Der deutsche Mythos der Leistungselite

(hpd) Der Soziologe Michael Hartmann belegt in einer aktuellen Neuausgabe seiner Elite-Studie, dass die Annahme, Leistung

sei das entscheidende Kriterium für den sozialen Aufstieg, sich in der Realität nicht bestätigen lässt

 

Die Lebensweisheit „Wer etwas leistet, schafft es auch nach oben" hat man meist schon in der Schule gehört. In den Medien warnen mitunter Politiker und Spitzenmanager vor der „Gleichmacherei" und plädieren für „Leistungsgerechtigkeit". Hinter solchen Aussagen steckt ein gewisses Bild von der Gesellschaft, das aber nur selten mit einer kritischen Betrachtung der sozialen Realität konfrontiert wird. Ist Leistung wirklich das entscheidende Kriterium für den sozialen Aufstieg? Besteht die Führungselite in Deutschland wirklich vorrangig aus Leistungsträgern? Diesen Fragen stellt sich der Darmstädter Soziologe Michael Hartmann in seinen Forschungen, die den Einfluss von erbrachter Leistung und sozialer Herkunft für den sozialen Aufstieg in die Eliten der Gesellschaft untersuchen. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist die Feststellung, dass sich durch die Reformen der 1960er bis 1970er Jahre auch für Angehörige der mittleren und unteren Schichten die Bildungschancen erhöhten. Doch konnten sie dadurch auch gleichrangig berufliche Spitzenpositionen einnehmen?

Diese Frage verneint Hartmann in seiner Studie, die den bezeichnenden Titel „Der Mythos von den Leistungseliten. Spitzenkarrieren und soziale Herkunft in Wirtschaft, Politik, Justiz und Wissenschaft" trägt. Darin vergleicht er die soziale Herkunft, die Ausbildungswege und beruflichen Karrieren aller promovierten Ingenieure, Juristen und Ökonomen der Promotionsjahrgänge 1955, 1965, 1975 und 1985 miteinander. Die hiermit verbundene Herkunfts- und Verbleibsanalyse will so den Zusammenhang von sozialer Herkunft, Promotion als Leistungskriterium und Elitezugehörigkeit untersuchen. Dies geschieht in den Hauptkapiteln der Studie anhand von vergleichenden Analysen statistischer Daten, die auch bezogen auf den zeitlichen Verlauf Auskunft über die sozialen Entwicklungstrends der Elitenzugänge ermöglichen. Im Zentrum stehen dabei aber nicht die immer noch selektiven Zugänge zu höherer Bildung im schulischen Bereich, sondern die Karrierechancen bereits Promovierter aus unterschiedlichen sozialen Schichten.

Als Ergebnis hält Hartmann fest: „Von einer Leistungsgesellschaft ... kann keine Rede sein. Zwar spielt Leistung bei der Besetzung von Führungspositionen zweifellos eine gewichtige Rolle, von ihr unabhängige und ausschließlich mit der sozialen Herkunft zusammenhängende Persönlichkeitsmerkmale sind jedoch vor allem im zentralen Sektor Wirtschaft, aber auch in den anderen Sektoren ausschlaggebend für den beruflichen Aufstieg" (S. 151). Dazu werden gezählt: „die Vertrautheit mit den in den Vorstandsetagen gültigen Dress- und Verhaltenscodes, eine breite bildungsbürgerlich ausgerichtete Allgemeinbildung, eine ausgeprägte unternehmerische Einstellung (...) und als wichtigstes Element persönliche Souveränität und Selbstsicherheit" (S. 122). Demnach seien die Karrierechancen je nach sozialer Herkunft ausgesprochen ungleich verteilt. Entscheidende Bedeutung komme „dem klassenspezifischem Habitus und damit dem familiären Erbe in allen Formen sowie den unmittelbaren familiären Ressourcen bei der Rekrutierung von Eliten" (S. 151) zu.

Überzeugend belegt Hartmann damit, dass die von der funktionalistischen Elitetheorie in der Soziologie und von der politischen Meinungsbildung in der Öffentlichkeit vertretene Annahme, wonach die soziale Öffnung der deutschen Hochschulen auch zu einer sozialen Öffnung des Elitenzugangs führe, empirisch nicht haltbar ist. Gleichwohl gilt es hier zu differenzieren: Während die soziale Herkunft für beruflichen Aufstieg in der Wirtschaft von besonders großer Bedeutung ist, spielt diese bei der Elitenrekrutierung in Politik und Wissenschaft nicht eine ebenso große Rolle. Aber auch dort kann man eine soziale Schieflage in diesem Sinne ausmachen. Hierdurch zeigt sich, dass die Bundesrepublik Deutschland gar keine - von den Liberalen eingeforderte und von den Linken beklagte - „Leistungsgesellschaft" ist. Hartmann hätte die damit verbundene politische und soziale Dimension noch deutlicher heraus arbeiten können. Gleichwohl ist seine Studie auch so ein beachtenswerter und erkenntnisfördernder Beitrag zur Aufklärung über einen weit verbreiteten sozialen Mythos.

Hartmanns Arbeit lässt sich thematisch der in Deutschland noch unterentwickelten Elite-Soziologie zuordnen. Über Ansätze und Ergebnisse diesbezüglicher Forschungen informiert ein weiterer Band des Darmstädter Soziologen mit dem schlichten Titel „Elite-Soziologie. Eine Einführung". Er gliedert sich in zwei große Teile: Zunächst zeichnet Hartmann die soziologische Diskussion um Eliten anhand von klassischen (Mosca, Pareto etc.) über funktionalen (u.a. Dahrendorf, Keller) bis zu kritischen Ansätzen (Bordieu, Mills) nach. Der neutralen Beschreibung folgt jeweils in der Zusammenfassung eine komparative und kritische Einschätzung. Danach findet sich die empirische Analyse von Rekrutierungsmechanismen für die entscheidenden Elitepositionen in den fünf größten Industriestaaten und eine bilanzierende Betrachtung zum Verhältnis von Eliten und Klassenstrukturen aus der besonderen Perspektive des Autors. Damit legt Hartmann eine informative und kenntnisreiche Einführung mit vielen Hinweisen zur weiteren Auseinandersetzung mit der Thematik vor.

Armin Pfahl-Traughber

Michael Hartmann, Der Mythos von den Leistungseliten. Spitzenkarrieren und soziale Herkunft in Wirtschaft, Politik Justiz und Wissenschaft, Frankfurt/M. Neuausgabe: 2008 (Campus-Verlag), 208 S., 19,90 €

Michael Hartmann, Elite-Soziologie. Eine Einführung, Frankfurt/M. 2004 (Campus-Verlag), 203 S., 14,90 €