(hpd) Der Militärhistoriker Rolf-Dieter Müller veranschaulicht in seiner Studie, dass die NS-Regierung bereits lange vor 1941 auf einen machtpolitisch begründeten Angriffskrieg gegen die UdSSR aus war. Die Arbeit beeindruckt weniger durch neue Archivfunde, sondern durch eine neue Interpretation, wobei der ideologische Stellenwert wohlmöglich etwas unterschätzt und der machtpolitische Stellenwert etwas überschätzt wird.
Der 1941 begonnene Krieg von Hitlers Wehrmacht gegen die Sowjetunion gilt als einer der brutalsten Eroberungs- und Vernichtungskriege in der Geschichte. Die damit einhergehenden Besonderheiten führte man in der historischen Rückschau nicht selten auf die ideologische Prägung Hitlers bezogen auf „Antibolschewismus“ und „Lebensraum“ zurück. Das „Unternehmen Barbarossa“, der deutsche Überfall vom 22. Juni 1941, erschien so als letzte Stufe einer nationalsozialistischen Expansionspolitik, die bereits in Hitlers „Mein Kampf“ konzeptionell angelegt und entwickelt war. Gegen diese Auffassung argumentiert der habilitierte Historiker Rolf-Dieter Müller, Leitender wissenschaftlicher Direktor im Militärgeschichtlichen Forschungsamt (MGFA) in Potsdam, mit seiner Studie „Der Feind steht im Osten. Hitlers geheime Pläne für einen Krieg gegen die Sowjetunion im Jahr 1939“. Sie versteht sich als „neuen Gang durch eine alte Geschichte“, wobei der Fokus auf die „militärische Planungsebene“ (S. 10) ohne Ausblendung anderer Gesichtspunkte zielt.
Müller beginnt seine historisch-chronologisch angelegte Arbeit mit Ausführungen zur deutschen Russlandpolitik im 19. Jahrhundert und beschreibt die folgenden Entwicklungen bis zum deutsch-sowjetischen Zweckbündnis in der Ära der Weimarer Republik. Nach ihrem Machtantritt habe die Hitler-Regierung gezielt einen Krieg gegen die Sowjetunion angestrebt, wofür aber sowohl diplomatische wie militärtechnische Voraussetzungen erfüllt sein sollten. Ausführlich widmet sich der Autor in diesem Kontext dem deutsch-polnischen Verhältnis, habe man doch zunächst auf ein Bündnis mit dem Nachbarland im Konflikt mit der Sowjetunion gesetzt. Für den Zeitraum 1936/36 konstatiert Müller: „Auch wenn Polen weitere vertragliche Bindungen für eine antisowjetische Politik gegenüber Deutschland scheute, funktionierte die Zusammenarbeit auf der politischen und ideologischen Ebene in dieser Hinsicht reibungslos“ (S. 83). Erst die später einsetzende Umorientierung Polens in Richtung Westen habe in der Hitler-Regierung zu einem fundamentalen Umschwung geführt.
Bereits für 1939 gab es nach dem Autor Pläne für einen Krieg gegen die Sowjetunion, denn: „Das ‚Dritte Reich’ war trotz aller Investitionen auch 1939 nicht blockadefest und brauchte im Kriegsfall die ‚Kornkammer Ukraine’, die Erze des Donezgebiets und das Öl des Kaukasus“ (S. 136). Demnach sei das militärisch besiegte Polen von Anfang an als potentielles Aufmarschgebiet gegen die UdSSR angesehen worden. Der Generalsstabschef des Heeres, Franz Halder, habe derartige Überlegungen von Anfang an mit Hitler geteilt. Müller bemerkt: „Fragt man nach seinem Motiv, so ging es ihm – wie auch Halder – nicht primär um die Beseitigung des Bolschewismus, sondern um eine machtpolitische Auseinandersetzung. Den Ostkrieg hätte er auch dann geführt, wenn Russland von einem Zaren regiert worden wäre! Im Kampf um die deutsche Weltmacht sollte nach dem erwarteten Sieg gegen Großbritannien der Frontwechsel nach Osten die Voraussetzungen für einen blockadefesten ‚Lebensraum’ schaffen. Hitler ging es um Raum und Ressourcen“ (S. 260).
Die vorliegende Studie beruht zwar auch auf bislang kaum beachteten Quellen, beeindruckt aber mehr durch die andere Sichtweise auf eine bekannte „Geschichte“. Der Autor kann dabei überzeugend eine sehr „mechanische“ Interpretation des Weges in den Russlandkrieg widerlegen, wenn er dessen Ausrichtung im Kontext diplomatischer und militärpolitischer Entwicklungen beschreibt. Überzeugend macht Müller dabei deutlich, dass Hitler über kein festes strategisches Konzept im engeren Sinne verfügte und die Heeresführung von Anfang an mitverantwortlich für die Entwicklung war. Gerade die Korrektur von Geschichtslegenden von ehemaligen Militärs verdient dabei besondere Aufmerksamkeit. Ob allerdings umgekehrt der Ideologie nur eine so nebensächliche Rolle zugewiesen werden kann, wie Müller bei der Hervorhebung von machtpolitischen Gesichtspunkten suggeriert, darf bezweifelt werden. Beide Faktoren dürften eine Rolle gespielt haben. Müllers Perspektive kann gleichwohl komplexe Entwicklungen wie die NS-Polen-Politik besser nachvollziehbar machen.
Armin Pfahl-Traughber
Rolf-Dieter Müller, Der Feind steht im Osten. Hitlers geheime Pläne für einen Krieg gegen die Sowjetunion im Jahr 1939, Berlin 2011 (Ch. Links-Verlag), 294 S., 29,90 €