„Es muss ein Miteinander sein“

Beispielbild
 
Ohrfeige Verjährung

Auch die Problematik der Verjährung wurde am Runden Tisch angesprochen, wenngleich wohl nicht sehr intensiv. Es hieß – auch in verschiedenen in der Öffentlichkeit ausgestrahlten Interviews - die Fälle seien alle verjährt. Das ist eine Ohrfeige, vor allen Dingen deswegen, weil eine inhaltliche Prüfung im Einzelfall ja nie stattgefunden hat. Und eine Verjährung prüft man nicht anhand einer Gruppe, sondern am jeweiligen Einzelfall. Es hätte schon aus diesem Grund dem Runden Tisch gut zu Gesicht gestanden, die Anwälte, die thematisch betraut sind und die die Akten der Heimkinder haben, mit zu beteiligen, jedenfalls aber den Betroffenen die Möglichkeit zu geben, jemanden zu beteiligen, der die Einzelschicksale kennt. Ich habe in der letzten Zeit viel korrespondiert über Blogs, über E-Mail, über Gespräche am Telefon, und ich habe auch persönlich mit Opfern gesprochen. Es belastet die Opfer sehr, dass man von vornherein das Schicksal eines jeden Einzelnen so lapidar vom Tisch fegt, indem man sagt: „Die Schranke wird durch die Verjährungsproblematik ganz niedrig aufgehängt, es ist sowieso alles verjährt.“ Das ist nicht Mut machend. Ich kenne eine andere Lösung, die auch in Österreich favorisiert wird und sich am Norwegischen Modell orientiert, wo sie auch umgesetzt wurde, und zwar, indem auf die Verjährungseinrede verzichtet wird.
 

hpd: Bringen die Vertreter für die Täter die Verjährungseinrede ein und wird das dann einfach vom Runden Tisch akzeptiert?

Nieporte: Ich gehe davon aus, dass der Runde Tisch von den Juristen hat untersuchen lassen: Hier ist mit einer Verjährung zu rechnen, hier liegt eine Verjährung vor. Und zwar nicht nur am Einzelfall, sondern ganz allgemein. Dies wurde dann offensichtlich - ohne Einzelfallprüfung – angenommen, und zwar zu Lasten der einzelnen Betroffenen.
 

hpd: Was also in den Fünfziger, Sechziger Jahren passiert ist, ist verjährt?

Nieporte: Das ist so lange her, dass es, aus oberflächlicher Sicht betrachtet, verjährt ist. Aber intensive Prüfungen durch den Runden Tisch hat es meines Wissens nicht gegeben, mir ist auch kein entsprechendes Dokument bekannt, welches diese Prüfungen für den Einzelfall belegt.
 

hpd: Dann ist es aber doch inkonsequent, noch einen Runden Tisch aufrecht zu erhalten.

Nieporte: Ja und nein. Man möchte ja dadurch demonstrieren, was aber aus meiner Sicht allerdings schlecht gelungen ist: „Die Ansprüche sind zwar verjährt, aber wir arbeiten es trotzdem auf!“ Nur ist diese Konstellation janusköpfig, denn sie verneint von vornherein die Ansprüche, die man über den Runden Tisch anzuerkennen vorgibt.

Mit „Nichts“ entlassen

hpd: Soll das heißen: „Wir werden zwar feststellen, dass etwas passiert ist, aber Konsequenzen wird es daraus nicht geben“?

Nieporte: Andersherum: Wenn es Konsequenzen gibt, dann jedenfalls nicht, weil man dazu verpflichtet ist. Und das ist eine generöse Haltung, die vom Runden Tisch angeboten wird, mit der sich ein Opfer aber nicht zufrieden geben kann. Ich kann als Opfer nicht sagen: „Ich bin einverstanden damit, dass ich erst viel Leid erfahren habe, dass ich Unrecht ertragen musste und hinterher sagt mir jemand: ‚Du hättest vielleicht Ansprüche, aber die sind alle verjährt.’“ Vor allem in diesen Fällen - das ist eigentlich symptomatisch, wenn man sich einzelne Biografien anschaut: Wann soll ein Mensch in solch einer Situation denn Ansprüche anmelden?

Die Heimkinder haben in der Regel zu nahezu einhundert Prozent, wenn sie aus dem Heim in das Leben entlassen wurden, „Nichts“ gehabt, nicht einen Cent. Viele hatten nicht einmal eine Ausbildung. Das sind alles Menschen, die sich mehr oder weniger durchs Leben hangeln mussten, keinen gefestigten Alltag hatten, die durch ihre psychischen Probleme immer wieder aus der Bahn geworfen wurden. Das erlebt man sehr, sehr häufig. Viele derjenigen, mit denen ich gesprochen habe, wiesen exakt dies als Charakteristikum auf. Und ein solcher Mensch, der erst einmal verarbeiten muss, was ihm in der Vergangenheit passiert ist und gleichzeitig zusehen muss: Was mach ich jetzt mit meinem Leben? Der auf sich allein gestellt ist, weil in der Regel keine Eltern da waren, und wenn diese da waren, das Verhältnis gestört gewesen ist. Eine Nähe zum Heim bestand sowieso nicht. Eine Stütze, eine richtige Unterstützung für den weiteren Werdegang, für die weitere Entwicklung in der Persönlichkeit, hatten diese Menschen nicht. Das führte dann dazu, dass dieser Mensch sein Leben erst einmal aufbauen musste. Manche haben ein bisschen mehr im Rucksack, manche ein bisschen weniger. Es gibt Menschen, die mit einem „Goldenen Löffel“ geboren werden – diese Heimkinder sicher nicht. Ich kenne Fürsorgezöglinge, die tatsächlich nicht mehr unterstützt worden sind, weil sie Geld gekostet haben. Die mussten gehen. Und sie wären vielleicht sogar noch geblieben.

Das führte dann dazu, dass, bevor diese Menschen gefestigt waren, noch einmal mindestens zehn bis fünfzehn Jahre vergangen sind. Mindestens, bevor man überhaupt einmal daran gedacht hat: Wie kann ich mich auf die Vergangenheit zurück besinnen, das aufarbeiten, vielleicht auch die Konsequenz daraus ziehen, dass ich geschädigt worden bin und dann den nächsten Schritt wagen, entweder zum Anwalt zu gehen oder zu einer Person meines Vertrauens, die meine Vergangenheit mit mir zusammen aufarbeitet? Um dann irgendwann festzustellen: Ich bin geschädigt worden, ich schlage jetzt den juristischen Weg ein. Es geht ja in dem Moment, in dem man sich auf Ansprüche beruft, um das Juristische. So. Wer wird das tun? Hinzu kommt, dass ein Anwalt Geld kostet. Wer kein Geld hat, geht auch nicht zum Anwalt.

Abgesehen davon, und das ist der nächste Punkt, waren diese Menschen mit einem Tabu behaftet. Das Stigma, „du bist Heimkind“, das wollte man nicht nach Außen tragen. Es gibt heute noch Leute, die anonym bleiben möchten: „Es soll keiner wissen, dass ich mal im Heim war, das möchte ich nicht.“ Diese Menschen sind auch heute noch stigmatisiert, man verbindet damit etwas, und zwar nicht nur die ehemaligen Heimkinder selbst, sondern auch andere, die mit dem Finger auf solche Menschen zeigen und sagen: „Heimkinder, die sind verwahrlost. Um die kümmert sich ja keiner. Trau denen bloß nicht.“

Um zurückzukommen: Wenn also der Runde Tisch sich auf eine Verjährung beruft und sagt, den Fall könne man juristisch nicht mehr geltend machen, dann wird auch dieser Aspekt von ihm nicht ernst genommen. Im Grunde schmeißt man den Betroffenen einen Brotkrumen hin und sagt: „Ja, wir reden mal drüber“. Ein Gespräch in gleicher Augenhöhe stelle ich mir anders vor.

Die neue Strategie

hpd: Der Punkt ist ja der, dass die Heime die Voraussetzung für das Unvermögen der Opfer geschaffen haben, gegen das erlittene Unrecht vorzugehen. Die Argumentation ist wohl konsequenterweise: Ihr hättet nach eurem Martyrium „frisch und fröhlich“ aus dem Heim herausspazieren sollen und uns dann sofort anschließend juristisch an den Kragen gehen müssen. Dann hättet ihr noch eine Chance auf Erfolg gehabt, jetzt habt ihr „Pech gehabt“. Ist das zynisch?

Nieporte: Ein Mensch, der so sehr mit der Verarbeitung von erlittenem Unrecht beschäftigt ist, kam nicht über die Phase der Verarbeitung dessen hinwegsehen. Er muss es verarbeiten und braucht hierfür Zeit. Dies ist der Grund dafür, weshalb die Opfer sagen: „Ich traue dem Runden Tisch nicht und ich bin sehr enttäuscht, weil der mein Problem nicht erkennt.“
 

hpd: Nachdem die vormaligen Anwälte ihr Mandat niederlegten, sagte Frau Tschapek-Güntner: „ Das geschehene Unrecht lässt sich nicht durch einen warmen Händedruck wieder gutmachen. Unser Kampf für Entschädigung geht weiter, wenn auch nicht am RTH.“ Wie sieht denn die neue Strategie aus?

Nieporte: Das erste, was damals sicher nicht so glücklich war: dem Runden Tisch direkt Zahlen - 25 Milliarden - als Forderung „auf den Tisch zu legen“. Das musste beim Runden Tisch als Provokation und als große, uneinsichtige Voreingenommenheit ankommen. Man muss auch alles in gewisser Relation sehen. Wenn es vorher um Zwangsarbeiter ging, die entschädigt wurden, dann muss man Entschädigungsforderungen auch an solchen Zahlen messen. Anders geht es gar nicht. Denn der Staat wird immer wieder in der Situation sein, dass bestimmte Opfergruppen sich melden werden, die eine Anerkennung benötigen. Sich von vornherein so festzulegen und sogar auf einen solchen hohen, lediglich theoretischen Betrag, das war unklug. Auch das mag mit dazu geführt haben, dass der Runde Tisch erwidert hat: „Wir möchten von den Zahlen nichts wissen“, und sämtliche Vorstellungen über Zahlungen erst einmal abgeblockt hat. Im Gegensatz dazu wurden in Österreich und vorher auch in anderen Ländern, wie beispielsweise Norwegen, Zahlungen festgelegt – es gibt auch eine Staffelung nach der Schwere der Tat.

Was in diesen Ländern zur Verjährung interessant ist: Diese soll als Einrede nicht geltend gemacht werden. Und auch wenn jemand eine Entschädigung erhalten hat, muss er deswegen nicht auf das Recht verzichten, weitere juristische Maßnahmen vorzunehmen. Das Einzige - das ist aber juristisch auch selbstverständlich - wenn jemand bereits eine Entschädigung bekommen hat - ist diese anzurechnen für den Fall, dass er später eine weitere zugesprochen bekäme. Aber es besteht keine Bedingung, es besteht kein Ausschluss von juristischen Mitteln, die somit - mangels Verjährungseinrede - unbenommen weiter angewendet werden können. Dies ist ein sehr großes Entgegenkommen, welches möglicherweise dazu führen könnte, dass auch die Personen, welche nach wie vor der Auffassung sind, dass die Entschädigungszahlungen eigentlich zu gering seien, aufgrund einer solchen Geste, aufgrund eines solchen Entgegenkommens des Staates für sich feststellen: „Das tue ich mir nicht an. Ich möchte ja nicht wirklich juristisch dagegen vorgehen, sondern auch ich erkenne das, was der Staat jetzt geleistet hat, an.“ Das verstehe ich unter Anerkennung.