(hpd) Der Literaturwissenschaftler Volker Weiß veranschaulicht in seinem Essay, dass Sarrazins Klage über Dekadenz und Elitenbedarf, Untergang und Vererbung lediglich eine Wiederholung der Diskurse einer antirepublikanischen Rechten in der Weimarer Republik darstellt.
Auch wenn der Autor hier und da mit den behaupteten Parallelen etwas zu sehr überzeichnet, kann er für seine Grundposition eine Fülle von Argumenten und Belegen präsentieren.
Die Beschwörung eines kulturellen und nationalen Verfalls, die sich in Thilo Sarrazins umstrittenen Bestseller „Deutschland schafft sich ab“ von 2010 artikulierte, ist aus ideengeschichtlicher Perspektive kein wirklich neues Phänomen. Immer wieder konnte man in den letzten 150 Jahren ähnliche Ausführungen über Apokalypse und Dekadenz, Massengesellschaft und Untergangszeichen lesen. Dabei betonten Repräsentanten der gesellschaftlichen Elite, die sich im Selbstverständnis als Leistungsträger sahen, ebenfalls ihre Distanz gegenüber den Angehörigen der unteren sozialen Schichten deutscher wie nicht-deutscher Zugehörigkeit. In dieser Tradition sieht der Literaturwissenschaftler Volker Weiß auch Sarrazin und sein Umfeld. Hierauf weißt er in seinem Buch „Deutschlands Neue Rechte. Angriff der Eliten – Von Spengler bis Sarrazin“ hin. Darin geht es nicht so sehr um die argumentative Kritik und inhaltliche Widerlegung von Sarrazins Auffassungen, sondern um deren politischen Botschaften und ideengeschichtlichen Verortungen.
„Diesem Essay“, so schreibt Weiß, „dient der zweifelhafte Berliner Banker ... als aktuelles Beispiel eines Phänomens, das sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts in Deutschland immer wieder finden lässt: die Beschwörung des Untergangs der eigenen Kultur, meist in Verbindung mit demographischen Berechnungen und dem Ruf nach einer starken Elite“ (S. 11). Vor allem die deutsche Rechte habe sich um dieses Motiv herum ein vollständiges Weltbild geschaffen, welches das „Heilmittel“ in der Absonderung des „sozialen Ballasts“, und der Disziplinierung der Massen sehe. Dies veranschaulicht der Autor zunächst anhand von vergleichenden Betrachtungen mit den Büchern von Anhängern der Weimarer „Konservativen Revolution“ wie Oswald Spenglers „Untergang des Abendlandes“ (1918/22) oder Edgar Julius Jungs „Herrschaft der Minderwertigen“ (1927), aber auch anhand der Schriften von Protagonisten des Nachkriegskonservativismus wie Friedrich Sieburgs „Lust am Untergang“ (1961) oder Arnold Gehlens „Moral und Hypermoral“ (1969).
Ähnliche Positionen konstatiert Weiß aber auch in den Äußerungen des Philosophen Peter Sloterdijk, der mit seinen Auffassungen zu Massenkultur und Sozialstaat zur Demontage des Gleichheitsgedankens aufgerufen habe. Beide ließen sich dabei von ihren Anhängern als „Tabubrecher“ feiern. Bilanzierend heißt es: „Insgesamt sollte deutlich geworden sein, wie die Untergangsprophetie klassischerweise politisch beheimatet ist, und dass sie stets die gleichen Motive aufruft“ (S. 124). Der beschworene Niedergang solle sowohl im Denken von Sarrazin wie von Sloterdijk durch eine besondere Förderung und Privilegierung der „Besten“ aufgehalten werden. Durch Beide und ihre Parteigänger seien damit traditionell rechte Begriffe und Thesen fest in der Mitte der Gesellschaft verankert worden. „Der von Autoren wie Sarrazin und Sloterdijk angestoßene Diskurs um Elite, Leistung und Vererbung hat damit Kreise erreicht, die etwa die NPD niemals hätte ansprechen können. Auf diese Neue Rechte wird sich die Gesellschaft zukünftig einstellen müssen“ (S. 131).
Weiß bezeichnet sein Buch selbst als „Essay“ (S. 14) - und in der Tat wirkt manches etwas zu assoziativ und einseitig miteinander verbunden. Gleichwohl macht die Fülle von Belegen für Gemeinsamkeiten in Argumentationsmustern und Diskurstechniken, Ressentiments und Selbstverständnis deutlich, dass bei den erwähnten Autoren nur oberflächlich modernisierte Bestandteile traditioneller Krisenanalysen und Weltbilder auszumachen sind. Selbst die polemische Klage über die „Gutmenschen“ fand sich bereits Ende des 19. Jahrhunderts, nutzte doch Heinrich von Treitschke die Formulierung „weichliche Philanthropie“ (S.102). Es bleibt das Problem der demokratietheoretischen Einschätzung, ist doch Sarrazin ein rechter Sozialdemokrat, während Spengler eine cäsaristische Diktatur befürwortete. Zwar verweist der Autor darauf, dass Sarrazin sich auf einen dubiosen „Intelligenzforscher“ (S. 121) beruft. Dies macht aus ihm allein aber noch keinen Rechtsextremisten. Auch bildete sich um Sarrazin noch keine „Neue Rechte“, ein solches Potential scheint aber existent zu sein.
Armin Pfahl-Traughber
Volker Weiß, Deutschlands Neue Rechte. Angriff der Eliten – Von Spengler bis Sarrazin, Paderborn 2011 (Ferdinand Schönigh-Verlag), 16,90 €