(hpd) Die Politikwissenschaftlerin Imke Leicht gibt in ihrem Buch einen Überblick zu aktuellen Debatten zum Thema im Spannungsfeld von Kulturrelativismus und Universalismus. Das Buch verdient sowohl als Einführung in die Thematik aber auch aufgrund seiner kritischen Positionierung Beachtung: Basis eines selbstkritischen Universalismus müssten die individuellen Menschenrechte sein.
Auf welcher normativen Grundlage ist die Koexistenz und das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher kultureller, nationaler oder religiöser Zugehörigkeit mit gleichen Freiheiten und Rechten möglich? Über die richtige Antwort auf diese Frage findet seit Jahren eine kontroverse Debatte hinsichtlich des konkreten Verständnisses von Multikulturalität statt. Dabei lässt sich die Renaissance einer noch älteren Diskussion zwischen Kulturrelativismus und Universalismus ausmachen. Ersterer sieht in den kulturellen Prägungen einer bestimmten sozialen Gruppe die primäre Legitimationsquelle für deren moralische Prinzipien. Der Universalismus stellt demgegenüber auf Basis der allen Menschen eigenen Rechte und Würde auf kulturübergreifende Normen ab. Die damit verbundenen Gegensätze in den Positionen durchziehen auch die heutige Debatte, wie die Politikwissenschaftlerin Imke Leicht in ihrem Buch „Multikulturalismus auf dem Prüfstand. Kultur, Identität und Differenz in modernen Einwanderungsgesellschaften“ meint.
Darin findet man eine Darstellung und Kommentierung der von Intellektuellen und Wissenschaftler vorgetragenen Positionen. Im ersten Teil geht es um die ideengeschichtliche Entwicklung des Kulturrelativismus, angefangen von dessen Begründung durch den Ethnologen Franz Boas über die Theorie der „Verschiedenheit der Kulturen“ von Claude Lévi-Strauss bis zur Kritik des damit verbundenen differentialistischen Antirassismus als Vorlage für den Neorassismus. Besondere Aufmerksamkeit findet in diesem Kontext auch die kulturrelativistische Kritik an den Menschenrechten und die Deutung der Menschenrechte als Phänomen der Moderne. Der zweite Teil des Buches behandelt die gegenwärtigen Theorien des Multikulturalismus aus kommunitaristischer und liberaler Sicht anhand von Charles Taylor und Will Kymlicka sowie in Verbindung mit einer kritischen Gesellschaftstheorie von Seyla Benhabib und Heiner Bielefeldt. Darüber hinaus findet auch die Auseinandersetzung um islamkritische Frauenrechtlerinnen und die „Bruckner-Buruma-Debatte“ Aufmerksamkeit.
Auch wenn sich das Buch über weite Strecken wie eine Einführung und Überblicksdarstellung zum intellektuellen Multikulturalismus-Diskurs liest, belässt es Leicht nicht bei einer bloßen Beschreibung. Zwar etwas zaghaft und zurückhaltend, aber doch deutlich und klar positioniert sich die Autorin selbst. Dies gilt zum einen für die Ausführungen zu den jeweiligen Ansätzen, aber auch zum anderen für die allgemeine Problematik. Hierzu heißt es: „Richtungsweisender Ansatz könnte dabei ein ‚(selbst) kritischer Universalismus’ sein, der an universell gültigen Werten und Rechten anknüpft, diese aber stets herrschaftskritisch hinterfragt und in den Kontext pluralistischer Gesellschaften und multikultureller Realitäten einbindet.“ Und weiter bemerkt Leicht: „Die Menschenrechte stehen jedem Menschen aufgrund seines Menschseins zu und nicht Kulturen, denen bestimmte Eigenheiten zugeschrieben werden. Es geht also ... nicht um die Herstellung von Gerechtigkeit gegenüber Kulturen, sondern gegenüber Individuen“ (S. 191f.).
Das Buch „Multikulturalismus auf dem Prüfstand“ verdient aus unterschiedlichen Gründen Aufmerksamkeit: Zunächst handelt es sich um eine bislang fehlende informative und systematische Darstellung zur benannten Kontroverse, welche sowohl als erste Einführung wie als weiterführende Erörterung gelesen werden kann. Leicht benennt denn auch Lücken und Schwächen der referierten Positionen, was selbst gegenüber den von ihr bevorzugten Ansätzen geschieht. Sie macht darüber hinaus auf bislang in der deutschen Debatte nur am Rande beachtete Gesichtspunkte aufmerksam: Dazu gehören die Ausführungen darüber, dass kulturrelativistische Auffassungen des Multikulturalismus sehr wohl über „Anschlussstellen“ (S. 142) gegenüber neo-rassistischen Positionen verfügen. Die Autorin betont außerdem, dass angesichts von autoritären Milieustrukturen und reaktionärem Traditionalismus die Identitäten von Migranten noch lange kein Ausweis für „eine ausschließliche Opferrolle oder gar für eine emanzipatorische Gesinnung ihrer Träger“ (S. 187) sei.
Armin Pfahl-Traughber
Imke Leicht, Multikulturalismus auf dem Prüfstand. Kultur, Identität und Differenz in modernen Einwanderungsgesellschaften, Berlin 2009 (Metropol-Verlag), 205 S., 19 €