroffene in Österreich gemacht haben. Über den Austausch mit Frau Tschapek-Güntner habe ich mich von Beginn an auch parallel dafür interessiert, was in Deutschland passiert. In Trier haben wir uns mit unserem kleinen „Runden Tisch“ eingerichtet. Wir haben uns regelmäßig getroffen und besprochen: Was ist die nächste Vorgehensweise? Wen kann man mit ins Boot nehmen? Wie kann man Presse mit einbinden? Das führte zu einem sehr regen Austausch an Gedanken und Informationen.
 

hpd: Wie sieht der „Runde Tisch“ in Trier aus?

Nieporte: Der runde Tisch in Trier ist ein „auf das Mandat begrenzter Tisch“, gewissermaßen eine interdisziplinäre Taskforce mit ein paar Personen, die dazu gehören, die beratend teilnehmen und die das Thema aus ihrer Sicht aufarbeiten. Dazu gehören eine wissenschaftliche Mitarbeiterin der Universität Trier, Frau Susanne Backes, der Soziologe Dr. Waldemar Vogelgesang, der den Ausschlag dafür gab, dass das Buch von Jenö Alpár Molnár überhaupt veröffentlicht wurde, Herr Molnár selbst, sein Kollege Herr Fermer und ich. Wir sind ja aus verschiedenen Fachrichtungen und das hilft uns, die Thematik aus verschiedenen Perspektiven zu sehen: auf der einen Seite soziologisch, auf der anderen Seite juristisch. Außerdem haben wir so Tatsachenberichte bekommen – Herr Fermer arbeitet diese sehr gut auf und erhält regelmäßig neue Informationen aus Österreich. Der Trierer „Runde Tisch“ fing damit an, dass wir bei unserem ersten gemeinsamen Treffen zufällig an einem runden Tisch saßen und über kontrovers den Runden Tisch in Berlin sprachen. Die Symbolik hat uns so gut gefallen, dass wir den Begriff für unseren Tisch beibehalten haben.

Den Begriff „ehemalige Heimkinder“ benutze ich allerdings nicht so gerne, weil er eine Retrospektive benutzt, die den Menschen stigmatisiert. Die Betroffenen fühlen sich so und melden sich auch so. Ich habe viele Gespräche geführt, auch am Telefon, die damit begannen: „Ich bin ein ehemaliges Heimkind“ und diese Menschen sehen sich auch in der Rolle der stigmatisierten Personen, die eine Anlaufstelle benötigen, nämlich den Verein ehemaliger Heimkinder.

Über die Opfer hinweg

Das eigentliche Ziel, an den Runden Tisch der Bundesregierung zu kommen, der ja eigens für die Probleme dieser ehemaligen Heimkinder eingerichtet worden ist, hat für die ehemaligen Heimkinder nicht funktioniert. In der Politik wie in der Juristerei gibt es verschiedene Darstellungen sowie Winkelzüge, die unternommen worden sind, um den Einfluss der ehemaligen Heimkinder nicht zu groß werden zu lassen. Wenn man sich die Runde anschaut, stellt man fest: Es sind exakt drei Betroffene darunter, die anderen Teilnehmer haben mit dem Problem per se nichts zu tun. Sie sind eigens für diesen Runden Tisch bestellt worden, sie sollen ihr Statement abgeben, bei der Aufarbeitung mitwirken. Aber es fällt auf - nachdem die Anwälte der ehemaligen Heimkinder am Runden Tisch nicht zugelassen wurden, der Verein dann geklagt hatte, diesen Prozess aber nicht gewinnen und das Ziel nicht erreichen konnte - , dass der VeH am Runden Tisch nicht mit einer entsprechenden juristischen Power, mit juristischem Sachverstand ausgestattet wurde. Den Opfervertretern, die selbst Opfer waren, wurde später jemand zur Seite gestellt zur Klärung juristischer Fragen – das ist aber nicht das Gleiche.

Wenn man sich die Personenzahl am Runden Tisch anschaut, auch, wie viele Juristen an dem Tisch sitzen, so sind das viele. Und gleichzeitig sitzen nur drei Betroffene dabei. Das Thema wird so in wesentlichen Punkten über diese Personen hinweg aufgearbeitet, ohne dass sie eine wirkliche Möglichkeit der Beteiligung hätten. Das kann aus meiner Sicht als Jurist, wenn man ein Opfer vertritt, nicht sein. Eine Aufarbeitung ist nur in gleicher Augenhöhe möglich, die hierfür geschaffene Voraussetzung sehe ich, trotz des Einsatzes insbesondere des Herrn Dr. Wiegand, nicht. Nicht einmal die finanzielle Ausstattung der Vertreter der Betroffenen zur Vorbereitung für den Runden Tisch ist wirklich gewährleistet.

Ich kann gut verstehen, wenn man für das Thema nicht nur mit Bezugnahme auf das Opfer, sondern mit Bezugnahme auch auf die Gesellschaft, die weiterhin in Frieden leben soll und gleichzeitig Aufarbeitung demonstrieren muss, einen Runden Tisch einrichtet und damit aussagen möchte: „Wir kümmern uns um genau dieses Thema.“ Der Runde Tisch begann aber bereits sehr unglücklich, weil den Heimkindern, ich formuliere es mal lapidar, von Beginn an zu verstehen gegeben wurde: „Wir haben zwar hier den Runden Tisch, aber versprecht euch nicht zuviel davon. Eine Entschädigung in Geld wird es nicht geben.“ Es mag ein Missverständnis gewesen sein, ich war bei den Gesprächen ja nicht dabei. Was Fakt ist: Es wurde gesagt, es werde kein Fond eingerichtet. Dann muss man sich aber doch zwangsläufig die Frage stellen: „Wie sollte eine Entschädigung ansonsten vorgenommen werden, wenn nicht über einen Fond? Das hat die Mitglieder des Vereins ehemaliger Heimkinder – wie auch jene, die nicht in dem Verein Mitglied sind – brüskiert. Es mag sein, dass die Absicht des Runden Tisches eine andere war, es mag auch sein, dass die vormalige Rechtsvertretung des VeH nicht sehr glücklich angelaufen ist, dass man deren juristische Vertreter nicht am Runden Tisch haben wollte, aus welchen Gründen auch immer. Aber das Zugehen des Runden Tisches auf die ehemaligen Heimkinder, für die er doch eigens eingerichtet worden ist, hat nicht wirklich stattgefunden.

Aufeinander zugehen

Hinzu kommt, dass gerade diese Opfergruppe sehr misstrauisch ist. Auch emotional hat es der Runde Tisch bis jetzt nicht geschafft, auf die Betroffenen zuzugehen und ihnen zu sagen: „Wir verstehen euer Leiden.“ Die Blockadehaltung des Runden Tisches hat deshalb von Beginn an sehr großen Argwohn erweckt und dass man dann darum gekämpft hat, mit juristischen Mitteln an den Runden Tisch zu kommen, ist aus dieser Perspektive völlig verständlich. Auf der anderen Seite ist für mich nicht verständlich, dass so ein Runder Tisch, der gerade mit anderen als juristischen Mitteln zu arbeiten andeutet, es zulässt, dass es zu einer solchen Entscheidung überhaupt kommen muss. Denn die Entscheidung konnte doch bloß in zwei Richtungen gehen: Entweder das Gericht verwehrt den Zugang zum Runden Tisch oder es sagt: „Ja, ihr habt einen Anspruch auf eine Beteiligung.“ Das hätte dann die Stärke der Betroffenen demonstriert, die aber anderseits dadurch weniger bereit sind, irgendwo nachzugeben und die Vergangenheit wirklich aufzuarbeiten, was sehr wichtig ist. Viele ehemalige Heimkinder sind nicht bereit dazu, viele können es gar nicht. Das gegenseitige Aufeinander-Zugehen muss aber stattfinden. Es geht nicht, dass der Runde Tisch alleine auf die Opfer zugeht und es geht andersherum nicht, dass nur die Opfer auf den Runden Tisch zugehen, sondern es muss ein Miteinander sein. Die Tatsache, dass der Runde Tisch sich überhaupt auf juristische Mittel eingelassen hat, finde ich betrüblich und auch nicht sehr geschickt. Der Versuch, die Teilnahme am Runden Tisch juristisch zu erzwingen, verhinderte ein notwendiges Miteinander.

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Ohrfeige Verjährung

Auch die Problematik der Verjährung wurde am Runden Tisch angesprochen, wenngleich wohl nicht sehr intensiv. Es hieß – auch in verschiedenen in der Öffentlichkeit ausgestrahlten Interviews - die Fälle seien alle verjährt. Das ist eine Ohrfeige, vor allen Dingen deswegen, weil eine inhaltliche Prüfung im Einzelfall ja nie stattgefunden hat. Und eine Verjährung prüft man nicht anhand einer Gruppe, sondern am jeweiligen Einzelfall. Es hätte schon aus diesem Grund dem Runden Tisch gut zu Gesicht gestanden, die Anwälte, die thematisch betraut sind und die die Akten der Heimkinder haben, mit zu beteiligen, jedenfalls aber den Betroffenen die Möglichkeit zu geben, jemanden zu beteiligen, der die Einzelschicksale kennt. Ich habe in der letzten Zeit viel korrespondiert über Blogs, über E-Mail, über Gespräche am Telefon, und ich habe auch persönlich mit Opfern gesprochen. Es belastet die Opfer sehr, dass man von vornherein das Schicksal eines jeden Einzelnen so lapidar vom Tisch fegt, indem man sagt: „Die Schranke wird durch die Verjährungsproblematik ganz niedrig aufgehängt, es ist sowieso alles verjährt.“ Das ist nicht Mut machend. Ich kenne eine andere Lösung, die auch in Österreich favorisiert wird und sich am Norwegischen Modell orientiert, wo sie auch umgesetzt wurde, und zwar, indem auf die Verjährungseinrede verzichtet wird.
 

hpd: Bringen die Vertreter für die Täter die Verjährungseinrede ein und wird das dann einfach vom Runden Tisch akzeptiert?

Nieporte: Ich gehe davon aus, dass der Runde Tisch von den Juristen hat untersuchen lassen: Hier ist mit einer Verjährung zu rechnen, hier liegt eine Verjährung vor. Und zwar nicht nur am Einzelfall, sondern ganz allgemein. Dies wurde dann offensichtlich - ohne Einzelfallprüfung – angenommen, und zwar zu Lasten der einzelnen Betroffenen.
 

hpd: Was also in den Fünfziger, Sechziger Jahren passiert ist, ist verjährt?

Nieporte: Das ist so lange her, dass es, aus oberflächlicher Sicht betrachtet, verjährt ist. Aber intensive Prüfungen durch den Runden Tisch hat es meines Wissens nicht gegeben, mir ist auch kein entsprechendes Dokument bekannt, welches diese Prüfungen für den Einzelfall belegt.
 

hpd: Dann ist es aber doch inkonsequent, noch einen Runden Tisch aufrecht zu erhalten.

Nieporte: Ja und nein. Man möchte ja dadurch demonstrieren, was aber aus meiner Sicht allerdings schlecht gelungen ist: „Die Ansprüche sind zwar verjährt, aber wir arbeiten es trotzdem auf!“ Nur ist diese Konstellation janusköpfig, denn sie verneint von vornherein die Ansprüche, die man über den Runden Tisch anzuerkennen vorgibt.

Mit „Nichts“ entlassen

hpd: Soll das heißen: „Wir werden zwar feststellen, dass etwas passiert ist, aber Konsequenzen wird es daraus nicht geben“?

Nieporte: Andersherum: Wenn es Konsequenzen gibt, dann jedenfalls nicht, weil man dazu verpflichtet ist. Und das ist eine generöse Haltung, die vom Runden Tisch angeboten wird, mit der sich ein Opfer aber nicht zufrieden geben kann. Ich kann als Opfer nicht sagen: „Ich bin einverstanden damit, dass ich erst viel Leid erfahren habe, dass ich Unrecht ertragen musste und hinterher sagt mir jemand: ‚Du hättest vielleicht Ansprüche, aber die sind alle verjährt.’“ Vor allem in diesen Fällen - das ist eigentlich symptomatisch, wenn man sich einzelne Biografien anschaut: Wann soll ein Mensch in solch einer Situation denn Ansprüche anmelden?

Die Heimkinder haben in der Regel zu nahezu einhundert Prozent, wenn sie aus dem Heim in das Leben entlassen wurden, „Nichts“ gehabt, nicht einen Cent. Viele hatten nicht einmal eine Ausbildung. Das sind alles Menschen, die sich mehr oder weniger durchs Leben hangeln mussten, keinen gefestigten Alltag hatten, die durch ihre psychischen Probleme immer wieder aus der Bahn geworfen wurden. Das erlebt man sehr, sehr häufig. Viele derjenigen, mit denen ich gesprochen habe, wiesen exakt dies als Charakteristikum auf. Und ein solcher Mensch, der erst einmal verarbeiten muss, was ihm in der Vergangenheit passiert ist und gleichzeitig zusehen muss: Was mach ich jetzt mit meinem Leben? Der auf sich allein gestellt ist, weil in der Regel keine Eltern da waren, und wenn diese da waren, das Verhältnis gestört gewesen ist. Eine Nähe zum Heim bestand sowieso nicht. Eine Stütze, eine richtige Unterstützung für den weiteren Werdegang, für die weitere Entwicklung in der Persönlichkeit, hatten diese Menschen nicht. Das führte dann dazu, dass dieser Mensch sein Leben erst einmal aufbauen musste. Manche haben ein bisschen mehr im Rucksack, manche ein bisschen weniger. Es gibt Menschen, die mit einem „Goldenen Löffel“ geboren werden – diese Heimkinder sicher nicht. Ich kenne Fürsorgezöglinge, die tatsächlich nicht mehr unterstützt worden sind, weil sie Geld gekostet haben. Die mussten gehen. Und sie wären vielleicht sogar noch geblieben.

Das führte dann dazu, dass, bevor diese Menschen gefestigt waren, noch einmal mindestens zehn bis fünfzehn Jahre vergangen sind. Mindestens, bevor man überhaupt einmal daran gedacht hat: Wie kann ich mich auf die Vergangenheit zurück besinnen, das aufarbeiten, vielleicht auch die Konsequenz daraus ziehen, dass ich geschädigt worden bin und dann den nächsten Schritt wagen, entweder zum Anwalt zu gehen oder zu einer Person meines Vertrauens, die meine Vergangenheit mit mir zusammen aufarbeitet? Um dann irgendwann festzustellen: Ich bin geschädigt worden, ich schlage jetzt den juristischen Weg ein. Es geht ja in dem Moment, in dem man sich auf Ansprüche beruft, um das Juristische. So. Wer wird das tun? Hinzu kommt, dass ein Anwalt Geld kostet. Wer kein Geld hat, geht auch nicht zum Anwalt.

Abgesehen davon, und das ist der nächste Punkt, waren diese Menschen mit einem Tabu behaftet. Das Stigma, „du bist Heimkind“, das wollte man nicht nach Außen tragen. Es gibt heute noch Leute, die anonym bleiben möchten: „Es soll keiner wissen, dass ich mal im Heim war, das möchte ich nicht.“ Diese Menschen sind auch heute noch stigmatisiert, man verbindet damit etwas, und zwar nicht nur die ehemaligen Heimkinder selbst, sondern auch andere, die mit dem Finger auf solche Menschen zeigen und sagen: „Heimkinder, die sind verwahrlost. Um die kümmert sich ja keiner. Trau denen bloß nicht.“

Um zurückzukommen: Wenn also der Runde Tisch sich auf eine Verjährung beruft und sagt, den Fall könne man juristisch nicht mehr geltend machen, dann wird auch dieser Aspekt von ihm nicht ernst genommen. Im Grunde schmeißt man den Betroffenen einen Brotkrumen hin und sagt: „Ja, wir reden mal drüber“. Ein Gespräch in gleicher Augenhöhe stelle ich mir anders vor.

Die neue Strategie

hpd: Der Punkt ist ja der, dass die Heime die Voraussetzung für das Unvermögen der Opfer geschaffen haben, gegen das erlittene Unrecht vorzugehen. Die Argumentation ist wohl konsequenterweise: Ihr hättet nach eurem Martyrium „frisch und fröhlich“ aus dem Heim herausspazieren sollen und uns dann sofort anschließend juristisch an den Kragen gehen müssen. Dann hättet ihr noch eine Chance auf Erfolg gehabt, jetzt habt ihr „Pech gehabt“. Ist das zynisch?

Nieporte: Ein Mensch, der so sehr mit der Verarbeitung von erlittenem Unrecht beschäftigt ist, kam nicht über die Phase der Verarbeitung dessen hinwegsehen. Er muss es verarbeiten und braucht hierfür Zeit. Dies ist der Grund dafür, weshalb die Opfer sagen: „Ich traue dem Runden Tisch nicht und ich bin sehr enttäuscht, weil der mein Problem nicht erkennt.“
 

hpd: Nachdem die vormaligen Anwälte ihr Mandat niederlegten, sagte Frau Tschapek-Güntner: „ Das geschehene Unrecht lässt sich nicht durch einen warmen Händedruck wieder gutmachen. Unser Kampf für Entschädigung geht weiter, wenn auch nicht am RTH.“ Wie sieht denn die neue Strategie aus?

Nieporte: Das erste, was damals sicher nicht so glücklich war: dem Runden Tisch direkt Zahlen - 25 Milliarden - als Forderung „auf den Tisch zu legen“. Das musste beim Runden Tisch als Provokation und als große, uneinsichtige Voreingenommenheit ankommen. Man muss auch alles in gewisser Relation sehen. Wenn es vorher um Zwangsarbeiter ging, die entschädigt wurden, dann muss man Entschädigungsforderungen auch an solchen Zahlen messen. Anders geht es gar nicht. Denn der Staat wird immer wieder in der Situation sein, dass bestimmte Opfergruppen sich melden werden, die eine Anerkennung benötigen. Sich von vornherein so festzulegen und sogar auf einen solchen hohen, lediglich theoretischen Betrag, das war unklug. Auch das mag mit dazu geführt haben, dass der Runde Tisch erwidert hat: „Wir möchten von den Zahlen nichts wissen“, und sämtliche Vorstellungen über Zahlungen erst einmal abgeblockt hat. Im Gegensatz dazu wurden in Österreich und vorher auch in anderen Ländern, wie beispielsweise Norwegen, Zahlungen festgelegt – es gibt auch eine Staffelung nach der Schwere der Tat.

Was in diesen Ländern zur Verjährung interessant ist: Diese soll als Einrede nicht geltend gemacht werden. Und auch wenn jemand eine Entschädigung erhalten hat, muss er deswegen nicht auf das Recht verzichten, weitere juristische Maßnahmen vorzunehmen. Das Einzige - das ist aber juristisch auch selbstverständlich - wenn jemand bereits eine Entschädigung bekommen hat - ist diese anzurechnen für den Fall, dass er später eine weitere zugesprochen bekäme. Aber es besteht keine Bedingung, es besteht kein Ausschluss von juristischen Mitteln, die somit - mangels Verjährungseinrede - unbenommen weiter angewendet werden können. Dies ist ein sehr großes Entgegenkommen, welches möglicherweise dazu führen könnte, dass auch die Personen, welche nach wie vor der Auffassung sind, dass die Entschädigungszahlungen eigentlich zu gering seien, aufgrund einer solchen Geste, aufgrund eines solchen Entgegenkommens des Staates für sich feststellen: „Das tue ich mir nicht an. Ich möchte ja nicht wirklich juristisch dagegen vorgehen, sondern auch ich erkenne das, was der Staat jetzt geleistet hat, an.“ Das verstehe ich unter Anerkennung.

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Die deutsche Kirche schweigt beharrlich

hpd: In Österreich hat ja nicht nur der Staat, dort hat auch Kardinal Schönbohm zugestanden, dass eigene Kirchenmittel flüssig gemacht werden, um diese an ehemalige Heimkinder, die in kirchlichen Heimen waren, auszuzahlen.

Nieporte: In Österreich geht man diesen Weg. Interessanterweise geht man in Deutschland irgendwie keinen Weg.
 

hpd: Da ist etwas dran. Was der Missbrauchsbeauftragte der katholischen Kirche Deutschlands, Bischof Stephan Ackermann, den Betroffenen anbietet, sind eigentlich nur psychotherapeutische Hilfsangebote, Beratung im Internet und Kontakte zu den jeweiligen Heimen. Das war’s! An keiner Stelle habe ich gefunden, dass Entschädigungen wie in Österreich geleistet werden sollen. Man kann bei der Täterorganisation anrufen und sich von dieser beraten lassen. Auch in den neu erlassenen Kirchengesetzen des Vatikan steht nur drin, dass die Missbrauchsfälle kirchenintern, mittels einer eigenen kirchlichen und unabhängig von jedweder weltlichen Gerichtsbarkeit abgehandelt werden sollen.

Nieporte: Nun ist es kirchenrechtlich so, dass die Kirche zunächst selber die Möglichkeit hat, mit kircheninternen Problemen umzugehen. Wenn man diese Möglichkeiten aber hat und entsprechend autark ist, muss man doch dennoch auf die Menschen zugehen und ihnen auch klar verständlich machen, wie das Prozedere läuft, man darf sie nicht hinhalten. Das ist ein Problem, welches wir ebenfalls haben: Auf der einen Seite beruft man sich auf Verjährung, auf der anderen Seite hält man hin! Hinzu kommt, dass es Fälle gibt, in denen die Kirche den Opfern, die auch in der Öffentlichkeit auf sich aufmerksam gemacht haben, „unter der Hand“ eine Entschädigung gezahlt hat. Dies ist eine Ohrfeige für all jene Opfer, die nicht den Mut haben und hatten, sich dieser Auseinandersetzung mit der eigenen Biographie zu stellen, die unter Umständen sogar die Kirche nicht zu belasten bereit waren. Die widerspricht doch deutlich der eigentlichen Intention der Institution Kirche, deren Wertvorstellung, deren nach Außen getragene Absicht, den Schwachen zu helfen und diese zu unterstützen.

Der gezahlte Betrag ist interessanter Weise ziemlich identisch mit dem, der in Österreich und in Norwegen als Anerkennung gezahlt worden ist: Es wurden einem Betroffenen, der später an die Presse herangetreten ist, 25.000 EUR gezahlt. Die Klasnik-Kommission, welche von der katholischen Kirche in Österreich als unabhängige Kommission in Österreich für Missbrauchsopfer eingerichtet worden ist, hat Entschädigungen in Höhe von 5.000 EUR bis zu 35.000 EUR vorgesehen. Diese Entschädigungen sollen außerdem nicht durch Steuergelder, sondern aus dem Vermögen der Kirche bezahlt werden. Das nenne ich Anerkennung! Das unterstützt auch die Glaubwürdigkeit der Kirche und des Staates. Ich würde mir für Deutschland ebenso wünschen, dass die Kirchen und der Staat nichts verklären, sondern zu der Vergangenheit stehen und die Konsequenzen dafür tragen. Im Übrigen bedeutet die Aufarbeitung ja auch Vermeidung für die Zukunft.
 

hpd: Und Staat und Kirche hoffen wohl auch auf die „natürliche Lösung“? Zumindest ist das der Verdacht einiger Heimkinder. Sie sagen: „Die hoffen, dass wir alle wegsterben.“

Nieporte: Es liegt nahe, dass das passieren wird. Ob man darauf hofft, ist eine andere Frage, soweit möchte ich gar nicht gehen. Aber man nimmt es in Kauf. Und, ich sage es mal so: Wenn am Runden Tisch, an dem ja auch die Kirche vertreten ist, kein entsprechendes Ergebnis gefunden wird, das letzten Endes als akzeptabler Vorschlag dient, dann bleibt nur ein Weg: Man wird dann über den Runden Tisch wieder in die juristische Mühle hineingezwungen. Und das Fatale ist, dass dieser Runde Tisch, der bereits ungefähr ein Jahr andauert, Vielen zunächst einmal Hoffnung gegeben hat – die Betroffenen haben also wiederum ein Jahr gewartet, bevor sie auf juristische Mittel zurückgreifen.

Argument institutionalisiertes Unrecht

Die nächste Frage, und das weiß der Runde Tisch sehr wohl, ist die, ob es sich um institutionelles Unrecht handelt. Wenn es sich um Unrecht an einzelnen Betroffenen gehandelt hätte, dann könnte die Verjährung eingetreten sein. Wenn es aber ein institutionalisiertes Unrecht war, das System also auf diesem Unrecht gebaut war und sich darauf gründete – und das gilt es zu beweisen –, dann kann sich der Staat nicht auf Verjährung berufen. Die Folge aus der gravierenden Missachtung geltenden Rechts - auch des Verfassungsrechts - nicht nur im Einzelfall bedeutet, dass institutionelles Unrecht geschehen ist und der Staat sich dem nicht entziehen kann. Ich erinnere an die Mauerschützenfälle. Und deswegen argumentiert der Staat am Runden Tisch: „Institutionalisiert war das Unrecht nicht“, und versucht das wissenschaftlich auch so darzustellen.

Natürlich muss es nicht zwangsläufig sein, dass eine bestimmte Verhaltensweise in jedem Kinderheim gegeben war, aber – und das ist mein Vorwurf an den Staat – immer wenn es so ein Unrecht gegeben hat, hat der Staat nichts dagegen unternommen. Er hat seine verfassungsrechtlichen Verpflichtungen damit verletzt, indem er die Träger der Heimeinrichtungen nicht kontrolliert hat, und er hat sich seines verfassungsrechtlichen Auftrags, den der Staat auch damals hatte, durch Übertragung auf die Kirchen bewusst entzogen. Schließlich hat er davon profitiert und - trotz der Notwendigkeit der Kontrolle – keine Aufsicht geübt und dem Unrecht auch keinen Einhalt geboten. Das ist institutionalisiert! Nach strafrechtlichen Maßstäben ist das Unterlassen dem Tun gleichzustellen. Und dann ist es nicht nur moralisch verwerflich, wenn sich der Staat auf die Verjährung beruft, sondern er hat das Recht hierzu überhaupt nicht.

Was ich mir wirklich wünschen würde... Man darf nicht vergessen, es waren Kinder, zum Teil Säuglinge, und mittlerweile gibt es Untersuchungen, die belegen, wie wichtig die ersten Monate, die ersten Jahre für die Entwicklung eines Menschen sind. Diese Untersuchungen gab es zum damaligen Zeitpunkt noch nicht. Aber dass ein Kind eine gewisse Zuwendung benötigt, diese Erkenntnis gab es bereits. Auch der Staat wusste das. Wie man diese Erkenntnis umsetzt und dass man auch die Gewalt verhindert muss, die sich ansonsten potenziert, auch das war damals schon klar. Es waren doch Kinder!

Selbst wenn Kinder innerhalb einer Familie arbeiten mussten, arbeiteten sie für die Familie und deren Vermögen. Diese Kinder werden zukünftig insoweit auch entschädigt, selbst wenn keine Rentenzahlungen geleistet wurden. Das war bei den Heimkindern aber nicht der Fall, im Gegenteil. Und es hat sich gesteigert. Weil einzelne Erzieherinnen und Erzieher von dieser Masse an Kindern überfordert waren, war Gewalt ein Druckmittel, um Kinder willfährig zu machen. Das war durchaus systematisch und deswegen auch institutionalisiert. Denn wenn etwas Teil des Systems ist und der Staat darauf nicht reagiert, ist es institutionalisiert. Ich kenne viele Akten von Heimkindern, da zieht sich das wie ein roter Faden durch. Dass der Runde Tisch die Betroffenen letzten Endes zwingt, den rechtlichen Weg zu gehen, wünsche ich beiden nicht. Aber das muss jetzt dem Runden Tisch auch eindeutig gesagt und angekündigt werden.

Insofern bin ich mit dem Vorstand des VeH, mit der Vorsitzenden Frau Tschapek-Güntner sowie mit vielen Betroffenen zur Übereinkunft gelangt, dass es sinnvoll wäre, wenn jeder Einzelne durch eine entsprechende Bevollmächtigung einen Vertreter beauftragt und diesem die Befugnis erteilt, mit diesem Runden Tisch persönlich in Kontakt zu treten. Es geht natürlich schlecht, dass dort plötzlich 500 Leute sitzen, also wird eine Person entsandt. Und ich würde mich bereit erklären, dies zu tun. Mich haben schon sehr viele Betroffene angeschrieben und mir ihre Vollmacht zugeschickt. Ich hoffe, dass die Personenzahl so groß werden wird, dass man die Legitimation auch am Runden Tisch sieht, anerkennt und sich dann wirklich mehr auf die Opfergruppe und deren Probleme und Bedürfnisse einlässt.

Es geht hierbei nicht alleine um die materielle Anerkennung, es geht auch um Aufarbeitung. Es geht um Therapien, die sehr kostspielig sind. Eine Lösung zu finden, die den Betroffenen gerecht wird, die wünsche ich mir. Nichts ist für eine betroffene Person schlimmer, als dass sie noch um Kosten für Behandlungen „betteln“ muss und dabei aussichtslos ist, weil der Gang durch die deutsche Bürokratie lang und zäh ist. Hier ist - für viele Betroffene - schnelle und unbürokratische Hilfe gefordert. Das könnte der Runde Tisch leisten.

Vertretung über das Bündeln von Einzelmandaten

hpd: Das heißt, der Weg soll auf jeden Fall über den Runden Tisch gehen? Den Vertretern soll über Verhandlungen erst einmal klar gemacht werden: Leute, wir kommen jetzt auf euch zu. Wenn ihr so blockt, geht das nicht. Dann werden wir gezwungen sein, juristisch vorzugehen.

Nieporte: Ja, das sollte die Vorgehensweise sein. Die Einrichtung des Runden Tisches ist, unter notwendiger Berücksichtigung der Interessen der Betroffenen, ein guter Weg. Ansonsten gibt es die Notwendigkeit für jeden Einzelnen, den juristischen Weg zu gehen. Ich weiß nicht, ob es wirklich notwendig ist, die Gerichte, die Behörden, die Justiz derart damit zu beschäftigen. Und ein Rechtsweg kann verdammt lang sein, wenn dann tausend oder mehr Menschen klagen... die Zahl wird im Übrigen auch nicht kleiner, sondern größer, auch wenn viele in der Zwischenzeit auf der Strecke bleiben. Die Wut ist bei den Opfern inzwischen sehr groß, sie vernetzen sich immer besser, und obwohl versucht worden ist, einen Keil in die Opfergruppe zu treiben und deren Geschlossenheit aufzulösen, obwohl es Situationen gab, in denen die Betroffenen uneinig waren, merke ich immer mehr, wie sie wieder aufeinander zugehen, wieder eine Solidargemeinschaft bilden und gemeinsam den Weg gehen wollen.
 

hpd: Würden Sie mir sagen, wie viele Sie vertreten?

Nieporte: Wir sind in den Anfängen, Zahlen kann ich noch nicht nennen. Jeden Tag kommen neue Mandate hinzu. Die Zahl ist bereits jetzt dreistellig.
 

hpd: Sie wollen über den Runden Tisch gehen – mit welchen Zielen? Nur zum Verhandeln über noch unklare Sachverhalte oder gibt es Punkte, bei denen Sie sagen: Drunter geht’s nicht?

Nieporte: Also es gibt Punkte, die mit Sicherheit sehr wichtig sind. Klare Ergebnisse möchte ich nicht vorweg nehmen. Worüber man reden sollte ist, dass tatsächlich eine materielle Entschädigung vorgenommen werden wird, also eine Anerkennung auch finanzieller Art. Mit „auch finanziell“ meine ich, dass es einen bestimmten Betrag geben sollte, mit dem die Personen einen Anerkennung bekommen – ich will eigentlich nicht von Entschädigung sprechen, es ist nur symbolisch, mehr ist es ja nicht. Wenn man sieht, wie viele Menschen letztlich ihr Leben nicht aufbauen konnten, wie viele Menschen keine Renten ansparen konnten, weil sie keine entsprechende Ausbildung hatten, weil sie psychisch immer wieder gehemmt waren. Das ist das Fatale, was am Runden Tisch offensichtlich niemand begriffen hat.
 

hpd: Ist denn klar, wie viele Menschen betroffen sind? Die Rede ist von mehreren Hunderttausend.

Nieporte: Nein, die Zahlen sind nicht klar. Die Dunkelziffer ist mit Sicherheit höher als die offiziellen Zahlen. Aber die zunächst zugrunde gelegten Zahlen basieren offensichtlich auf Hochrechnungen. In einem Jahr wird es ungefähr eine bestimmte Anzahl an Heimkindern gegeben haben und das hat man auf den gesamten Zeitraum hochgerechnet. Die Frage ist aber doch, wie viele von ihnen noch leben und wie viele sich mitteilen. Dies kann mit ein Kriterium dafür sein, wie man eine entsprechende Entschädigung vornimmt, ob man einen Fond einrichtet und wenn, unter welchen Bedingungen. Es müssen ja auch Überprüfungsmechanismen eingerichtet werden, damit nicht jemand einfach behaupten kann, im Heim gewesen zu sein. Wie aber weise ich nach, dass ich in einem bestimmten Heim war, wenn ich nicht einmal Akten habe?

Das nächste Problem ist also die Akteneinsicht. Viele Akten wurden zwischenzeitlich vernichtet. Deswegen wurde in skandinavischen Ländern gesagt: Die Akteneinsicht kann nicht gewährt werden, das kann aber nicht zu Lasten des Opfers gehen, sondern die Beweispflicht liegt beim Staat. Die betroffene Person muss plausibel darlegen, dass sie im Heim war. Gleichzeitig muss feststehen, dass es kein Verhör geben kann, um herauszufinden: Wer war wo und wem ist es dort wie ergangen? Denn das führte zu einer Retraumatisierung. Es ist die Frage, wie man die Tatsachenfeststellung letzten Endes umsetzt, aber soweit sind wir noch gar nicht. Ich hoffe, wir kommen irgendwann mal dahin!

Im Moment ist eher zu klären, welche Anerkennung den Opfern gerecht werden würde. Ich spreche nicht davon, was jeder für sich für einen Anspruch hat, wenn wir die Verjährung mal außen vor lassen. Hier müssen sich beide Seiten aufeinander zu bewegen: Wenn man feststellt, dass die Anerkennung nicht viel mehr als einen symbolischen Charakter haben kann - damit meine ich ausdrücklich eine Einmalzahlung – so muss gleichzeitig festgestellt werden, dass diese Menschen einen so vehementen Nachteil erlitten haben, der für den Alltag auszugleichen ist. Dies könnte in Form einer Rente stattfinden. Eine solche Rente käme auch den Regelungen des Sozialrechts entgegen, wonach ebenfalls Zahlungen geleistet werden, und zwar monatlich. Wenn man hier in einer ähnlichen Form, sozusagen in analoger Anwendung der Vorschriften des Sozialgesetzbuches, vorgehen würde und an jede betroffene Person eine Rente zahlte, über deren Höhe sicherlich verhandelt werden müsste, wäre das schon etwas, das Viele zumindest sorgenfreier leben ließe. Viele sind tatsächlich Hartz IV-Empfänger, die am Rande des Existenzminimums leben. Gleichzeitig ist den Betroffenen aber sehr wichtig, mit ihrer Vergangenheit nicht allein gelassen zu werden, nicht wieder stigmatisiert zu werden.

Ein weiteres Bedürfnis der ehemaligen Heimkinder ist es, Ansprechpartner zu haben, Therapien zu erhalten, um in der schwierigen Lebensphase, in der sich viele dieser Menschen aufgrund des Erlebten erneut befinden, Unterstützung zu bekommen. Das ist mindestens ebenso wichtig. Schließlich ist die Aufarbeitung wichtig. Keines dieser ehemaligen Heimkinder wünscht den Menschen, die sich heute in entsprechenden Einrichtungen befinden, dieses Leid, diese Qual. Viele der Betroffenen möchten auch nachfolgende Generationen auf das Thema Misshandlungen und Missbrauch aufmerksam machen und ihnen ein Selbstbewusstsein ermöglichen, was sie selbst nie hatten.

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Blick aus der Kanzlei
Unterschiedliche Handhabung der Rechtsberatung

hpd: Manche Betroffenen haben Probleme, einen Beratungshilfeschein für Ihre Dienste ausgestellt zu bekommen, vor allem, da Sie in Trier sitzen und viele der Betroffenen über die Republik verteilt leben.

Nieporte: Das Problem ist, dass die Beratungshilfescheine vom entsprechenden Bundesland ausgegeben werden. Diese stellen eine Unterstützung für Personen dar, die keine eigenen Mittel haben und die sich die Rechtsberatung beim Anwalt deshalb nicht leisten können. Wenn es einen Grund für eine Beratung gibt, stellt das entsprechende Bundesland die finanziellen Mittel zur Verfügung, um eine Beratung durchzuführen. Es ist nicht viel, kein Anwalt reißt sich darum, über einen Beratungshilfeschein eine Beratung zu leisten. Für manche Bundesländer ist das offensichtlich noch zu viel Geld, das dafür ausgegeben wird, so dass es dort Veränderungen in der Gesetzgebung gibt. In den Ländern Bremen und Hamburg beispielsweise werden die Beratungshilfescheine nicht ausgegeben, sondern es sitzt jemand vor Ort im Gericht, der eine Beratung durchführt. Ob diese Person sich im Einzelfall auskennt, ob diese Beratung ohne Hintergrundinformationen tatsächlich seriös erfolgen kann – darauf möchte ich nicht näher eingehen, aber Zweifel sind durchaus angebracht.

Dass diese mittellosen Personen in den entsprechenden Bundesländern benachteiligt sind, soll intern ausgeglichen werden. Zum Beispiel sollten diese Personen über den VeH unterstützt werden. Damit könnten bedürftige Personen, die keinen Beratungshilfeschein bekommen, dennoch die Möglichkeit erhalten, ihre Vollmacht abzugeben und am Runden Tisch mit vertreten zu werden. Allerdings verfügt der VeH auch nicht über entsprechende Mittel, eine Förderung wäre hier sehr willkommen.

hpd: Wünschenswert ist also, dass die Amtsgerichte die Notwendigkeit erkennen, einen Beratungshilfeschein für die vorstelligen Betroffenen auszustellen. Geschieht dies denn auch?

Nieporte: Auf dem Beratungshilfeschein steht, dass eine Prüfung der Erfolgsaussichten einer Klage im Hinblick auf die Heimunterbringung vorgenommen werden soll. Es geht hierbei um eine Prüfung von Ansprüchen auf Schadensersatz, Schmerzensgeld und weiterer etwaiger Ansprüche gegen die Träger. Ich berate auch nicht den Verein ehemaliger Heimkinder, sondern die einzelne Person, von dieser erhalte ich auch die Vollmacht. In der Regel werden diese Beratungshilfescheine auch ausgestellt, was für die mittellosen Betroffenen eine finanzielle Hilfe darstellt. Es muss aber auch hinzugefügt werden, dass hierauf ein Rechtsanspruch besteht. Nachdem ich auf diese Möglichkeit aufmerksam gemacht habe, wurde auch Gebrauch davon gemacht, weshalb ich auch von vielen mittellosen Betroffenen beauftragt worden bin.

Ich hoffe, dass man sich am Runden Tisch dieser Legitimation nicht versperrt, vor allem dann, wenn sie in der Masse besteht. Denn bis jetzt war es offensichtlich so, dass man am Runden Tisch gesehen hat, dass es einen Verein ehemaliger Heimkinder gibt, der einen Teil der Opfer repräsentiert – und auch den größten, das darf man schon sagen. Gleichwohl gibt aber doch viel mehr Opfer. Und dass der Verein sich zum Sprachrohr macht, ist eine Sache. Man darf dennoch die Interessen der Einzelnen nicht vernachlässigen. Diese Interessen, diese Schicksale gehören an den Runden Tisch, nicht der Verein. Der Verein ist ja selbst lediglich eine Interessenvertretung, nicht mehr, aber auch nicht weniger.

„Wir können uns organisieren“

hpd: Eingangs erzählten Sie von Ihrem kleinen „Runden Tisch“ in Trier. Haben Sie denn auch schon mit Vertretern von Institutionen gesprochen?

Nieporte: Nein. Dieser „Runde Tisch“ in Trier ist ja primär nicht für Deutschland eingerichtet worden, sondern für Österreich. Mein Mandat bezog sich auf Österreich, in Deutschland kann ich nur tätig werden, wenn ich hier ein Mandat habe. Deshalb gab es bisher keinen Anlass, mit einer hiesigen Institution zu sprechen.
 

hpd: Sie haben jetzt mehrere Mandate...

Nieporte: Ja, jetzt habe ich die Legitimation, kann mit Institutionen sprechen, kann mit dem Runden Tisch in Berlin sprechen, gern auch mit Vertretern aus verschiedenen Bundesländern. Und zwar schnell, um eine Lösung zu finden, die für alle Betroffenen machbar ist und letzten Endes so etwas wie einen Frieden herstellt. Das kommt im Übrigen einer Art Schlichtung sehr nahe.
 

hpd: Ihr Ansatz erinnert mich auch eher an eine Mediation als an ein juristisches Vorgehen. Sie kommen nicht an und drohen mit Paragraphen.

Nieporte: Doch, schon, ich komme mit klaren Vorstellungen. Ich glaube, das wird bereits dadurch deutlich, dass die Betroffenen zeigen: Wir können uns organisieren. Wir beauftragen jemanden mit der Durchführung unserer Klagen. Selbstverständlich ist die juristische Seite lediglich ein Gepäckstück unter mehreren. Ein anderes ist die Art und Weise des Umgangs miteinander, die Form, das Verfahren. Sehr wichtig ist auch die Einschätzung dessen, was gewollt und was machbar ist. Aber ohne juristischen Sachverstand wird es nicht gehen, im Übrigen besteht diese Einstellung auch am Runden Tisch in Berlin.
 

hpd: Was unterscheidet Sie denn von der vorherigen Anwaltskanzlei, die den Verein ehemaliger Heimkinder vertreten hat?

Nieporte: Die Vorgehensweise, nehme ich mal an. Der Kollege aus Hamburg ist an den Tisch herangetreten und hat seine Forderungen in einer – wie ich meine, voreilig – zu klaren Form gestellt, ohne dass es vorher eine Kommunikation gab. Kommunikation ist wichtig, gerade in einem solch heiklen Bereich, in dem es um einen sogenannten Ausgleich zwischen Täter und Opfer geht. Wobei die Personen, die sich am Runden Tisch befinden, ja nicht wirklich „Täter“ sind, sondern die Aufgabe haben, eine Lösung auszuarbeiten, die einen Ausgleich schafft. Das ist aber auch der Grund, weshalb ich von der Arbeit des Runden Tisches nicht begeistert bin: Ich habe nicht den Eindruck, dass das sein Ziel ist. Jedenfalls drängt sich das mir nicht gerade auf. Der Runde Tisch ist ja nicht Täter, das sollte man auch nicht verqueren, sondern der Runde Tisch hat eine ganz klare Aufgabe: Dieses Problem zu lösen und den Opfern gegebenenfalls bestmöglich gerecht zu werden.

Allgemein verbindliche Lösung durch den Runden Tisch

Jetzt muss man abgrenzen: Was kann der Runde Tisch für den Einzelnen mehr oder besser, als es die Gerichte tun könnten? Anderenfalls könnte man mit jedem Einzelnen auch vor das Gericht gehen. Ein Vorteil des Runden Tisches ist, dass er die Probleme gemeinsam und allgemein verbindlich lösen kann. Ein Urteil ist nur im Einzelfall verbindlich, auch wenn es natürlich wegweisend sein kann. Indem der Runde Tisch in Berlin aber eine breite Akzeptanz in der Opfergruppe bekommt, kann auch das Ergebnis schneller allgemein angenommen werden. In Deutschland gibt es keine Sammelklage, es müsste also jeder Einzelne individuell klagen.

Es geht deshalb auch darum, dem Runden Tisch deutlich zu machen - und deswegen hat er zunächst nichts zu befürchten, aber das muss nicht immer so bleiben: Die Opfer sind durchaus in der Lage, sich zu organisieren, möglicherweise eine Kanzlei damit zu beauftragen und dann für jeden Einzelnen eine entsprechende Klage zu fertigen. Wenn bei all den Klagen bezüglich der Verjährung bis zur höchstrichterlichen Rechtssprechung ein einziges Mal das Ergebnis bestätigt werden würde, dass hier tatsächlich institutionalisiertes Unrecht geschieht, kann sich der Staat aufgrund dessen nicht auf die Verjährung berufen. Ein solches Urteil wäre für den Staat eine sehr große Belastung und ginge auch auf Kosten des herzustellenden sozialen Friedens.

Gemäß der Radbruch‘schen Formel – benannt nach dem Rechtsphilosophen Gustav Radbruch –, welche auch in den Mauerschützenfällen zur Anwendung kam, kann sich der Staat nicht auf institutionalisiertes Unrecht berufen. Der Einzelne, ebenso wie der Staat, kann sich also nicht darauf berufen, „nach dem Gesetz gehandelt“ zu haben, wenn das Gesetz menschenverachtend war. Der äußerste Maßstab bleiben das Grundgesetz und die Menschenrechtskonventionen. Wir reden von der Zeit nach 1939, nach 1945 und bei allem, was in den Fünfziger, Sechziger, Siebziger Jahren geschah, haben wir auf jeden Fall das Grundgesetz. Für andere Zeiträume muss es eine politische Entscheidung geben, denn auch wenn die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland z.B. in der ehemaligen DDR keine Anwendung gefunden hat, kann es keine ehemaligen Heimkinder zweiter Klasse geben.
 

hpd: Nach dem Motto: Pech gehabt, ihr seid zu früh im Heim gewesen.

Nieporte: Genau so. Deshalb habe ich dem Verein mitgeteilt, dass sich alle Betroffenen melden sollen. Egal ob aus dem Osten, das heißt aus der ehemaligen DDR, aus dem Westen, und völlig egal aus welchem Jahrgang: Sie sind Opfer eines Systems, eines Unrechtsystems. Eine Ausgrenzung verbietet sich hier aus menschlichen wie aus politischen Gründen.
 

hpd: Sie vertreten damit auch alle, die vom Runden Tisch ausgeschlossen worden sind.

Nieporte: Ja. Dieser Ausschluss ist nicht in Ordnung, es ist ein Denken in Klassen, aber die Strukturen waren ja nicht wesentlich unterschiedlich. Dass man Betroffene aus den Neunziger Jahren ausklammert, kann ich verstehen, obwohl auch aus dieser Zeit manche Personen genauso behandelt worden sind. Für sie ist die Verjährung allerdings unstreitig noch nicht eingetreten, die Berufung auf institutionelles Unrecht ist nach meiner Auffassung hier nicht mehr zutreffend. Bezüglich der Anderen ist die Verjährung aber doch offensichtlich streitig. Ich sag’s noch mal: Dass sie streitig gestellt wird, ist eine Ohrfeige für die Opfer.

hpd: Herr Nieporte, ich bedanke mich für das Gespräch.

Nieporte: Gerne, ich bedanke mich ebenfalls bei Ihnen.

Das Interview mit Rechtsanwalt Nieporte führte Fiona Lorenz

Kontaktdaten RA Robert Nieporte

Spendenmöglichkeit beim Verein ehemaliger Heimkinder