Warum wir kooperieren

(hpd) Der Entwicklungspsychologe und Primatenforscher Michael Tomasello präsentiert eine Zusammenfassung seiner Forschungsergebnisse zum Sozialverhalten von Menschen und Schimpansen. Er kann dabei durch eine multi-perspektivische Blickrichtung anschaulich belegen, dass Homo sapiens offensichtlich eine naturbedingte Neigung zu gegenseitiger Hilfe eigen ist, welche erst durch bestimmte soziale Erfahrungen selektiv weiter entwickelt wird.

Für Hobbes war der Mensch von Natur aus egoistisch und musste durch die Gesellschaft zivilisiert werden. Für Rousseau war der Mensch von Natur aus sozial und wurde durch die Gesellschaft verdorben. Zwischen diesen beiden Deutungen finden sich zahlreiche Positionen, die immer wieder in kontroversen Debatten zu den verschiedensten Fragen vorgetragen wurden und werden. Der US-amerikanische Entwicklungspsychologe und Primatenforscher Michael Tomasello, gegenwärtig Kodirektor des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie in Leipzig, hat mit seinen Forschungen und Publikationen ebenfalls zu diesem Problem Stellung genommen. Deren Quintessenz findet sich in dem Band „Warum wir kooperieren“, der bereits im Titel eine Antwort in Richtung von Rousseau andeutet. Der Text geht auf Tomasellos „Tanner Lectures“ an der Stanford University im Winter 2008 zurück. Darin findet man eine problemorientierte Bilanz und Deutung seiner Forschungsergebnisse zur Kooperation bei Kindern und Schimpansen.

Bereits zu Beginn bemerkt Tomasello, er stimme bezüglich der einleitend genannten Frage größtenteils mit Rousseau überein, erweitere dessen Ansichten aber um einige grundlegende Komplexitäten. Entsprechend kündigt der Autor an: „Konkret werde ich Argumente und Nachweise dafür präsentieren, dass Kinder ungefähr von ihrem ersten Geburtstag an – wenn sie zu laufen und zu sprechen beginnen und zu wirklich kulturgeprägten Wesen werden – schon in vielen, wenn auch ganz offensichtlich nicht in allen Situationen hilfsbereit und kooperativ sind. Dieses Verhalten ist nicht von Erwachsenen abgeschaut, sondern kommt ganz natürlich zum Vorschein (...). Im Laufe ihrer weiteren Entwicklung wird diese relativ uneingeschränkte Kooperationsbereitschaft der Kinder jedoch durch verschiedene Einflüsse verändert, etwa durch die zu erwartende Reziprozität und ihre Sorge um ihre Beurteilung durch andere Gruppenmitglieder, was wiederum von grundlegender Bedeutung für die Entwicklung der menschlichen Kooperativität per se war“ (S. 19f.).

Entgegen vieler neuer Arbeiten, die auf die Ähnlichkeit der Verhaltensweisen des Menschen mit dem Tier bzw. des Tiers mit dem Menschen verweisen, betont Tomasello die Unterschiede: Er macht sie bezüglich des Altruismus in den Besonderheiten von Helfen, Informieren und Teilen aus. „Im Gegensatz zum instrumentalen Helfen kooperieren Menschen beim Austausch von Informationen auf Gebieten, auf denen Affen dies offensichtlich nicht tun“ (S. 31). Die ausgeprägte Neigung menschlichen Agierens sei aber nicht kulturell, sondern natürlich bedingt – was anhand von verschiedenen Beobachtungen dezidiert betont wird. Eine selektive Ausrichtung von Hilfsbereitschaft sei bei Kindern bzw. den Menschen erst nach einem bestimmten Lernprozess von erfahrener oder nicht-erfahrener Hilfsbereitschaft von Anderen beobachtbar. „Mit wachsender Unabhängigkeit müssen Kinder ... lernen, Unterschiede zu machen und ihre altruistischen Handlungen auf Personen zu richten, die sie nicht ausnutzen und die sich vielleicht sogar revanchieren“ (S. 46).

Tomasello veranschaulicht durch seine vergleichende Analyse des Sozialverhaltens von Kindern und Schimpansen aus unterschiedlichen methodischen Blickrichtungen, dass beim Menschen offenbar von einer biologisch bedingten Kooperationsfähigkeit auszugehen ist. Altruismus entsteht dabei aber nicht aus der Annahme der natürlichen Güte von Homo sapiens, sondern aus der Einsicht in den evolutionären Vorteil von Kooperation. So wurden demnach soziale Erfahrungen letztlich wieder Bestandteil einer biologischen Ausstattung des Menschen. Dies wird argumentativ und empirisch überzeugend begründet. Gleichwohl findet man in dem Band auch vier kritische Stimmen von Vertretern unterschiedlicher Wissenschaftsdisziplinen. Dadurch präsentiert er nicht „die“ Antwort auf eine bedeutende Streitfrage, aber einen wichtigen Schritt auf den Weg dahin. Tomasellos grundsätzlich überzeugende Darstellung kann aber auch so nicht bzw. noch nicht erklären, warum der Weg der menschlichen Geschichte häufig in eine ganz andere Richtung ging.

Armin Pfahl-Traughber

 

Michael Tomasello, Warum wir kooperieren. Aus dem Englischen von Henriette Zeidler, Berlin 2010 (Suhrkamp-Verlag), 141 S., 12,00 €