Neue Konfession per Gerichtsentscheid

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Verfassungsgerichtshof Wien / Foto: Gryffindor (wikimedia)

WIEN. (hpd) Österreich hat eine neue religiöse Bekenntnisgemeinschaft. Die etwa 60.000 Aleviten haben das Recht bekommen, sich von der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich abzuspalten. Zumindest organisatorisch. Eine Entscheidung, die per Verfassungsklage erzwungen wurde – und religionsintern für Diskussionen sorgt.

„Ich bin dem österreichischen Staat unendlich dankbar“, sagt Riza Sari, Pressesprecher der Wiener Aleviten gegenüber Medien. Für ihn und viele der etwa 60.000 Aleviten in Österreich hat der Verfassungsgerichtshof (VfGH) den Weg zur Erfüllung eines lange gehegten Wunsches geebnet: Unabhängig zu sein von der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich (IGGiÖ). Rückwirkend mit 13. Dezember hat das Kultusamt nach einem Spruch des VfGH die Aleviten als eigene islamische Konfession mit dem Status einer religiösen Bekenntnisgemeinschaft anerkannt. Das ermöglicht unabhängige Strukturen, ähnlich wie bei katholischer und evangelischer Kirche. Laut VfGH lässt sich das Alleinvertretungsmonopol der IGGiÖ für alle Muslime in Österreich nicht aus der Verfassung herleiten. Das Kultusamt hatte das noch zu Jahresbeginn anders gesehen und den Aleviten die Anerkennung verweigert.

Nicht nur unter den Aleviten-Funktionären war die Freude über den Spruch der Höchstrichter groß. „Ich überlege mir jetzt, ob ich mich da engagieren soll“, sagte etwa ein türkischer Kurde, der als Kind nach Österreich emigrierte. Bisher war der Alevit offiziell konfessionsfrei. Wie viele andere Aleviten und säkulare Muslime wollte er nichts mit der IGGiÖ zu tun haben.

IGGiÖ verschnupft

Die IGGiÖ reagiert verschnupft. „Wir nehmen die Entscheidung zur Kenntnis“, formuliert es Noch-Präsident Anas Shakfeh gegenüber Zeitungen. Offiziell stößt man sich weniger daran, 60.000 (potentielle) Mitglieder zu verlieren als daran, dass die Aleviten als islamische Konfession gelten sollen. Die IGGIÖ habe sich "immer dafür eingesetzt, die Aleviten als eigene Religion anzuerkennen - "aber als nichtislamische", formuliert Omar Al-Rawi den Standpunkt der Organisation gegenüber dem Standard. Er ist Integrationsbeauftragter der IGGiÖ und SPÖ-Gemeinderat in Wien. Die Aleviten hätten Glaubensvorstellungen, die denen der IGGiÖ „diametral gegenüberstehen“ würden.

Auch bei den alevitischen Organisationen scheint wenige Tage nach dem Erkenntnis des VfGH Ernüchterung eingekehrt zu sein. Der Dachverband der alevitischen Gemeinden in Österreich, AABF, etwa stößt sich genauso wie die IGGiÖ daran, dass die Aleviten eine islamische Konfession sein sollen. Das verleugne „die religionswissenschaftlich belegte und in der Praxis gelebte Eigenständigkeit der alevitischen Glaubenslehre“, schreibt AABF-Geschäftsführer Deniz Karabulut auf der Homepage der Organisation. Auch wenn sich IGGiÖ und AABF hier einig scheinen – dieser Standpunkt ist unter Muslimen alles andere als unumstritten. Und viele Aleviten begreifen sich bis heute als Muslime.

Konflikte innerhalb der Aleviten

Auch innerhalb der alevitischen Gemeinden könnte der Richterspruch für Konflikte sorgen: Als Vertretungsorgan der Konfession wurde nicht der Dachverband anerkannt sondern der „Kulturverein der Aleviten in Wien“ – der hatte auch den ersten Antrag auf Anerkennung gestellt. Der AABF-Antrag liegt laut Vereinsangaben noch beim zuständigen Kultusamt. Mit der Entscheidung, dass die Wiener Aleviten Vertretung aller anderen Konfessionsmitglieder sein sollen, dürfte sich der Dachverband AABF kaum abfinden. Die Wiener seien nur eines von acht Mitgliedern der AABF. „Daher steht ausschließlich der AABF, aufgrund ihres hohen Organisationsgrades bzw. ihrer Mitgliederstärke und ihrer breiten Akzeptanz innerhalb der alevitischen Gemeinschaft national sowie international, die gesellschaftlich legitimierte Vertretung der Mehrheit der in Österreich lebenden Aleviten zu“, heißt es auf der Homepage.

Auch der Wiener Verein gibt sich mittlerweile zugeknöpft. Pressesprecher Sari vertröstet den hpd in einer freundlichen Antwortmail auf eine Pressekonferenz am Mittwoch. „Ich würde mich freuen, wenn Sie an dieser teilnehmen könnten. Da bekommen Sie auch ein Pressedossier wo sie Antworten auf die meisten ihrer Fragen bekommen werden.“

Österreichische Besonderheiten

Tatsächlich stehen viele offene Fragen im Raum. Etwa, ob die Aleviten versuchen werden, von einer anerkannten religiösen Bekenntnisgemeinschaft zur anerkannten Religionsgemeinschaft zu werden. Diese Gliederung ist eine Besonderheit des österreichischen Kultusrechts. Die „religiösen Bekenntnisgemeinschaften“ sind eine Art anerkannter Religion zweiter Klasse. Sie haben kein Recht, Religionsbeiträge mit staatlicher Hilfe einzuheben, für sie gibt es auch keinen (staatlich bezahlten) konfessionellen Religionsunterricht an den Schulen. Auch einige weitere Privilegien entfallen.

Die Kategorie war ursprünglich geschaffen worden, um die Zeugen Jehovas nur halb anerkennen zu müssen. Die haben es mittlerweile zur Vollanerkennung gebracht – ebenfalls per höchstrichterlichem Spruch. Neben den Aleviten haben de facto nur kleinere christliche Gemeinden und die Hindus in Österreich diesen Status. Erste Anzeichen deuten darauf hin, dass auch die Aleviten die Voll-Anerkennung beantragen werden. Fraglich ist, ob sie in diesem Fall die gesetzlich vorgeschriebenen zehn Jahre warten werden müssen oder ähnlich wie die Zeugen Jehovas ein Eilverfahren beantragen können.

Weitere Abspaltungen?

Unklar ist auch, ob das VfGH-Erkenntnis andere vorwiegend nicht-sunnitische Gruppen innerhalb der IGGiÖ zur Abspaltung ermutigen wird. Die IGGiÖ steht im Ruf, de facto nur konservativen bis reaktionären Islam-Auslegern Funktionen wie die des Religionslehrers zuzuschanzen. Bei Bevorzugung von Sunniten. Auch die engen Verbindungen von Noch-Präsident Shakfeh zum saudiarabischen Regime werden mit Misstrauen gesehen. Shakfeh war lange für die saudische Botschaft tätig. Zudem hat die IGGiÖ den Ruf, undemokratisch zu sein.

Dem versucht man, mit lange überfälligen Wahlen zu begegnen. Was nicht zu funktionieren scheint. Kaum jeder zehnte der geschätzten 500.000 Muslime in Österreich ist wahlberechtigt – und selbst die Wahlberechtigten geben ihre Stimme nur zum Bruchteil ab. De facto gibt es Einheitslisten, das Ergebnis steht mehr oder minder im Vorhinein fest. Ein weiteres Indiz für die geringe Akzeptanz der IGGiÖ: Nur etwa jeder zweite muslimische Schüler besucht den konfessionellen Religionsunterricht. Weit weniger als etwa bei den Katholiken oder den Protestanten. Was die IGGiÖ nicht daran hindert, das als Erfolg zu feiern.

Beispielbild
Ali ibn Abi Talib
Keine Geschlechtertrennung

Die Dauerkonflikte um die IGGiÖ gemahnen viele Aleviten an die jahrhundertelange Unterdrückung durch vor allem sunnitische Imame im Osmanischen Reich. Dort werden sie bis heute als Ketzer betrachtet, als religiöse Minderheit sind sie bis heute nicht anerkannt. Anders als Sunniten und Shiiten sehen sie den Koran nur als Religionsbuch, nicht als Gesetzesleitfaden. Die Gottesdienste in den Cems genannten Versammlungshäusern werden ohne Geschlechtertrennung gefeiert. Viele Aleviten sehen sich trotzdem als Muslime – aber in ihrem Selbstbild als Vertreter einer humanistischen Variante. Traditionell setzen sich Aleviten für einen säkularen Staat ein. Das gilt auch für den Religionsunterricht. Riza Sari hätte am liebsten einen inter- bzw. überkonfessionellen Ethikunterricht. Nur, wenn das nicht geht, würden die Aleviten einen eigenen konfessionellen Religionsunterricht einrichten, sagt er gegenüber Medien.

Christoph Baumgarten