(1) Ausdrücklich heißt der Koran die Polygamie für gut (Sure 23, Vers 1-6, S 4, 4): Ein Mann kann sexuelle Beziehungen mit vier Ehefrauen und einer unbestimmten Zahl von Sklavinnen haben. Ein Mann kann ein sexuell unreifes Mädchen heiraten (S. 65, 4). Ein Mann kann seine Frau verstoßen, während der umgekehrte Fall nicht möglich ist (S. 65, 1). Das Zeugnis eines Mannes ist das zweier Frauen wert (S 3, 282). Die Erbschaft einer Frau ist die Hälfte von der eines Mannes (S. 4, 176). Der Mann hat das Recht, seine Frau bei Ungehorsamkeit zu schlagen (S. 4, 34). Apostasie wird mit dem Tode bestraft (S. 9, 11-12, und in Hadiths bei Bukhari und Abu Dawud), Ehebruch wird nach der Scharia in vielen Orten mit Steinigung bestraft.
Es ist offensichtlich, dass das in Artikel 9 der EMRK genannte Recht auf "Ausübung von Geboten und Vorschriften" einer Religion hier unmöglich in vollem Umfang anzuwenden ist.
(2) Ein ähnliches Problem wird in einer subtileren Form deutlich, wenn es um Verhalten oder Haltungen handelt, die viele glauben aus dem Koran oder der Sunna (den Regeln abgeleitet aus den Worten und Taten des Propheten) ableiten zu müssen und die, wenn auch nicht immer in manifestem Konflikt mit unseren Gesetzen, doch im Gegensatz zu unseren allgemein anerkannten Verhaltensregeln stehen.
Der Gehorsamkeitspflicht der Frau gegenüber ihres Mannes; das Recht des Vaters über die Ehewahl seiner Tochter zu entscheiden oder sie zu verweigern; der Brauch, Mädchen früh zu verheiraten; das Sorgerecht des Mannes nach dem Verstoßen der Frau für Jungen ab 7 Jahre und Mädchen ab 12 Jahre; die Autorität der Brüder über ihre Schwestern; die Zurückhaltung von Männern, um unter der Aufsicht von Frauen zu arbeiten; die Weigerung des Mannes, seine Frau von einem männlichen Arzt behandeln zu lassen; die Weigerung, einer Frau die Hand zu geben; die Ablehnung des gemischten Schwimmens; die Ablehnung männlicher Bademeister beim exklusiven weiblichen Schwimmen; die Ablehnung eines muslimischen Fußballvereins, ein ordnungsgemäßes Fußballspiel gegen einen "homosexuellen" Verein zu spielen; der von Eltern ausgeübte Zwang auf ihre Kinder, ein Kopftuch zu tragen; die Forderung von einigen muslimischen Frauen, ungeachtet der Kleiderordnung ein Kopftuch überall tragen zu können; die Forderung einiger, überall einen Niqab (voller Gesichtsschleier), ein Jilbab (langes verhüllendes Kleid) oder eine Burka tragen zu können; die Forderung, ihren eigenen Gebetsraum in Schulen und anderen Institutionen zu haben; die Verpflichtung, in gemeinsamen Kantinen immer Halal-Fleisch zu bekommen; die Forderung, keine Lehrstunden über die Evolutionstheorie, Sexualkunde und den Holocaust zu bekommen; die Vorstellung der Homosexualität als störendes Fehlverhalten usw.
(3) Selbstverständlich gibt es viele Muslime, die sich dessen bewusst sind, dass unsere Gesellschaft eine Reihe dieser Verhalten schwer oder gar nicht akzeptieren kann; aber einige von ihnen würden sie alle bewahren wollen und viele wollen sicher auf einige nicht verzichten. In einem solchen Fall ist es weit hergeholt, sich immer wieder auf die "Religionsfreiheit" zu berufen, während es sich hier eigentlich um Konfliktsituationen handelt, bei denen mindestens ein Abwägen der Argumente, die für und gegen die Annahme eines besonderen Verhaltens sprechen, erforderlich ist.
Bei diesem Abwägen können verschiedene Aspekte berücksichtigt werden. (i) Der Umfang, in dem eine Bestimmung zu den wesentlichen Merkmalen einer Religion gehört. (ii) Der Umfang, in dem über sekundäre Regel Einstimmigkeit unter den Muslimen herrscht. (iii) Der Umfang, in dem eine bestimmte Art von Verhalten auf mehr oder weniger starken Widerstand bei der einheimischen Gesellschaft stößt. (iv) Der Umfang, in dem eine Forderung die individuelle Freiheit und Entwicklung des Einzelnen reduzieren kann. (V) Das Ausmaß, in dem eine Forderung zu Einschüchterung und Gruppenzwang führen kann. (vi) In welchem Maße die Anwendung einer Regel zu finanzieller oder organisatorischer Belastung führen kann.
Einige Beispiele. (i) Die "fünf Säulen des Islam" sind sicherlich wichtiger als Kleiderordnungen. (ii) Sowohl die historische als auch die anthropologische Forschung zeigt, dass die Kleiderordnung unterschiedlich interpretiert wurde und wird. (iii) Für ein Verbot von religiösen Symbolen während der Ausübung öffentlicher Ämter gelten stärkere Argumente als für eins auf öffentlichen Straßen. (iv) Bescheidenheit in Verbindung mit Kleidung und Make-up hemmt die individuelle Entwicklung nicht, das betrifft wohl diejenigen, die Kontakten mit Menschen anderer Kulturen und Meinungen vermeiden. (v) Regeln für Äußerlichkeiten wie Kleidung sind anfälliger für Einschüchterung als solche, welche die persönliche Beziehung zum Leben, die Weltanschauung betreffen, wie das Gebet in intimem Kreis. (vi) Das Angebot von sowohl halal und nicht-halal Fleisch in einem öffentlichen Speisesaal, um Muslime als auch Tierschützer (Gegnern der Halal-Schlachtung) zu berücksichtigen, bildet eine organisatorische Belastung. Abstinenz von Alkohol hat diesen Nachteil nicht.
Kurzum. Es ist nicht evident, dass die Grundrechte der Religionsfreiheit ohne Probleme für alle Handlungen gelten, denen einige im Namen des Islam glauben folgen zu müssen. Kritische Bemerkungen zur Akzeptanz einiger dieser Regeln und Praktiken können ernsthaft begründet sein. Es ist eine unverantwortliche Weise der Argumentation, diese Bedenken systematisch als Intoleranz, Machismo, Islamophobie, oder Rassismus zu bezeichnen.