FRANKFURT. (hpd) „Religionsunterricht an hessischen Schulen – Bekenntnis- oder Erkenntnisunterricht?“ So lautete der Titel einer Podiumsdiskussion der Säkularen Humanisten – Regionalgruppe Rhein-Main des Förderkreises der Giordano Bruno Stiftung (in Zusammenarbeit mit DiKOM e.V.) – anlässlich der Frankfurter Interkulturellen Wochen.
Bericht und Kommentar von Alexander Tschierse
Als diesjährigen Beitrag zu den Interkulturellen Wochen Frankfurt am Main luden die Säkularen Humanisten Rhein-Main am 05.11.2010 Vertreter aus der hessischen Landespolitik sowie humanistisch geprägter Organisation zu einer Podiumsdiskussion ein.
Unter dem Titel „Religionsunterricht an hessischen Schulen – Bekenntnis- oder Erkenntnisunterricht?“ konnten Frau Sarah Sorge MdL (Bündnis90/Grüne), Frau Bettina Wiesmann MdL (CDU), Herr Johann-Albrecht Haupt (Humanistische Union) sowie Herr Jochen Beck (Säkulare Humanisten Rhein-Main) unter der Moderation von Herrn Peter Menne als Diskutanten gewonnen werden.
Nach der Begrüßung und Vorstellung trugen die Teilnehmer den gut 50 interessierten Besuchern des Abends kurz ihre Einschätzung zum Veranstaltungstitel vor, anhand derer sich der weitere Verlauf des Abends bereits abzeichnen sollte.
Zu Beginn skizzierte Jochen Beck den Standpunkt der Säkularen Humanisten, wonach der herkömmliche bekenntnisgebundene Religionsunterricht durch ein integratives allgemeines Pflichtfach „Philosophie und Religionskunde“ ersetzt werden sollte. Diesem Fach würden zwei Funktionen zukommen. Zum Einen sollten hier den Schülern die Werte nahegebracht werden, die für das Grundgesetz grundsätzlich verbindlich sind. Denn die weltanschauliche Neutralität des Staates gilt nur in einem weiteren Sinne. Im engeren Sinne enthält die Verfassung sehr wohl ein weltanschauliches Kernbekenntnis: Die Idee der unantastbaren Menschenwürde, der unveräußerlichen Menschenrechte und das Demokratiegebot. Diese Wertkonstruktionen sind Produkte säkularer Philosophie, die gegen die Religion durchgesetzt werden mussten und sollten dann auch in einem Philosophieunterricht vorgestellt werden. Darüber hinaus sollte dieses Fach die weltanschauliche Bildung vermitteln, die den Schülern ein selbstständiges Urteil über Religionen und philosophische Weltanschauungen ermöglicht.
Dagegen vertrat Frau Wiesmann unter dem Gesichtspunkt der christlichen Werteorientierung die Auffassung, dass ein Religionsunterricht stets die Pflicht zur Auseinandersetzung mit Bekenntnissen impliziert, an der eine Gesellschaft sich reiben kann und soll und deshalb die gegenwärtige Regelung des Grundgesetzes zu Recht den bekenntnisgebundenen Unterricht als ordentliches Lehrfach vorsieht.
Frau Sorge sah den Zusammenhalt der Gesellschaft durch die Unterschiede der einzelnen Religionen gefährdet und wünschte sich, die Gemeinsamkeiten ethischer Punkte herauszuarbeiten, um einer Gerechtigkeitslücke zu entgehen, während Herr Haupt schließlich den geltenden Verkündigungsauftrag der kirchlichen Religionsgemeinschaften unterstrich und die Auffassung vertrat, dass ein Religionsunterricht nicht durch den Staat, sondern selbst organisiert werden solle.
In der anschließenden Diskussionsrunde stellte sich zunächst die Frage, in welcher Form sich der heutige Religionsunterricht präsentiert und welchen Nutzen er bereitstellen kann. Zunächst ist zu konstatieren, dass es die Kirchen sind, die durch ihre Vertreter den Religionsunterricht erteilen und sich hierbei präsentieren können, was alleine deshalb schon bemerkenswert ist, da die Vermittlung wissenschaftlichen oder politischen Wissen in Schulen weder von der Fraunhofer-Gesellschaft noch von den Parteien durchgeführt werden. Frau Wiesmann hob hervor, dass ein Fehlen der Religion in deutschen Schulen die Aufgabe der Wurzel der staatlichen Ordnung impliziere und innerhalb des Religionsunterrichtes mitnichten Mission betrieben würde. Die mit Liebe und Gerechtigkeit gleichzusetzenden christlichen Religionen, die der Reifung der Persönlichkeit dienen sollten und den Blick auf die Grenzen und Ränder menschlichen Verstehens zu richten hätten – auch außerhalb des Rationalen – müssten in einem solchen Fach verankert werden und würden dazu beitragen, ein geistiges Rüstzeug für existentielle Fragestellungen zu liefern. Im weiteren Verlauf der Diskussion nahm Frau Wiesmann zudem Martin Luther als Vorbereiter der Aufklärung in Anspruch.
Die Einwände blieben nicht aus. So trug Herr Beck vor, dass zuallererst ein Recht auf Bildung bestünde, damit die Schüler wohlvorbereitet für sich prüfen können, inwieweit sie metaphysische Sinnstiftungsangebote als tragfähig einstufen. Erkenntnis muss naturgemäß der Wahl eines Bekenntnisses vorangehen. Auch die genannte Einordung Martin Luthers ließ er nicht unerwidert und illustrierte seine Position anhand von zwei Beispielen: Das Zwölf-Artikel-Manifest des bäuerlichen Widerstandes von 1525 war bereits eine fragmentarische Menschenrechtserklärung, konnte aber aufgrund des biblischen Befundes problemlos von ihm zurückgewiesen werden. Desweiteren war der Großreformator dem Hexenwahn so sehr verhaftet, dass er sogar die Tötung eines zwölfjährigen Kindes empfahl, weil es angeblich vom Teufel empfangen wurde.
Frau Sorge sah die Wertevermittlung eher im Elternhaus und weiteren Schulfächern (Biologieunterricht (Verhaltenslehre), Geschichte, Gesellschaftswissenschaften, Buchlektüre im Deutschunterricht) und zweifelte an der Richtigkeit, nur rein christliche Werte in den Vordergrund zu stellen. Für Herrn Haupt erschien es fraglich, ob Werte überhaupt im Religionsunterricht vermittelt werden können und favorisierte das Modell, neben dem konfessionellen Religionsunterricht zusätzlich ein verbindliches Fach „Religionskunde und Ethik“ für alle anzubieten.
Erörtert wurde zudem, wie frei die Entscheidung für oder gegen die Teilnahme an christlichem Religionsunterricht denn real ausfallen kann, wenn solche Wahlmöglichkeiten in der Grundschule (und oft auch in Berufsschulen) schlicht nicht zur Verfügung stehen, also in einer Phase, in der die Prägung und Formung, mithin eine Beeinflussung des Heranwachsenden im gewünschten Sinne, eher leichter handzuhaben ist. Zudem sei oftmals keine echte Alternative vor Ort vorhanden, also eine nicht ausreichende Anzahl von konfessionsfreien Schulen in Wohnortnähe zu bemängeln. Hierin erkannte Frau Wiesmann die Aufgabe, die Rolle des staatlichen Schulauftrages zu überdenken, wenngleich ihr eine Heranführung von Kleinkindern an religiöse Überzeugungen als wichtig und richtig erschien.
Es kristallisierte sich für das gut informierte Publikum im weiteren Verlaufe heraus, dass wir es bei der Frage nach der inhaltlichen Ausgestaltung des Religionsunterrichtes mit einer Monopolstellung der christlichen Kirchen zu tun haben, die überdies, wie Frau Sorge und Herr Haupt bemerkten, von Finanzströmen profitiere, für die der gemeine Steuerzahler aufkomme – gänzlich unabhängig davon, ob er religiös gebunden ist oder nicht. Erklären lässt sich nach Herrn Haupt die Glaubensvermittlung des kirchenfreundlichen Staates und die Aufteilung der Schüler in Christen und Nicht-Christen nur mit dem bis heute geltenden stillschweigenden gesellschaftlichen Einverständnis der Kirche als Werteagentur. Dies ist allerdings kaum mit der deutsch-geschichtlich wohlbegründbaren Zurückhaltung des Staates, der eine Werteordnung vorgibt, in Einklang zu bringen, wenn er in dieser Angelegenheit nun die Kirchen privilegiere, wie Frau Wiesmann selbstkritisch anmerkte.
Nach der kontroversen Diskussion der Podiumsteilnehmer/-innen wurde das Publikum eingebunden, welches sich rege beteiligte.
- So wurde festgestellt, dass der relativ kleinen Anzahl von Bürgern mit muslimischem Hintergrund (4%) eine eher freundliche Hofierung widerfährt, während die vergleichsweise sehr hohe Anzahl von nicht-konfessionsgebundenen Menschen (40%) eher beiläufig genannt und berücksichtigt werden, verbunden mit der Frage: Wo bleiben die Humanisten, wo bleiben die Menschen, die ethisch handeln, ohne einen Rückgriff auf einen Gott zu benötigen, in der öffentlichen Wahrnehmung?
- Wie weit gestaltet sich der Einfluss der Religionen auf Staat und Politik in Zukunft? Die Bemühungen der ehemaligen hessischen Kultusministerin Karin Wolff, die biblische Schöpfungsgeschichte der Evolution des Lebens im Schulunterricht anzunähern, lässt neben aller Singularität erahnen, dass der als abgeschlossen gedachte Disput nach wie vor virulent ist. Somit festigt sich der Eindruck - wie Herr Beck zum Schluss bemerkte - dass sich die Kirche jeweils dem Zeitgeist angepasst hat, aber auch das Gegenteilige vorstellbar erscheint, wenn sich die Kräfteverhältnisse zwischen Religion und Staat erneut verschieben.
Die im Verlaufe der Veranstaltung eher als Gemeinplätze einzustufenden Feststellungen, dass Kritik an Versäumnissen willkommen sei, lässt vermuten, dass die Brisanz des Themas auf der politischen Agenda schlechterdings nicht vorhanden ist und die säkulare Szene – trotz aller Unstimmigkeiten – auch in dieser Frage dazu aufgerufen ist, gemeinsame Positionen herauszuarbeiten und insbesondere geschlossen aufzutreten
Wohin die Reise geht, wenn Religionsunterricht in der bisherigen Form die verschiedenen Weltanschauungen trennt, während gleichzeitig glaubensfreie wie säkular-humanistisch orientiere Weltbilder und deren ethische Ableitungen, die sich der wissenschaftlichen Annäherung an die Komplexität des Lebens verpflichtet fühlen, in den Hintergrund treten, bleibt unsicher.
Da wir in einer zunehmend enger vernetzten Welt vor der Herausforderung stehen, nations-, religions-, und ethnischübergreifende Modelle zu finden, bleibt es bei dem Anliegen, in einem Schulfach einen gemeinsamen ethischen Wertekanon als zentralen Ausgangspunkt individueller Entscheidungen zu platzieren.
Ob Religionsunterricht, wie er heute in Schulen praktiziert wird, diese Hürden zu überspringen vermag, ist kaum zu erwarten.
Nächstes Monatstreffen der Säkularen Humanisten Rhein-Main:
26.11.2010 - 19.00 Uhr - Club Voltaire, Kleine Hochstr. 5, Frankfurt am Main.
Interessierte sind jederzeit willkommen.
Nächste Veranstaltung der Säkularen Humanisten Rhein-Main:
Rolf Bergmeier „Requiem für die abendländische Kultur“.
19.11.2010 – 19.30 Uhr - Saalbau Bornheim, Arnsburger Str. 24, 60385 Frankfurt am Main